Carsten Gansel, Monika Wolting (Hrsg.): Deutschland- und Polenbilder in der Literatur nach 1989
Rezensiert von Dr. Siegmund Pisarczyk, 23.06.2017

Carsten Gansel, Monika Wolting (Hrsg.): Deutschland- und Polenbilder in der Literatur nach 1989. V&R unipress (Göttingen) 2015. 405 Seiten. ISBN 978-3-8471-0459-9. D: 49,99 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 62,90 sFr.
Thema
Deutschland und Polen beschreiten seit 1989 neue Wege der Zusammenarbeit. Was zwischen Deutschland und Frankreich nach dem Kriege zur Normalität wurde, ist zwischen Deutschland und Polen erst seit 27 Jahren möglich. Nicht das Negative, sondern das Aufbauende muss die deutsch-polnische Beziehungen verlässlich gestalten.
Herausgeber und Herausgeberin
Carsten Gansel arbeitet als Professor an der Universität Gießen für Neuere deutsche Literatur und Literatur – und Mediendidaktik.
Monika Wolting ist Professorin für Germanistik an der WSPiA Poznan (Posen) und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistische Philologie der Universität Wroclaw (Breslau).
Aufbau und Inhalt
Es besteht aus fünf Kapiteln.
In den „Vorbemerkungen“ (erstes Kapitel) geben die Herausgeber einen Überblick über Ziel und Methode sowie den Grundansatz des Bandes. Gansel/Wolting betonen dabei: „Es geht um gegenseitigen Respekt und die Reflexion darüber,was jeweils an kulturellem und historischem Erbe eingebracht wird. Nur auf diese Weise – so eine Position – kann ein interkultureller Dialog zustande kommen, der unterschiedliche Auffassungen toleriert“(S. 11).
Im zweiten Kapitel „Polenbilder in der deutschen Literatur“ sind vor allen Beiträger von deutschen Wissenschaftlern zu finden, aber auch ein Aufsatz von Andrzej Kopacki aus Warszawa. Es wird dabei nicht zuletzt auch die Frage untersucht, worin sich Deutsche und Polen unterscheiden: Auf eine mögliche Antwort verweist Cartsen Gansel in seinem einleitenden Aufsatz, indem er die pointierte Auffassung des polnischen Autors Andrzej Stasiuk zitiert: „Wir unterscheiden uns in unserem Verhältnis zur Form. Die Germanen wollen sie vervollkommnen, die Slaven wollen sie ständig nur loswerden, eine durch die andere ersetzen, die jetzige in der Hoffnung abwerfen, die nächste werde bequemer sein“(S. 34).
Das dritte Kapitel „Deutschlandbilder in der polnischen Literatur“ dominieren polnische Beiträge. Von Interesse ist dabei neben der Einführung von Monika Wolting der Aufsatz „Wendepunkte, Brüche und Kontinuitäten im polnischen kulturellen Gedächtnis 1944/1945-2011 und die Funktion der Narrative – über ‚Deutsche und Polen‘ im Krieg“ (S. 177) von Miroslawa Zielinska, die über Leid und Schmerz über Kultur und Dialog mit den Deutschen informieren.
Das vierte Kapitel „Deutsch-polnische Begegnungsräume“ befasst sich umfangreich mit der Identitätsbildung zwischen Deutschen und Polen. Dabei wird auch dem Erinnerungsbuch „Der gute Deutsche“, auf Polnisch: „Dobry Niemiec“, des polnischen Publizisten Andrzej Ziemilski (1923-2003) nachgegangen.
Abschließend im fünften Kapitel: finden sich zwei „Autorengespräche“, zwischen Olga Tokarczuk und Stephan Wolting (Poznan) sowie zwischen Artur Becker und Robert Jonczyk (Wroclaw).
Diskussion
An diesem herausragenden Buch beteiligen sich zahlreiche Autorinnen und Autoren; alle Beiträge zu würdigen würden den Rahmen dieser Rezension überfordern.
Die Arbeit ist besonders Politikern in den beiden Ländern zu empfehlen; sie prägt die Bilder des jeweiligen Landes wie kaum eine andere. Sie baut Vorurteile ab, und ebnet den Weg zu einer Partnerschaft zwischen guten Nachbarn. Es werden hauptsächlich Antworten auf folgende Fragen gesucht und gegeben:
- Mit welchen literarischen Texten lassen sich die deutsch-polnische Beziehungen nach 1989 beschreiben?
- Welche Rolle spielen Bilder über das jeweilige Land?
- Wie wird die Identitätsbildung durch Bilder beeinflusst?
- Was ist charakteristisch in der Wechselwirkung zwischen Selbstbilden und Fremdbildern aus deutscher und polnischer Sicht?
