Volker Heyse, John Erpenbeck et al. (Hrsg.): Intelligente Integration von Flüchtlingen und Migranten
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Berg, 22.12.2016

Volker Heyse, John Erpenbeck, Stefan Ortmann (Hrsg.): Intelligente Integration von Flüchtlingen und Migranten. Aktuelle Erfahrungen, Konzepte und kritische Anregungen. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2016. 180 Seiten. ISBN 978-3-8309-3547-6. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.
Thema
Trotz aller Kontroversen in der Flüchtlingspolitik sind sich Parteien, Unternehmen, Zivilgesellschaft einig: Die Willkommenskultur der letzten Jahre muss sich in beruflicher Perspektive fortsetzen. Es gilt, die Potentiale der Geflüchteten festzustellen, ihre Kompetenzen zu stärken, weiterzuentwickeln und zu nutzen.
Es bietet sich an, Konzepte der Personalentwicklung und Weiterbildung, des Trainings und Coachings darauf einzustellen und anzuwenden.
Herausgeber, Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. John Erpenbeck, Prof. Dr. Volker Heyse und Stefan Ortmann sind im Bereich des Kompetenzmanagements und der Personalführung in leitender und/oder lehrender Funktion tätig. Dies gilt auch für die meisten der anderen Autorinnen und Autoren, wenn sie nicht im operativen Geschäft tätig sind.
Beiträge kommen u.a. auch von der Professorin für Islamische Religionspädagogik Amena Shakir und ihrem Kollegen Said Topalovic (Wien). Louis Henri Seukwa (Prof. für Erziehungswissenschaften, HAW Hamburg) und die Filmemacherin Rita Knobel-Ulrich haben Vorworte beigesteuert.
Aufbau
Nach einer Inhaltsübersicht in Schlagworten finden wir zehn Beiträge: zunächst einen programmatischen Artikel von Heyse/Ortmann über die „Kompetente Integration von Flüchtlingen“ (16 Seiten), sodann einen (31 Seiten) umfassenden Erfahrungsbericht von Kai Vöcking (zeitweise Leiter einer Erstaufnahmeeinrichtung).
Auf den folgenden 90 Seiten stellen verschiedene Autorinnen und Autoren einzelne Aspekte der Kompetenzdiagnose und -entwicklung vor, insbesondere jene, die unter der Marke KODE firmieren.
Inhalt
Heyse/Ortmann treten vehement der Behauptung entgegen, Deutschland werde durch die Flüchtlinge überfremdet oder überlastet. In historischer wie globaler Sicht ist das hiesige Geschehen überhaupt nicht dramatisch, verglichen etwa mit der Auswanderung Deutscher nach Nordamerika im 19.Jahrhundert, den Vertriebenen nach 1945 oder der Aufnahme von Eritreern und Syrern in Äthiopien bzw. Türkei in den letzte Jahren. Wenn Integration ernsthaft betrieben wird, gibt es keine Kosten, nur Investitionen.
Im deutschsprachigen Raum ist ein Kompetenzatlas bekannt, der für Erwachsene allgemein wie auch für Flüchtlinge speziell jeweils 16 personale, Handlungs-, Fach- und Methodenkompetenzen sowie sozial-kommunikative Kompetenzen unterscheidet. Die Befragung von Personen, die haupt- oder ehrenamtlich mit Flüchtlingen zu tun haben, ergab, dass den Flüchtlingen kaum andere Schlüsselkompetenzen zugeordnet wurden als den Erwachsenen allgemein, nämlich insbesondere Anpassungsfähigkeit, Tatkraft, Belastbarkeit, Lernbereitschaft, Mobilität, Eigenverantwortung, Offenheit.
Dringend erforderlich ist nach Auffassung der Autoren, die Einwanderer ernstzunehmen, wertzuschätzen, als potentielle Fachkräfte, auch zukünftige Unternehmer, durch Beratung, Training, Coaching zu unterstützen. Die Flüchtlinge verändern Deutschland positiv, machen das Land jünger, klüger, lebendiger.
Das ehemalige Wismut-Krankenhaus in Gera-Ernsee wurde im Herbst 2015 zur Erstaufnahme-Einrichtung umgebaut. Alle zwei Tage trafen dort 250-300 Flüchtlinge ein, die nach einigen Tagen weiter dezentral auf Unterkünfte im Lande verteilt wurden. Hauptaufgabe war, die Flüchtlinge zu registrieren und medizinisch zu untersuchen. Vöcking berichtet die immensen bürokratischen und auch selbstgemachten logistischen Probleme, beginnend mit der unkalkulierbaren Ankunft der Busse, meist kurz vor Mitternacht. An Integration, so sein Resümee, war in dieser Zeit gar nicht zu denken.
