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Esther Lehnert, Heike Radvan: Rechtsextreme Frauen - Analysen und Handlungs­empfehlungen (...)

Rezensiert von Dipl.-Soz.Päd Adelheid Schmitz, 16.05.2017

Cover Esther Lehnert, Heike Radvan: Rechtsextreme Frauen - Analysen und Handlungs­empfehlungen (...) ISBN 978-3-8474-0700-3

Esther Lehnert, Heike Radvan: Rechtsextreme Frauen - Analysen und Handlungsempfehlungen für die Soziale Arbeit und Pädagogik. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2016. 138 Seiten. ISBN 978-3-8474-0700-3. D: 12,90 EUR, A: 13,30 EUR, CH: 18,90 sFr.

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Thema

Mit dem Buch wollen die Autorinnen Informationen und Handlungsperspektiven zum Thema Rechtsextreme Frauen und deren Aktivitäten in Sozialer Arbeit und Pädagogik liefern, um auf dieser Basis fundiert und angemessen handeln zu können, sei es präventiv oder durch direkte Intervention auf konkrete Vorfälle. Die Motivation der Autorinnen für diese Analyse resultiert aus eigenen Erfahrungen und Forschungen in den Praxisfeldern Soziale Arbeit und Pädagogik. Mit der Einbettung aktueller Erscheinungsformen und Fragestellungen in einen historischen Kontext wollen die Autorinnen zeigen, wie sich in der Vergangenheit entpolitisierende und verharmlosende Denkfiguren entwickelten und so diskriminierenden, ausgrenzenden Praxen Vorschub geleistet wurde. Ihr Anliegen ist es, eine Debatte über die Verantwortung von Aus- und Weiterbildung in Sozialer Arbeit und Pädagogik zu intensivieren, damit die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, insbesondere bei und von Frauen, dort nicht länger ein randständiges Thema bleibt und gendersensible Ansätze stärker als bisher in der Präventionsarbeit zur Geltung kommen können.

Autorinnen

Esther Lehnert lehrt als Professorin Geschichte, Theorie und Praxis Sozialer Arbeit mit dem Schwerpunkt Rechtsextremismus an der Alice Salomon Hochschule Berlin.

Die Erziehungswissenschaftlerin und Sozialpädagogin/-arbeiterin Heike Radvan leitet die Fachstelle „Gender und Rechtsextremismus“ der Amadeu Antonio Stiftung.

Beide Autorinnen beschäftigen sich schon seit vielen Jahren theoretisch und praktisch mit dem Themenfeld.

Entstehungshintergrund

Mit dem vorliegenden Buch wollen die beiden Autorinnen auf eine von ihnen konstatierte „Leerstelle“ aufmerksam machen und dazu beitragen, dass rechtsextreme Frauen mit ihren Einstellungen und ihrem Handeln in Einrichtungen der sozialen Arbeit und Pädagogik besser als bisher wahrgenommen und nicht länger unterschätzt werden. Insbesondere im Interesse derjenigen Menschen, die von rechter Gewalt betroffen sind, sei dies wichtig, um sie besser schützen und unterstützen zu können. Aber auch für alle in diesen Arbeitsfeldern Tätigen sei es notwendig, so die Autorinnen, mit Informationen und Auseinandersetzungen diese „Leerstelle“ zu schließen, um angemessene Gegenmaßnahmen entwickeln und umsetzen zu können.

Aufbau

Ausgehend von ihrer These, dass „rechtsextreme Frauen“ bisher in der Forschung und Diskussion zu Rechtsextremismus nur als randständiges Problem wahrgenommen wurden, fragen die Autorinnen nach Hintergründen und Ursachen für diese „defizitäre“ Wahrnehmung. In einem historischen Rückblick skizzieren sie die „Konstruktion Sozialer Arbeit als weiblich und unpolitisch in Deutschland“, beschreiben Rollen und Funktionen von Frauen in der NS-Zeit, die soziale und sozialpädagogische Arbeit nach 1945 in beiden deutschen Staaten sowie die Bedeutung von Frauen im Rechtsextremismus nach 1945, insbesondere Rollen und Aktivitäten von Rechtsterroristinnen.

Im Hauptteil des Buches befassen sich die Autorinnen mit der Wahrnehmung von rechtsextremen Frauen in der Gegenwart. Dabei konzentrieren sie sich vor allem auf den Umgang mit dem rechtsterroristischen „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU), insbesondere mit Beate Zschäpe, die überlebende Frau und Mittäterin des Mördertrios, die aktuell in München vor Gericht steht.

