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Andreas Urs Sommer: Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt

Rezensiert von Marian Pradella, 26.01.2017

Cover Andreas Urs Sommer: Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt ISBN 978-3-476-02649-1

Andreas Urs Sommer: Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt. J.B. Metzler Verlag (Stuttgart) 2016. 152 Seiten. ISBN 978-3-476-02649-1. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 23,00 sFr.

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Thema

In seinem Essay „Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt“ geht Andreas Urs Sommer der Frage nach, was Werte sind und welche Funktionen sie in einer Gesellschaft erfüllen. Dabei werden Werte als menschlich erschaffene Fiktionen betrachtet, welche nichtsdestotrotz wichtige Aufgaben erfüllen und nützlich sein können. Philosophische Überlegungen werden vom Autor mit aktuellen Beispielen verbunden, um somit dem allgegenwärtigen „Wertegerede“ in der heutigen Gesellschaft auf den Grund zu gehen.

Autor

Andreas Urs Sommer ist ein Schweizer Philosoph und Publizist. Er lehrt Philosophie an der Universität Freiburg und leitet die Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.

Aufbau und Inhalt

Während in der heutigen Zeit weitverbreitet über Werte geredet und mit ihnen argumentiert wird, stellt sich für Andreas Urs Sommer die Frage, was das Wesen der Werte ausmacht, was sie „eigentlich“ sind. Ausgehend von der Beobachtung, dass Werte in ihrer heutigen Form erst im 19. Jahrhundert als Referenzgröße auftauchen (im Unterschied zu „dem Guten“ oder „dem Wahren“), stellt der Autor drei elementare Fragen, welche als Basis für die folgenden Ausführungen dienen. Der Autor will betrachten:

  • Was sind Werte?
  • Warum sind Werte?
  • Welchen Nutzen haben Werte für eine Gesellschaft?

Im ersten Kapitel „Existenz wird überschätzt. Was ist ein Wert?“ (S. 13) werden Werte zunächst mit der Tätigkeit des „Bewertens“ verglichen. Menschen bewerten unablässig und sind dazu gezwungen, um der Wirklichkeit eine Struktur zu verleihen. Dabei geht dem Bewerten der Wert nicht voraus, sondern umgekehrt: erst durch das Bewerten werden Dingen Wert zugeschrieben. Da der Wert somit durch das Bewerten entsteht, bringt dies den Aspekt der Subjektivität des Wertes mit sich. Beispielsweise kann es sehr verschiedene Sichtweisen auf den gleichen Wert geben (bspw. der Wert der Freiheit aus Sichtwinkel eines Bankers oder Häftlings) (vgl. S. 18). Des Weiteren wird die Historizität der Werte festgestellt. Grundlegend dabei ist, dass die Frage nach Werten maßgeblich die Frage nach dem Wesen der heutigen Gesellschaft innehat, da diese sie sich über Werte zu definieren sucht (wie das weitverbreitete Reden über Werte zeigt).

Anschließend wird im folgenden Kapitel „Immer mehr. Woher Werte – und wie viele?“ (S. 31) dem Ursprung der Werte nachgegangen. Werte werden dabei aus der ökonomischen Sphäre abgeleitet und als durch Philosophen in andere Sphären getragen beschrieben. Sie werden somit als „Zwitterwesen“ aus Moral und Ökonomie identifiziert, welches eine Erklärung für die Vielfältigkeit der Werte darstellt und zu einer Globalisierung der Wertrede führte (vgl. S. 39). Dies ist daran erkennbar, dass sich jeder irgendwie zu Werten bekennen kann. Ob Hedonist, Idealist oder Christ, alle beziehen sich gerne auf Werte in ihrer Argumentation. Das „wie viele?“ der Werte wird von Andreas Urs Sommer beantwortet mit: immer im Plural, jedoch nicht bezifferbar und immer mehr. Dies bringt mit sich, dass Werte abstrakt bleiben. Erst situativ, als konkrete Werte in konkreten Gefügen, erhalten sie Bedeutung.

In „Reiz der Vorläufigkeit“ (S. 47) werden Werte als geschichtlich wirkend beschrieben. Dadurch erhalten sie eine ständige Wandelbarkeit: sie entstehen, verändern sich oder gehen unter. Im folgenden Kapitel „Bindungsmächtig, relativierungsmächtig“ (S. 71) wird diese Dynamik der Wandelbarkeit als Potential für die moderne Wertephilosophie betrachtet. Werte können nur in Relation zu anderen Werten existieren und dies ermöglicht die Verabschiedung eines metaphysischen Universalismus. Nicht das absolut Gute steht jetzt im Mittelpunkt, sondern vielmehr die Beziehungsgefüge, welche durch Werte dynamisiert werden.

