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Barbara Fulda: Immer weniger Kinder?

Rezensiert von Dr. rer. pol. Hansjörg Bucher, 20.07.2017

Cover Barbara Fulda: Immer weniger Kinder? ISBN 978-3-593-50549-7

Barbara Fulda: Immer weniger Kinder? Soziale Milieus und regionale Geburtenraten in Deutschland. Campus Verlag (Frankfurt) 2016. 271 Seiten. ISBN 978-3-593-50549-7. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 48,70 sFr.

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Thema

Seit circa vierzig Jahren liegt in den alten Ländern insgesamt ein fast stabiles Fertilitätsniveau vor, bei dem die jeweilige Töchtergeneration um rund ein Drittel kleiner ist als deren Müttergeneration. Von diesem Wert für das gesamte Land gab es schon immer regionale Abweichungen, die erheblich sind und auch keineswegs kleiner werden. Will man diese räumlichen Besonderheiten des Fertilitätsverhaltens mit speziellen Eigenschaften der Regionen erklären, dann gelingt dies nur zum Teil. Es bleibt ein unerklärter Rest, dem sich die Autorin widmet.

Autorin

Barbara Elisabeth Fulda ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Chemnitz. Sie studierte an der Universität zu Köln Soziologie. Das hier besprochene Buch ist ihre Dissertation. Diese hat bereits hohe Wertschätzung erfahren. Fulda wurde dafür zweimal ausgezeichnet, im Jahr 2015 mit dem Preis für Nachwuchswissenschaftler der Allianz AG in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Demographie e.V. und im Jahr 2016 mit dem Roman Herzog Forschungspreis Soziale Marktwirtschaft (2. Platz).

Entstehungshintergrund

Die Demographie ist ein notorisch theoriearmes Fachgebiet, das eher von der Empirie lebt. Eine wesentliche Ursache hierfür ist der Aggregatcharakter der Bevölkerung. Auf der Makroebene lassen sich schwer Erklärungen und Theorien finden für das demographisch relevante Verhalten von Individuen. Die Soziologie nimmt dies zum Anlass, die Makroebene zu verlassen und auf der Mikroebene des Individuums nach Kausalbezügen zu fragen. Hier setzt Fulda mit ihrer Arbeit an, wobei sie zusätzlich noch die räumliche Dimension unterhalb der Bundesebene betrachtet. Schon länger wird vermutet, dass das Fertilitätsverhalten in den Regionen Deutschlands nicht nur durch regionsspezifische und sozio-ökonomische Faktoren bestimmt wird. Auch kulturelle Einflüsse könnten das Geburtenverhalten beeinflussen, wobei sich diese in sozialen Milieus geltend machen.

Aufbau und Inhalt

Das Buch besteht aus sieben Kapiteln und einem Anhang.

Kapitel 1 Einleitung umreisst einige Befunde bisheriger demographischer Forschungen, definiert das Ziel der Arbeit mit dem Anspruch des angestrebten Erkenntniszuwachses, benennt das Regionsverständnis der Autorin.

Kapitel 2 hat vornehmlich definitorischen Charakter. Es leistet eine Synopse über Theorien der Fertilität und den Forschungsstand der Soziologie zu regionalen Geburtenunterschieden. Es konkretisiert die Begriffe ‚soziales Milieu‘ und ‚Lebensstil‘, gibt einen historischen Abriss über den wirtschaftlichen und sozialen Wandel, der Hintergrund und Rahmen bildet für die aktuelle räumliche Ausprägung des Fertilitätsverhaltens.