Mit Blick auf den Prozess gegen den NSU konzentrieren sich die Autorinnen vor allem auf Zschäpe und ihre „Helferinnen vor Gericht“, analysieren die Teileinlassung Zschäpes und fassen deren Statement als „Reden, ohne das Schweigen zu brechen“ zusammen.

Ein weiteres Kapitel widmet sich der Frage, wie rechtsextreme Frauen in Sozialer Arbeit und Pädagogik wahrgenommen werden und beschreibt am Beispiel konkreter Fallgeschichten wie auf das Engagement von Neonazi-Frauen reagiert wurde, wenn diese denn in den jeweiligen Arbeitsfeldern überhaupt wahrgenommen wurden. Das Blickfeld umfasst dabei die frühkindliche Pädagogik, die Jugendarbeit, familienunterstützenden Hilden, Schutz vor häuslicher Gewalt und Pflege sowie einer Empfehlung für die Ausbildung an Hochschulen, Universitäten und Fachschulen.

Ein Fazit der Autorinnen und das Literaturverzeichnis schließen das Buch ab.

Inhalt

In ihrer Einleitung formulieren die beiden Autorinnen ihre These, „dass Soziale Arbeit das Phänomen rechtsextremer Frauen in vielen Fällen übersieht und/oder unterschätzt“. Um diese These aus verschiedenen Perspektiven beleuchten zu können, fragen sie nach den historischen und aktuellen Zusammenhängen, nach den Bedingungskontexten, die prägend waren/sind für die erkennbaren Wahrnehmungs- und Interventionsmuster in den präsentierten Fallbeispielen.

Sie werfen die Frage auf, woher es kommt, dass rechtsextreme Frauen mit ihren Einstellungen und Handlungen nicht nur unterschätzt, sondern häufig als „unpolitisch“, „nett“, „normal“ und als „eine von uns“ beschrieben würden. Antworten finden Lehnert und Radvan in philosophischen Diskursen von der Antike bis ins 20. Jahrhundert sowie in der Geschichts- und Geschlechterforschung des westeuropäischen und angelsächsischen Raums. Die Autorinnen zeigen auf, wie „die Stereotype der friedfertigen, der unpolitischen, der passiven und der fürsorgenden Frau“ geprägt wurden und wie diese Bilder auch aktuell die Wahrnehmung rechtsextremer Frauen sowie die Ausblendungen von diskriminierenden, rassistischen und gewalttätigen Einstellungen und Verhaltensweisen beeinflussen.

Genau auf diese Ausblendungen bei rechtsextremen Frauen konzentrieren sich Lehnert und Radvan und sehen darin die „Spitze eines Eisberges“. Sie betonen deshalb auch, dass durch die Analyse der Fallgeschichten deutlich geworden sei, „dass eine grundsätzliche Problematisierung stereotypisierender, von wertendenden Zuschreibungen geprägten Wahrnehmungsmustern – über die Beschäftigung mit ‚rechtsextremen Frauen‘ hinaus“ notwendig sei.

Dort, wo im Kolleg*innenkreis, in Teams rassistische oder diskriminierende Äußerungen fallen z.B. gegen Geflüchtete im Stadtteil oder in der eigenen Einrichtung, müssten auch diese aus der „Perspektive einer diskriminierungsfreien, menschenrechtsorientierten Arbeit“ heraus problematisiert werden. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil hier, aber auch gerade bei antifeministischen Geschlechterdiskursen, Anschlussmöglichkeiten für Neonazi-Frauen lägen, die diese nutzen könnten, um „Vertrauen aufbauen, ihre Themen zu setzen und damit ihre Ideologie“ einzubringen. Die Autorinnen betonen, dass es nicht nur darum gehen dürfe, das engere Thema auszuleuchten, sondern dass auch auf die „Anschlüsse an völkische und rechtsextreme Ideologien“ und „das grundlegende Problem alltagsrassistischer, antisemitischer und weiterer Einstellungen von Fachkräften und Adressat*innen“ aufmerksam gemacht und dabei auch die strukturelle, institutionenbezogene Ebene einbezogen werden müsste.

