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Evi Hartmann: Wie viele Sklaven halten Sie?

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 15.12.2016

Cover Evi Hartmann: Wie viele Sklaven halten Sie? ISBN 978-3-593-50543-5

Evi Hartmann: Wie viele Sklaven halten Sie? über Globalisierung und Moral. Campus Verlag (Frankfurt) 2016. 224 Seiten. ISBN 978-3-593-50543-5. D: 17,95 EUR, A: 18,50 EUR, CH: 22,90 sFr.

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Wir hinterlassen unseren Nachkommen einen Scherbenhaufen

„Die Globalisierung ist ein Faktum, dem schwer zu entgehen ist, und sie ist ambivalent“ (Hermann Sauter, Für eine bessere Globalisierung, 2008 ). Die Erzählungen, Prognosen und Palaver darüber, welche Wirkungen, Phänomene und Folgen die Tatsache mit sich bringt, dass unsere Welt sich immer interdependenter, entgrenzender und ungerechter entwickelt und die Menschheit ökonomisch und existentiell in Gewinner und Verlierer einteilt, füllen mittlerweile ganze Bibliotheken. Es sind wissenschaftliche und populär verfasste Lobpreisungen, paradiesische Versprechungen, Mahnungen und höllische Szenarien über die Tatsache, dass lokal und global die bereits Wohlhabenden immer reicher und die Habenichtse immer ärmer werden. Kapitalismusverteidigung und Kapitalismus- und Globalisierungskritik treffen hier aufeinander. Sage niemand, er hätte keine Ahnung davon!

Die Aufforderungen, im individuellen und kollektiven, lokal- und globalgesellschaftlichen Leben endlich einen Perspektivenwechsel zu vollziehen, liegen auf den Tischen der Welt; wie etwa die Mahnung, dass die Grenzen des Wachstums erreicht seien (1972), endlich Schluss zu machen mit dem „business as usual“ und anstelle des „Throughput growth“ (Durchflusswachstum) „sustainable development“ (tragfähige Entwicklung) zu setzen (WCED, Our Common Future, 1987); ebenso die dringende Warnung der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ (1995): „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ (Jos Schnurer, 7.12.2010: Kritik am Kapitalismus und seine Verteidiger. Eine Literaturschau, www.sozial.de/index.php?id=94). „Wir leben nicht über unsere Verhältnisse. Wir leben über die Verhältnisse anderer“ (Stephan Lessenich, Neben uns die Sintflut, Berlin 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21561.php).

Entstehungshintergrund und Autorin

Ökonomie und Marktgeschehen als einerseits selbstverständliche, unverzichtbare und alltägliche Daseinsstrategien, und andererseits die Auswüchse, wie sie sich als kriminelle Energien, Geiz und Egoismus darstellen, sind Ergebnisse, wie sie der homo oeconomicus hervorgebracht hat und der Kritik bedürfen (Hans See, Wirtschaft zwischen Demokratie und Verbrechen. Grundzüge einer Kritik der kriminellen Ökonomie, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/16997.php). Die Aufforderungen, im individuellen und kollektiven Leben eine globale Verantwortung zu praktizieren, empathisch, moralisch und solidarisch das Teilen zu üben, wird als ein altruistischer Hau-Ruck für Humanität und als theoretische und praktische Menschwerdung verstanden (Valentin Beck, Eine Theorie der globalen Verantwortung, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21228.php).

Wir – Wohlgenährten, Wohlsituierten und Wohleingerichteten – leben auf Kosten von vielen anderen Menschen! Die BWL-Wissenschaftlerin von der Universität Erlangen-Nürnberg, Mitglied beim Netzwerk CEO für Frauen in Führungspositionen, Evi Hartmann, provoziert schon mit ihrer Titelfrage „Wie viele Sklaven halten Sie?“ und weist auf den Skandal hin, dass die globalisierte Welt immer extremer auseinander driftet in diejenigen, die ein gutes, gelingendes Leben aufgrund ihres individuellen und gesellschaftlichen Status führen können, während die Anderen, die bei der menschengemachten, kapitalistischen Entwicklung auf der Strecke bleiben. Es ist ein „Spiel, bei dem wir alle verlieren“. Und es ist an der Zeit, sich auf die Fundamente zu besinnen, die den anthrôpos zu einem zôon politikon, einem politischen Lebewesen gemacht haben, das ein gutes Leben für alle Menschen auf der Erde vorsieht (Aristoteles). Die Moral von der Geschicht´ ist nicht Verzweiflung, Resignation und Fatalismus, dass (scheinbar) der Mensch des Menschen Wolf sei, sondern die Hoffnung, dass sich bei den Menschen als politische, ethisch und moralisch denkende und handelnde Individuen und Gesellschaften rationale und emotionale Einstellungen auf der Grundlage der „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde“ ( Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 ) durchsetzen mögen.

Aufbau und Inhalt

Im Vorwort plädiert die Autorin radikal und kompromisslos dafür: „Verbieten wir mit sofortiger Wirkung die Globalisierung“. und zwar die aktuell dominierende, die auf der Grundlage des ökonomistischen, kapitalistischen und ideologischen Systems beruht. Sie gliedert ihr Essay in sieben Kapitel, bei denen bereits die Überschriften Programm sind:

  1. Das Spiel, bei dem wir alle verlieren
  2. Kinderarbeit ist unmoralisch, oder?
  3. Wer ist Schuld an der Unmoral?
  4. Zum „Sklavenhalter“ wird man nicht geboren, sondern gemacht
  5. Wer zu faul ist für die Moral, kriegt den Nudge
  6. Das große Globalisierungsspiel: Wie gewinnen mit gezinkten Karten
  7. Wie lange wollen wir noch Sklavenhalter sein?