Bilder des Erlebten kreieren Haltungen – sie wiederum implizieren entweder gute oder schlechte Gefühle. Das Bewusstsein ist die stille Begleiterscheinung der subjektiv erlebten Bilder. Aus dem Ganzen entstehen Reflexionen die maßgebend die Logik des Handelns zwischen Menschen und Nationen bestimmen. Den Begriff „Bild“ kann man aus deutsch-polnischer Sicht mit Hilfe des folgenden Schema wie folgt auslegen:
B | = | Begegnung + Beziehung |
I | = | Information + Implikation |
L | = | Last + Lust |
D | = | Denken + Dialog |
Die Logik des Dialogs spielt (mit ihren zahlreichen Vorstufen) in der Annäherung zwischen Deutschland und Polen nach 1989 wichtige Rolle. Mit folgendem Zitat lässt sich diese Logik zutreffend beschreiben: „Sie müssen aus dem Schatten der Vergangenheit nicht heraustreten, denn ihr Rucksack ist leichter oder sie haben ihn weggeworfen. Ihre Communities sind jung sie bewegen sich in einer Gegenwart, die nicht mehr“ – so schrieb Andrzej Stasiuk – „(…) an der Vergangenheit gemessen wird. Nicht die Massengräber, sondern die Halden von Bierflaschen an den Bushaltestellen irgendwo in einer vom Konsum ansonsten abgekoppelten Provinz sind ihre Schauplätze; nicht die an ihren Kriegstraumata leidenden Eltern, sondern junge Werbetexter, Speditionsfirmenbesitzer, Clubbetreiber, Waffenschieber oder Arbeitslose sind die Protagonisten.“ (S. 121). Das Primat des Vertrauens bestimmt dieser Logik. Aus Feinden sind Freunde geworden – ist mehr als ein Wunsch, im Großen und Ganzen eine Realität. In dem Beitrag „‚Ich Mischling‘. Literarisches Sprechen aus der Position des Dazwischen in ‚Wieczny Grunwald‘ und ‚Morphin‘“ von Szczepan Twardoch wird über deutsch-polnische Geschichte geschrieben. Twardoch analysiert den Zustand des „ … Dazwischen – des Draußen und Drinnen zugleich …“ (S. 284). Es ist eine historische Darstellung des „ewigen Tannenberg“ („Wieczny Grunwald“) im Sinne als Erinnerung, obwohl dies eher an Klischees und willkürliche Interpretation orientiert ist (vgl. S. 286). Erinnerung an Kriege und Vertreibung sind geschichtlich gesehen ein wichtiger Teil des deutsch-polnischen Verhältnisses. Die Gegenwart liefert jedoch Bilder die Vertrauen wecken. Alle deutsche Regierungen haben zwischen Deutschland und Polen Spannungen und Konfikte Stufe für Stufe abgebaut, z.B. die Begegnungen zwischen Bundeskanzler Helmuth Kohl und Premier Mazowiecki während der deutschen Wiedervereinigung und danach prägen das Bewusstsein der Offenheit und der Bereitschaft für gemeinsame Gespräche für neues Kapitel der Zusammenarbeit. Nicht zu unterschätzen sind ebenfalls beiderseitigen Vorteile der geografischen Lage sowohl für Deutschland als auch für Polen in Europa. Polen erhofft sich Vorteile durch Bindung an westliche Zivilisation, Deutschland wiederum braucht Polen auch als Transitland, z.B. Richtung Baltikum.
Nach den marktwirtschaftlichen, sozial-politischen und diplomatischen Durchbrüchen kann Kultur, Literatur, Jugendaustausch und gemeinsame Projekte zum Wohle der beiden Nachbarn gefördert werden. Gansels/Woltings Arbeit ist ein Beispiel der Verständigung und der Neudeutung der Beziehungen und zwar im Sinne einer: „ … Dekonstruktion existierender Stereotype und Klischees …“(S. 11).
Robert Jonczyk stellt Artur Becker die Frage: Wo er die Schwächen und die Stärken der deutsch-polnischen Beziehungen sieht (vgl. S. 395). Beckers Antwort lautet, erstens im politischen Dialog, zweitens diplomatisch. Becker musste bestimmte Beeinträchtigung der deutsch-polnischen Beziehung durch die polnische Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) erklären. Er betont, dass die Prozesse und Abläufe der Säkularisierung und der Demokratisierung in Polen nach 1989 schwierig zu erklären sind. Deutschland kann dagegen bereits an eine lange Geschichte der Entwicklung der Demokratie zurückschauen.
Fazit
Bis 1989 verlief die Nachbarschaft zwischen Deutschland und Polen nach folgenden Szenarien:
- zwischen Westdeutschland (seit Adenauers Ära) und Polen ging es grundsätzlich um die Versöhnung und Wiedergutmachung an Polen.
- zwischen DDR und Polen spielten die Slogans der Verbrüderung und der sozialistischen Freundschaft die Hauptrolle. Seit 1989 hat sich die Situation diametral verändert, erstens Polen wollte in die EU und NATO integriert werden.
- diese Entwicklung sorgte dafür automatisch, dass deutsches Arbeitsmarkt und polnischer Arbeits- und Handelsmarkt zusammen wachsen.
- deutsch-polnische Beziehungen haben insgesamt neue geopolitische Dimension angenommen, grundsätzlich mit Rücksichtnahme auf Russland. Die USA sind der neue gemeinsame Verbündete von Deutschland und Polen.
Gansels/Woltings Band ist ein Vertrauen bildendes Bilder-Buch der Dialoge und ein gelungenes Plädoyer für mehr Verständnis für die Denkperspektiven des jeweils Anderen. Das Buch informiert über die „sanfte Art und Weise“, wie Bilder zwischen Deutschland und Polen mit Respekt, Toleranz und gutem Willen eine nähere Zusammenarbeit zwischen Partnern aufbauen können.
Rezension von
Dr. Siegmund Pisarczyk
Diplompädagoge & Nonprofit Manager
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Es gibt 17 Rezensionen von Siegmund Pisarczyk.
Zitiervorschlag
Siegmund Pisarczyk. Rezension vom 23.06.2017 zu:
Carsten Gansel, Monika Wolting (Hrsg.): Deutschland- und Polenbilder in der Literatur nach 1989. V&R unipress
(Göttingen) 2015.
ISBN 978-3-8471-0459-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22000.php, Datum des Zugriffs 28.09.2023.
Urheberrecht
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