Lehnert und Radvan skizzieren einige rechtsextreme Erscheinungsformen in der Sozialen Arbeit und zeigen, dass es sich hierbei weder um ein neues Phänomen noch um ein statisches Problem handelt. Die Entwicklung und die Veränderungen innerhalb rechtsextremer Gruppierungen zeigten bereits seit den 1980er Jahren, eine „sukzessive Zunahme von Frauen“ aber auch eine „Ausdifferenzierung von Positionen und Rollenbildern, die Frauen in diesen Gruppen einnehmen und leben.“

Die Autorinnen konstatieren, dass das „angenommene Wahrnehmungsdefizit gegenüber rechtsextremen Frauen“ nicht nur in Pädagogik und Sozialer Arbeit sondern auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen wie z.B. der Zivilgesellschaft, in Verwaltungen, bei Polizei und Verfassungsschutz erkennbar werde. Gründe für das Wahrnehmungsdefizit in der Disziplin und Profession Sozialer Arbeit sehen sie in der Geschichte der Professionalisierung sozialer Arbeit, die eng verknüpft war mit dem Konzept der „beruflichen“ bzw. „organisierten Mütterlichkeit“ und dessen Konstruktion als weitgehend unpolitisches Handeln. Ausgehend von einer Kritik dieses Konzepts, die zeitlich schon parallel und thematisch überschneidend bereits in der Geschichtswissenschaft sowie der Frauen- und Geschlechterforschung formuliert wurde, werfen die Autorinnen die Frage auf, inwiefern das Konzept der „organisierten Mütterlichkeit“ mit einer Entpolitisierung verbunden sei und wie dieser Zusammenhang beschrieben werden könne.

Vor diesem Hintergrund untersuchen Lehnert und Radvan die Zusammenhänge mit

  1. „den historisch hergestellten geschlechtsspezifischen Zuschreibungen an Frauen als ‚friedliebend‘, ‚fürsorgend‘ und ‚unpolitisch‘ im Kontext Sozialer Arbeit“
  2. „der Herstellung von ‚Normalität‘ und der damit verbundenen Konstruktion des ‚Anderen‘ als deren konstitutiver Bedingung.“

Bei ihren theoretischen Vorüberlegungen zu Stereotypen der „friedliebenden“, „fürsorgenden“ und „entpolitischen“ Frau zeigen die Autorinnen, wie sich das Bild von Frauen als „unmündige“ und „defizitäre“ Wesen über die Jahrhunderte wandelte zu einem Bild der liebevollen und gütigen Mutter, das als „naturgegeben“ postuliert und dann gesellschaftlich erklärt und gefestigt wurde.

Im Kapitel „Der historische Blick“ kommen die Autorinnen zu dem Schluss, dass bereits der Beginn der Professionalisierung Sozialer Arbeit mit einer Entpolitisierung derselben einhergegangen sei und untersuchen das Konzept der „Organisierten Mütterlichkeit“ auf seine entpolitisierende Wirkung hin. Ausgehend von ihrem eigenen Politikverständnis, dass nämlich Politik oder politische Räume weit über den Bereich der Parteipolitik hinausgehen, konstatieren die Autorinnen, dass es keine „unpolitischen“ Räume gibt, dass aber autoritäre oder undemokratische Gesellschaftskonzepte sich der „Konstruktion von privaten, unpolitischen Räumen“ bedienten und bedienen, um Herrschafts- und Machtverhältnisse zu verschleiern. Dies zeigen sie am historischen Beispiel des Nationalsozialismus sowie aktuell an der rechtsextremen Ideologie. Prägend für diese Ideologien ist die „Konstruktion der Volksgemeinschaft“, in der es keine „unpolitischen Räume“ gibt. Geschlechterkonstruktionen wie die der „unpolitischen“, „weiblichen“ und „sozialen“ Rollen von Frauen einschließlich der Räume und Berufsfelder, in denen besonders oft Frauen tätig sind wie z.B. die Soziale Arbeit, dienen dazu, die traditionellen Geschlechterbilder- und rollen zu legitimieren und die extrem rechte Ideologie zu normalisieren.

Der Bereich der sozialen Arbeit wird als Praxisfeld vorgestellt, das überwiegend mit weiblichen Attributen assoziiert wird, dies zeige die Geschichte und Professionalisierung der „Fürsorge“. Beim Blick auf die NS-Zeit werden allerdings Widersprüche offensichtlich, denn zum einen pflegten viele Frauen das traditionelle Rollenbild, andere beteiligten sich z.B. auch als Fürsorgerinnen oder Ärztinnen an der Aussonderung und Ermordung von z.B. behinderten Menschen, der Überweisung von als „auffällig“ stigmatisierten Jugendlichen in Zwangsarbeitslager, aber auch Kontinuitäten der „Fürsorge“ in der Nachkriegszeit wie z.B. die Gewalt gegenüber Heimkindern bis weit in die 1970er Jahre. Auch Frauen agierten hier und zwar nicht „friedfertig“, „fürsorglich“ oder „beschützend“, sondern als (Mit)Täterinnen.