Kapitel 3 befasst sich mit den verwendeten Methoden der Arbeit, aber auch schon mit einigen Ergebnissen. Wichtige Teile dieser Ergebnisse sind im Anhang untergebracht. Zentrales Ziel dieses Kapitels ist die Auswahl zweier Landkreise und dort wiederum zweier Gemeinden, in denen Fallstudien betrieben werden, die die dort vorherrschenden sozialen Milieus näher beleuchten. Dem Auswahlprozess dieser Kreise wird große Sorgfalt gewidmet: Der tatsächlichen Fertilitätsrate des Kreises wird eine hypothetische Fertilitätsrate gegenübergestellt. Diese hypothetische Rate wird abgeleitet aus einer zuvor geschätzten Regressionsgleichung, deren erklärende Variablen für die Fertilität als relevant angesehene Eigenschaften des Kreises umfassen. Die exogenen Variablen sind: die ökonomische Situation der Privaten Haushalte wie auch der Öffentlichen Haushalte, die demographische und die sozio-ökonomische Zusammensetzung der Bevölkerung, die Siedlungsstruktur, die Ausstattung mit sozialer Infrastruktur insbesondere für Kinder, das Bildungsangebot und – als Outputindikator – das erreichte Bildungsniveau. In der Regel bleibt bei einer solchen Regressionsrechnung ein unerklärter Rest, der jedoch keine systematischen Eigenschaften besitzen sollte. Bestehen dennoch systematische Residuen (man spricht dann von Autokorrelation), dann deutet dies auf eine unzureichende Spezifikation der erklärenden Funktion hin, es muss nach weiteren Bestimmungsgrößen der Fertilitätsrate gesucht werden. Dies führt im besten Fall zu einer Modifizierung der bisherigen Theorie. Die Autorin wählte zwei westdeutsche Kreise aus, für die die Differenz zwischen dem hypothetischen Erwartungswert und dem tatsächlich vorliegenden Fertilitätsniveau besonders groß war – und dies nach beiden Seiten: Die beiden ausgewählten Kreise, der Landkreis Fürth in Mittelfranken und der Landkreis Waldshut in Südbaden, zeigen eine theoriegeleitete Überschätzung (Waldshut) oder Unterschätzung (Fürth) ihres Fertilitätsniveaus.

In Kapitel 4 werden diese beiden Kreise anhand von Daten der Amtlichen Statistik charakterisiert, wird deren Profil entworfen. Dazu verwendet die Autorin solche Indikatoren, die bereits Eingang fanden in die Regressionsschätzung. Hinzu kommen Informationen zur aktuellen politischen Situation und zur historischen Parteienbindung der Kreise. Soziale Milieus sind indes kleinräumige Phänomene auf der Ebene von Gemeinden oder gar Gemeindeteilen und der engeren Wohnumgebung. Deshalb wurden innerhalb der beiden Kreise Gemeinden (Markt Cadolzburg in Fürth, Sankt Blasien in Waldshut) ausgewählt, in denen die Autorin Feldstudien durchführte. Auswahlkriterium für diese Gemeinden war deren Durchschnittlichkeit in Bezug auf den zugehörigen Landkreis, sie sollten möglichst typisch/repräsentativ für den Kreis sein.

Kapitel 5 dokumentiert die Feldarbeit der Autorin vor Ort. Sie führte dort Interviews in der Bevölkerung und mit Funktionsträgerin der beiden Gemeinden durch. Ziel war eine Operationalisierung des sozialen Milieus. Diese wurde erreicht mit dem Instrument der Komponentenzerlegung: Der komplexe Begriff ‚soziales Milieu‘ wurde hierfür in fünf Kategorien aufgespalten (Familienleben und -formen; soziales Klima; Vereinsleben; Akteure/Organisationen; Ausgestaltung der öffentlichen Kinderbetreuung). Diese wurden wiederum in (zusammen 20) Unterkategorien aufgeteilt, die ihrerseits in ihrer Ausprägung das soziale Milieu der beiden Gemeinden charakterisieren. Die Autorin kommt erfreulicherweise zu dem Ergebnis, dass in den beiden Gemeinden zwei verschiedene soziale Milieus vorliegen, ein modernisiertes und ein traditionales, die die unerwartet hohe oder die eigentlich zu niedrige Fertilität in den Kreisen plausibel machen, somit eine ergänzende Erklärung liefern können.

Kapitel 6 leistet eine Synopse der zuvor gemachten Erkenntnisse. Die beiden sozialen Milieus werden verglichen, ihre Spezifika werden abstrahiert von den Besonderheiten vor Ort. Dies verdeutlicht die Kerneigenschaften beider Milieus und insbesondere deren Familienleitbilder. Soziale Mechanismen führen dazu, dass sich die Milieumitglieder bei ihren Handlungen an diesen Leitbildern orientieren. Dies führt zu einer Akzentuierung des regionalen Fertilitätsverhaltens jenseits der traditionellen Erklärungsmuster.