Die Integration von Flüchtlingen verlange, dass sie handlungsfähig werden. Zuerst sind ihre Kompetenzen zu erkennen bzw. wo noch nötig zu entwickeln. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass die Menschen oftmals durch die Fluchterfahrung traumatisiert und in der neuen Umwelt orientierungslos sein können. Umso wichtiger ist, folgt man Erpenbeck, die Fähigkeit, das eigene Handeln selbst und kreativ zu gestalten (Selbstmanagement). Verfolgung und Flucht haben womöglich Tatkraft und Initiative beschnitten, auch wenn die Belastbarkeit außerordentlich ist. Flüchtlinge haben unter den gegebenen Umständen schon die Fähigkeiten entwickelt, die als „interkulturelle Kompetenz“ viele erst erwerben und trainieren müssen: die Fähigkeit also, in kulturellen Überschneidungssituationen handeln zu können.
Shakir/Topalovic stellen eine Vielzahl von Möglichkeiten vor, wie Musliminnen und Muslime Flüchtlingen, die ja überwiegend auch dem Islam angehören, als Übersetzer oder Dolmetscherinnen behilflich sein können. Die Erfahrung zeige, dass die österreichischen Muslime/Musliminnen sich dabei intuitiv den Neuankömmlingen mit einer Form von europäischem Islam vorstellten.
Ein zentrales Problem besteht darin, Flüchtlingen den Zugang zur Berufsausbildung und Berufsausübung zu verschaffen. Die Flüchtlinge können selten formale Abschlüsse nachweisen, schon gar nicht mit allen Dokumenten. Vielfach sind sie beruflich gut qualifiziert, aber nicht vermittels einer formalen Ausbildung, sondern durch Familientradition und Praxis. Gerade deshalb ist es, so J. Sauer, kontraproduktiv, Flüchtlinge vom Arbeitsmarkt fernzuhalten; vielmehr muss gerade der Arbeitsplatz als der eigentliche Lernort verstanden und gestaltet werden. Die Entwicklungen auf dem Feld der Informationstechnologien wiesen ohnehin daraufhin, dass Kompetenzen, nicht formale Qualifikationen zählen.
Die weiteren Beiträge, von Wolfgang Bornträger, Virginia Moukouli und Johanna Mutzl wiederholen noch einmal im Detail, wie die Kompetenz-Diagnose und die Kompetenzentwicklung angelegt bzw. organisiert werden können. Wer sich seiner Kompetenzen bewusst ist, kann Selbst-Bewusstsein im doppelten Sinne des Wortes gewinnen.
Susanne Krauß und Maria-Anna Ziola berichten aus ihrer Geschäftstätigkeit, wie sich Betriebsinhaber dafür gewinnen lassen, Flüchtlingen Praktika und Ausbildungsplätze anzubieten: wenn sie sie persönlich kennen und ihre Stärken (Lernbereitschaft, Initiativen, Offenheit usf.) schätzen lernen. Sie raten dringend davon ab, das Potential der Flüchtlinge in unqualifizierten Jobs zu vergeuden, weil man auf Formalitäten bestehe.
Diskussion
Der vorliegende Band erfreut den Leser/die Leserin durch die positive Grundhaltung, mit Schwung und Zuversicht. Einen Kontrapunkt bildet der Bericht aus der Erstaufnahme-Einrichtung, wo es – was nicht dem Berichterstatter anzulasten ist – nur darum geht, Menschen zu versorgen, unter Kontrolle zu bringen, zu bewältigen. Welch ein Kontrast zu der Vorstellung, dass hier zukünftige Unternehmer und globale Akteure angekommen sind!
Im Mittelpunkt der Veröffentlichung steht freilich das Konzept der 64 Kompetenzen, wie sie der „Kompetenzatlas“ zusammenstellt: Sie reichen von der Loyalität („Fähigkeit, redlich zu handeln“), der Lernbereitschaft („Fähigkeit, gern und erfolgreich zu lernen“), dem Beurteilungsvermögen („Fähigkeit, Sachverhalte zutreffend zu beurteilen“) bis zu fachübergreifenden Kenntnissen („Fähigkeit, fachübergreifende Kenntnisse einbeziehend zu behandeln“). Die Definitionen sind fragwürdig. Statt aufzuzeigen, warum es gerade diese 64 Kompetenzen sein müssen, warum die eine als „personale“, die andere als „sozial-kommunikativ“ eingeordnet wird, statt zu erklären und zu veranschaulichen, wie diese Kompetenzen gemessen bzw. vermittelt werden, werden sie immer wieder aufs Neue beschworen und als Marke KODE angepriesen.
Fazit
Die Publikation beeindruckt mit dem ermutigenden Plädoyer, mehr die Kompetenzen, weniger die formale Qualifikation von Flüchtlingen zu sehen, und im realen Betrieb, in Praktika und Ausbildung weiter zu entwickeln. Die Werbung für KODE ist leider etwas zu penetrant geraten.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Berg
Hochschule Merseburg
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