Steffi Thon: Kinder mit Fluchterfahrung in der Kindertagesbetreuung
Rezensiert von Dr. Anke Meyer, 04.01.2017

Steffi Thon: Kinder mit Fluchterfahrung in der Kindertagesbetreuung. Herausforderungen, Wege, Chancen.
AV1 Pädagogik-Filme
(Kaufungen) 2016.
32,00 EUR.
DVD, Laufzeit: 50 Min.
Thema und Entstehungshintergrund
2015/2016 sind innerhalb weniger Monate so viele Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, dass die damit verbundenen Herausforderungen für alle Beteiligten kaum noch zu bewältigen waren. Nach wie vor stapeln sich die Asylanträge in den Ämtern, in den Schulen wurden spezielle Klassen eingerichtet und auch in der Kindertagesbetreuung müssen viele neue Kinder integriert werden, über deren Erfahrungshintergrund die Fachkräfte vor Ort häufig wenig wissen und deren Sprache und Kultur sie kaum kennen. Sie werden konfrontiert mit traumatisierten Kindern während die Kommunikation mit den Eltern aufgrund unterschiedlicher Sprachen häufig stark eingeschränkt ist. Der Film von Steffi Thon beschäftigt sich sowohl mit diesen Problemen als auch mit den Chancen, die diese Situation für die Kindertagesbetreuung beinhalten kann.
Aufbau und Inhalt
Der Film besteht aus fünf Kapiteln, deren Unterkapitel jeweils von einem Sprecher kurz eingeleitet werden. Die einzelnen Beiträge sind aus Erfahrungsberichten von Erzieherinnen und Leiterinnen von Kindertagesstätten und anderen Expertinnen und Experten wie beispielsweise einer Psychologin, Familien- und Sozialtherapeutin und einer Fortbildnerin für den Elementarbereich zusammengesetzt. Unterlegt sind die Beiträge von bewegten Alltagssituationen aus der Kita.
Zunächst geht es ganz allgemein um Kinder mit Fluchterfahrung in der Kindertagesbetreuung. Die Fachkräfte aus der Praxis berichten, dass sie zum Teil mit Angst auf die neue Aufgabe zugegangen sind. Es gab viele Unsicherheiten und offene Fragen. Andere freuten sich aber auch auf die neue Herausforderung. Sie wurden konfrontiert mit Traumatisierungen und überraschenden Verhaltensweisen der Kinder, die sie zunächst nicht zuordnen konnten. Gleichzeitig erlebten sie, dass die einheimischen Kinder offen auf die neuen zugingen und Sprache und andere Hautfarben für sie keine Rolle spielten. Eine Vorbereitung auf die Kinder mit Fluchterfahrung war nicht nötig, im Gegenteil: Die Buntheit wurde als Bereicherung empfunden.
Im nächsten Kapitel geht es um die Herausforderungen für die Fachkräfte und wie sie sie bewältigen. So müssen sie beispielsweise sprachliche Barrieren in der Kommunikation mit den Eltern überwinden. Übersetzungs-Apps, Bildkarten und mehrsprachige Eltern als Übersetzer helfen hier weiter. Kinder sollen nicht als Übersetzer herangezogen werden, um sie nicht zu überfordern. Die Fachkräfte beobachten auch, dass die Eltern aus anderen Kulturen häufig ganz anders mit Kindern umgehen. Ein gemeinsames Spiel ist z.B. bei vielen nicht üblich. Manche Eltern sind auch dem Essen gegenüber skeptisch. Hier ist es wichtig, die Eltern noch mehr einzubeziehen, damit sie Vertrauen in die Arbeit der Kita gewinnen.
Gerade auch auf die Eingewöhnung der neuen Kinder, die häufig gravierende Beziehungsabbrüche hinter sich haben, wird großer Wert gelegt. Gleichzeitig bekommen die Kitas wenig Informationen über den Aufenthaltsstatus der Familien. Überraschende Abschiebungen belasten auch die Fachkräfte, die zuvor viel in die Integration der Kinder investiert haben. Hier brauchen auch die Fachkräfte Unterstützung wie z.B. durch Supervision.