In Kapitel 7 wird ein Ausblick geleistet. Darin werden die Ergebnisse der Untersuchung bezüglich ihrer Relevanz für Erklärungsversuche und bezüglich der Übertragbarkeit auf andere räumliche Einheiten hinterfragt. Künftiger Forschungsbedarf und auch Ansatzpunkte für familienpolitische Massnahmen werden skizziert.

Diskussion

Erfreulich an diesem Buch ist, dass die räumliche Dimension in die Analyse aufgenommen wurde. Soziale Milieus finden statt in der näheren Umgebung, im Wohnumfeld der Akteure. Insofern ist die kleinräumige Betrachtung eine notwendige Voraussetzung für weiter gehende Erkenntnisse über solche Phänomene. Dies führt indes zu Schwierigkeiten, will man theoretische Konzepte mit empirischen Befunden untermauern. Die Regionalstatistik in Deutschland unterliegt einer Unschärferelation: Es besteht ein Konkurrenzverhältnis zwischen der räumlichen und der sachlichen Differenzierung eines Tatbestandes. Je präziser man beschreiben will, wo (beispielsweise) ein demographisches Ereignis stattfindet, um so weniger genau kann man dieses Ereignis selber beschreiben. Umgekehrt kann man sehr präzise Indikatoren für (beispielsweise) das Fertilitätsverhalten nur auf einer räumlich gröberen Ebene (dem Kreis, dem Bundesland) beschreiben. Dies liegt an der Verfügbarkeit empirischer Daten der deutschen Regionalstatistik.

Die Demographie ist ein interdisziplinäres Fach, gleich mehrere Wissenschaftsdisziplinen befassen sich mit ihr. Eine von ihnen, die Bevölkerungsgeographie hat langjährige Erfahrungen mit der räumlichen Ausdifferenzierung demographischer Tatbestände und Prozesse, mit Räumen und ihren Verflechtungen untereinander. Insofern könnten Geographen eine potenzielle Hilfe oder Ergänzung leisten, wenn Soziologen sich mit der räumlichen Dimension befassen. Die Konzentration auf das eigene Fachgebiet hat jedoch, zumal bei den Soziologen, eine lange und starke Tradition (‚structural holes‘, Burt 1992). Falls diese Arbeit von Fulda einmal aufgegriffen und weiter getrieben werden sollte, dann möchte ich anregen, Kontakte mit Bevölkerungsgeographen aufzunehmen und zu pflegen.

Fazit

Das Buch greift den Tatbestand regional unterschiedlicher Fertilitätsniveaus auf und stellt fest, dass diese räumlichen Varianzen nur unvollständig aus den Gegebenheiten und Rahmenbedingungen in den Regionen erklärt werden können. In einer Feldstudie wird für zwei mit Bedacht ausgewählte Gemeinden geprüft, ob auch regionalkulturelle Einflüsse zu diesen Unterschieden beitragen. Zentraler Begriff der Arbeit ist das ‚soziale Milieu‘, das nicht nur operationalisiert, sondern auch quantifiziert und typisiert wird. Wichtiges Ergebnis für eine Ausgestaltung der Familienpolitik auf nationaler Ebene ist, dass die Reaktionen auf solche Massnahmen in den sozialen Milieus auf der regionalen Ebene unterschiedlich sein können, weil Individuen nach Prinzipien nicht nur der ökonomischen, sondern auch der moralischen Rationalität handeln.

Rezension von
Dr. rer. pol. Hansjörg Bucher
Jg. 1946, Diplom-Volkswirt (Universität Mannheim), Dr. rer. pol. (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) war bis 2011 mehr als dreißig Jahre lang in der Politikberatung tätig als Mitarbeiter des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) bzw. dessen Vorgängerinstitutionen BfLR und BBR in Bonn-Bad Godesberg. Er war dort verantwortlich für den Aufbau des Prognosesystems ‚Raumordnungsprognose‘ zur Einschätzung von Eckwerten der künftigen räumlichen Entwicklung – als prospektiver Teil des räumlichen Beobachtungssystems ‚Laufende Raumbeobachtung‘. Seine inhaltlichen Schwerpunkte lagen im regionaldemographischen Bereich, betrafen aber auch die Wohnungsmärkte und die Arbeitsmärkte. Er war langjähriges Vorstandsmitglied in der Deutschen Gesellschaft für Demographie und auch deren Vorgängerin Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft
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Es gibt 11 Rezensionen von Hansjörg Bucher.

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ISSN 2190-9245