Mit ihren zahlreichen, mitten aus dem Alltagsleben der Individuen und den Strukturen und Verfasstheiten des lokalen und globalen gesellschaftlichen Lebens herausgegriffenen Beispielen und Denkspielen öffnet sie die Büchse der Pandora, manchmal mit dem erhobenen pädagogischen Zeigefinger, aber auch mit Appellen zum Nachdenken über das gewohnte, lieb- und selbstverständlich gewordene konsumtive Denken und Tun. Wer sich auf diese Herausforderungen einlässt, merkt bald, dass es weder sinnvoll und zielführend noch nützlich ist, allein mit dem Finger auf die kapitalistischen Ausbeuter und Egoisten zu zeigen; vielmehr zeigt sich das Aha-Erlebnis, dass beim anklagenden und abweisenden Fingerzeig nicht nur ein, sondern gleich drei Finger auf einen selbst zurückweisen. Die altbekannte Weisheit wird deutlich, dass (Einstellungs- und Verhaltens-) Änderungen nur dann wirksam werden, wenn der Einzelne bei sich selbst anfängt.

Die Frage, wieso es Menschen zulassen können, dass unmenschliche Entwicklungen auftreten und sich sogar als selbstverständlich, einzig möglich und förderlich darstellen, wird im wissenschaftlichen, ökonomischen und ethischen Diskurs mit unterschiedlichen Antworten ausgewiesen. Eine ist das so genannte „Genoveva-Syndrom“, das auch als „Bystander Bias“ bezeichnet wird: „Je weiter eine Ungerechtigkeit entfernt ist und je mehr ‚Passsanten‘ (Bystander) deren Zeuge werden, desto weniger fühlt sich der Einzelne motiviert“. So geht es uns beim Skandal der Kinderarbeit. Es reicht nicht, Kinderarbeit zu verbieten, es muss nach den Ursachen gefragt werden, warum die Menschenrechtsverletzung funktioniert und was wir damit zu tun haben: „Wenn wir moralisch handeln, tun wir das Beste für jene, die von unserem Handeln betroffen sind“ – und so tun wir das Beste auch für uns! Wir kreisen dabei immer um die Schuldfrage – oder wir drücken uns vor ihr. Die von der Autorin persiflierend aufgestellten 10 Gebote der (falschen) Globalisierung sind geeignet, Satz und Gegensatz der real existierenden, kapitalistischen, weltumspannenden Ökonomisierung unseres Lebens an den Pranger zu stellen. Und es ist eine gute Gelegenheit, unsere Moralvorstellungen einmal auf den intellektuellen, alltagstauglichen Prüfstand zu stellen. Dabei merken wir, dass die Antworten darauf anstrengend sind und wir rational und emotional oft einen „Stupser“ (Nudge) brauchen – in der Erziehung und Bildung und als Vernunfthilfe. Die angeführten Beispiele und die Diskussion über die präsentierten Experimente sind Anregungen für Verhaltensänderungen. Sie werden bewusst in ihren (eigentlich) Selbstverständlichkeiten, und sie dienen der Aufklärung: „Versuche nicht, die Person zu verändern, verändere die Situation!“.

Fazit

In ihrem Nachwort bringt die Autorin die Herausforderung zum Perspektivenwechsel auf den Punkt: „Wenn wir Konsumenten nicht nur nach ‚Geiz ist geil‘ einkaufen würden, wenn wir Managerinnen und Manager nicht nur kosteneffizient Lieferanten squeezen und Topmanager nicht nur über Corporate Governance, sondern auch über Moral Governance nachdenken würden, wäre das ein Segen für alle“. Es ist unerhört, dass eine Ökonomin dafür plädiert, die Ökonomie abzuschaffen! Oder? Die Wirtschaftswissenschaftlerin Evi Hartmann führt einen Begriff und eine Haltung ein, die im globalen Ökonomiediskurs geflissentlich übersehen wird, weil sie beim „business as usual“ stören und das „throughput growth“ behindern. Ihr Plädoyer wird deshalb zu einer Zu-Mutung, die nicht konterkariert, sondern Mut zum Andersdenken und zur Auseinandersetzung darüber macht, wie wir als Individuen und Gesellschaften human und gerecht leben wollen. Ist das ein Rufen in der Wüste? Oder ein Unterfangen ohne Echo? Oder sind es Wunschträume, die von den kapitalistischen und konsumgetriebenen Realitäten weggefegt werden? Evi Hartmann hat (natürlich) kein Patentrezept parat, wie ein Perspektivenwechsel von der falschen Globalisierung hin zu einem humanen, nachhaltigen und empathischen Lebenshandeln gelingen kann. Ihre Auseinandersetzungen mit den existierenden und gewünschten Moralvorstelllungen und zum Moraldiskurs im ökonomischen und lokal- und globalexistierenden Dasein der Menschen machen Mut, den eigenen Hau-Ruck als Motivation zu erkennen, dass es möglich, notwendig, nützlich und erfolgreich sein kann, eine gerechtere und menschenwürdigere Eine Welt mitzugestalten und uns unserer „Sklavenhalter-Mentalität“ bewusst zu werden.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1689 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245