Im fünften Kapitel „Zuhause nirgends und überall“ (S. 85) wird zunächst beschrieben, dass sich Werte – während sie sich aus dem Bereich des akademisch-philosophischen eher zurückziehen – in der allgemeinen Gesellschaft (und im alltäglichen Moraldiskurs) immer weiter ausbreiten. Werte besitzen dabei die Kraft (durch gegenseitige Versicherung an Werten orientiert zu sein) verschiedene Sphären zusammenzubringen. Gleichzeitig ist diese Vergemeinschaftungsfunktion immer mit einem Ausschluss des „Anderen“ verbunden. Dies wird am Beispiel der „Wertegemeinschaft“ illustriert. Nicht die Menschheit als Ganzes ist dabei gemeint, sondern oftmals eine Partikularität, welches andere Menschen ausschließt. Werte werden abschließend erneut als wandelbar beschrieben, durch menschliches Handeln verändern sie ihr Wesen.

Es folgt der Exkurs „Werte und Menschenrechte“ (S. 101). Ausgehend von einer Betrachtung von Wertdarstellungen innerhalb der Charta der Grundrechte der Europäischen Union wird festgestellt, dass Menschenrechte keine historische Universalität, sondern vielmehr ein Sollen darstellen. Durch die geschichtliche Entwicklung wird der Mensch wieder als Tier unter Tieren identifiziert und die metaphysisch-religiöse Ausnahmestellung des Menschen abgelehnt. Gleichzeitig kommt es hierdurch zu einer Aufwertung des Menschen, denn nun wird die Person an sich sakralisiert (vgl. S. 104). An drei Beispielen (Sparpolitik in Griechenland, Anschlag auf Charlie Hebdo, Kairoer Erklärung der Menschenrechte) wird dargestellt, dass kontextabhängig die Menschenrechte unterschiedlich verwendet werden. Die daraus resultierende Unterbestimmtheit der Menschenrechte wird von Andreas Urs Sommer jedoch als positiv angesehen, da sie – so der Autor – erst so ihre umfassende Brauchbarkeit erhalten.

In den Kapiteln „Motivationswunder und Lähmungsgaranten“ (S. 123) und „Widerspenstige Opfer gezähmt“ (S. 143) werden Werte einerseits als „regulative Fiktionen“ beschrieben, welche die Kraft besitzen, Unverbundenes zu verbinden (vgl. S. 141). Andererseits wird betont, dass Werte der Wandel- und Dehnbarbarkeit unterliegen und auch so behandelt werden sollten. Anstatt in ihnen starre Prinzipien zu sehen, sind sie menschlich erschaffen und somit stetigen Schwankungen unterworfen. Der zweite Exkurs „Werte, tagespolitisch“ (S. 153) behandelt anschließend die Wertrede im Zuge aktueller politischer Debatten. Die „Flüchtlingskrise“ wird dabei als „Wertekrise“ identifiziert, welches jedoch – so der Autor – lediglich die normale Erscheinungsform von Werten darstellt. An den Gegnern einer offenen Gesellschaft kritisiert der Autor dabei den Mangel an Bereitschaft zur Perspektivveränderung.

Im abschließenden Kapitel „Gegen Festschreibungen“ (S. 163) stellt Andreas Urs Sommer dar, dass Werte menschlich erschaffene Fiktionen sind, welche durch ihre Anpassungsfähigkeit und Wandelbarkeit große Potenziale innehaben. Dies unterscheidet sie vom universalen „Guten“ und zu traditionellen, trägen Religionen. Werte können den Anschein des Gemeinsamen produzieren, kommunikative Netze spannen und Unverbundenes verbinden. Für Gesellschaften, die nicht mehr von starker Religiosität geprägt sind und in welchen das Imaginäre eine tragende Rolle spielt, sind sie als fiktive Wesen höchst leistungsfähig. Sie können soziale Gruppen gleichzeitig stabilisieren und dynamisieren. Als Fiktionen sind Werte Projektionsflächen, welche unterschiedlichsten Menschen erlauben, sich auf sie zu beziehen und verschiedenste Menschen dadurch zusammen kommen lässt.

Fazit

Andreas Urs Sommer stellt in seinem Essay „Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt“ Werte als menschlich erschaffene Fiktionen dar, welche nichtsdestotrotz wichtige Aufgaben in modernen Gesellschaften erfüllen. Anstatt von einer metaphysischen Geltung von Werten auszugehen, werden Werte in ihrer Wandelbarkeit und Unschärfe befürwortet. In modernen Gesellschaften sind sie – so der Autor – Projektionsflächen, welche es ermöglichen unterschiedlichste Menschen zusammenzubringen. Durch die Betrachtung des Wertebegriffs aus vielen unterschiedlichen Blickwinkeln, der Erklärung der Historizität von Werten sowie der Beschreibung ihres (ökonomischen) Ursprungs, stellt das Buch eine wertvolle Einführung dar und lädt zu weiteren Überlegungen ein.

Rezension von
Marian Pradella
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie - Vergleichende Kultursoziologie und politische Soziologie Europas, Universität Siegen
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Es gibt 23 Rezensionen von Marian Pradella.

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Zitiervorschlag
Marian Pradella. Rezension vom 26.01.2017 zu: Andreas Urs Sommer: Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt. J.B. Metzler Verlag (Stuttgart) 2016. ISBN 978-3-476-02649-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/21953.php, Datum des Zugriffs 12.11.2024.


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