Man schätzt, dass zwanzig bis dreißig Prozent der Flüchtlingskinder traumatisiert sind. Hier sind Informationen durch die Eltern wichtig. Die Erzieherinnen selbst können einen sicheren Raum bieten. Für eine Therapie müssen sie entsprechende Hilfen initiieren. Ansonsten gilt es, achtsam dafür zu sein, wie die Kinder sich selbst schützen, z. B. auch dadurch, dass sie Entspannung meiden.
Für die sprachliche Bildung der Kinder mit Fluchterfahrung gelten im Prinzip die gewohnten Förderkonzepte. Am besten ist eine alltagsintegrierte Förderung durch handlungsorientiertes Sprechen, korrektives Feedback und Lieder und Reime verbunden mit Gebärden. Die Fachkräfte beobachten, dass die Kinder unter drei Jahren in der Regel sehr schnell die neue Sprache lernen. Ältere sind zunächst etwas zurückhaltender. Generell gilt, dass die Kinder erst Vertrauen und Sicherheit gewinnen müssen, um sich dann auf Neues einlassen zu können.
Im dritten Kapitel geht es um mögliche Wege. Die Einrichtung muss für die Kinder ein sicherer Ort sein, in dem sie nicht dazu gedrängt werden über schlimme Erlebnisse zu berichten. Bewährt haben sich mehrsprachige Bücher und Memorys. Wichtig sind auch Eltern-Kind-Gruppen, da den Eltern nach der Flucht die Trennung von ihrem Kind oft schwer fällt. So erhalten die Eltern auch einen guten Einblick in die pädagogische Arbeit der Kita ihres Kindes, bekommen Unterstützung bei der Erziehung in einem fremden Land und knüpfen Kontakte, die zur Integration beitragen können. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Netzwerkarbeit. Die Kitas unterstützen die Eltern dabei, eigene Netzwerke zu bilden indem sie den Kontakt untereinander und mit deutschen Eltern fördern, und indem sie Patenschaften initiieren und Ehrenamtliche mit ins Boot nehmen. Die Kitas aktivieren auch ihre eigenen Netzwerke und holen sich Unterstützung beim Träger, beim Gesundheitsamt, bei Frühförderstellen und anderen Institutionen-
Das vierte Kapitel greift die Chancen auf, die die Kitas durch die Aufnahme von Kindern mit einer anderen Kultur und Sprache gewinnen. Die Vielfalt in der Kita wird größer, der Horizont der Kinder wird erweitert. Es gibt viele neue Impulse beispielsweise in Bezug auf Essen und Lieder.
Der Film endet mit einem Fazit von Kurt Gerwig, in dem er Mut macht, sich von den Kindern, die offenbar eine große interkulturelle Kompetenz mitbringen, den richtigen Weg zeigen zu lassen. Gleichzeitig betont er die große Leistung der Fachkräfte, die Herausforderung zu meistern, viele neue Kinder, über deren Erfahrungshintergrund sie noch wenig wissen, in die Kitas zu integrieren.
Diskussion
Beim ersten Betrachten des Films, war ich etwas enttäuscht. Ich hatte den Eindruck, es wird vornehmlich im Erfahrungstopf gerührt und mir fehlten Fakten. Beim zweiten Hinschauen fand ich dann eine Vielzahl von konkreten Tipps, die im Arbeitsalltag mit Kindern mit Fluchterfahrung von Bedeutung sind. Es werden viele unterschiedliche Aspekte in den Blick genommen und auch die Ängste, die mit neuen Herausforderungen einhergehen, bekommen ihren Raum.
Eine Gruppe von Berufspraktikant/inn/en, denen ich den Film präsentierte, fand ihn durchweg informativ und ansprechend.
Was mir fehlt, ist die Perspektive der Flüchtlinge selbst, insbesondere der Eltern. Sie kommen an keiner Stelle selbst zu Wort. Was mir gut gefällt, ist, dass die Arbeit mit den Kindern mit Fluchterfahrung nicht nur als weitere Belastung, sondern als Herausforderung und zum Teil sogar Bereicherung des Kita-Alltages gesehen wird.
Fazit
Ein Film, der Mut macht, sich auf die Arbeit mit Kindern mit Fluchterfahrung einzulassen.
Rezension von
Dr. Anke Meyer
Lehrerin am Berufskolleg,
Fachleiterin für Sozialpädgogik in der LehrerInnenausbildung
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