Das Unterkapitel „Frauen im Rechtsextremismus nach 1945, in Westdeutschland am Beispiel der Wahrnehmung von Rechtsterroristinnen“ ist außerhalb des Bereichs Sozialer Arbeit angesiedelt und verdeutlicht, dass es auch in der Geschichte der militanten Rechten immer wieder Frauen gegeben hat, die sich an gewalttätigen Aktionen beteiligten, sei es aktiv oder unterstützend. Dass dies lange gar nicht oder kaum wahrgenommen wurde, führen die Autorinnen auf das tradierte Bild im Konzept der „organisierten Mütterlichkeit“ sowie die Konstruktion der „friedfertigen“, „fürsorglichen“, „beschützenden“ und „unpolitischen“ Frau zurück.

Basierend auf Recherchen von Ulrich Overdieck, der auch dieses Kapitel verfasst hat, werden anhand einiger Beispiele „Zschäpes Vorgängerinnen“ beschrieben und ihre Aktivitäten, sei es bei den „Deutschen Aktionsgruppen“, in der „Volkssozialistischen Bewegung“ oder in der „Wehrsportgruppe Hoffmann“. Die hier zusammengetragenen Beispiele zeigen, dass es weniger das fehlende Engagement von Frauen in diesen militanten Szenen war, sondern dass diese Frauen lange nicht oder kaum als aktiver und nicht selten sehr militanter Teil der extrem rechten Bewegung wahrgenommen wurden.

Die im zweiten Kapitel aufgeworfene Frage, wie rechtsextreme Frauen in der Gegenwart wahrgenommen werden, wird am Beispiel der „Karriere“ von Beate Zschäpe analysiert. Zentral dabei ist die Ausgangsfrage, ob es „ihr deswegen möglich gewesen sein könnte, unbemerkt an schwersten rassistischen Straftaten mitzuwirken, weil ihr dies als Frau nicht zugetraut wurde“ und welche Konsequenzen Wahrnehmungsdefizite gegenüber rechtsextremen Frauen seitens der Polizei, des Verfassungsschutzes, aber auch der Zivilgesellschaft, der Medien und pädagogischer Fachkräfte haben könnte.

In Zschäpes Sozialisation habe es schon früh Warnzeichen auf ihre rechte Gesinnung gegeben wie z.B. ihre Äußerungen als 17jährige Jugendliche im „Winzerclub“, einem Jenaer Jugendclub. Dort habe sie auf die Frage nach ihrem Berufswunsch betont: „Zuerst müssen die Ausländer weg“. Overdieck beschreibt ihre Radikalisierung in rechtsextremen Organisationen in Thüringen, ihre Beteiligung an bundesweiten Aufmärschen der Neonaziszene und an Aktionen der „Anti-Antifa Ostthüringen und deren Nachfolgeorganisation ‚Thüringer Heimatschutz (THS)‘“. Schon als Jugendliche war Zschäpe maßgeblich an Attacken auf andersdenkende Jugendliche beteiligt und wurde von der Polizei mit Waffen aufgegriffen. Dennoch blieb sie ohne Vorstrafen. Nach polizeilichen Durchsuchungen aufgrund von Sprengstofffunden gelang ihr zusammen mit Mundlos und Böhnhardt die Flucht und das Abtauchen in den Untergrund. Der 1998 von ihr, Böhnhardt und Mundlos gegründete NSU verübte von 2000 – 2006 rassistisch motivierte Morde an neun Menschen mit Migrationshintergrund, ein Nagelbombenattentat in Köln sowie einen Mord an einer Polizistin 2007. Außerdem überfiel der NSU Banken, um sich das Leben im Untergrund zu finanzieren.

Zschäpe war laut Anklageschrift nicht nur gleichberechtigtes Mitglied im Mördertrio des NSU, sondern kümmerte sich auch darum, so etwas wie Normalität und Legalität in ihrem nachbarschaftlichen Umfeld zu demonstrieren. Gleichzeitig soll sie aber auch an der Beschaffung von Waffen und Ausweispapieren beteiligt gewesen sein, kümmerte sich um die Logistik und die Verwaltung der Gelder aus den Banküberfällen. Von ihren Nachbarn wurde sie später als „gesellig und unauffällig“ beschrieben. Zschäpe konnte offenbar gezielt das Stereotyp von der „friedfertigen“ und „unpolitischen“ Frau als Tarnung nutzen. Nach dem Tod von Mundlos und Böhnhardt versuchte sie, die Spuren des Trios durch Brandlegung zu beseitigen. Von mutmaßlichen Unterstützerinnen erhielt sie Kleidung ohne Brand- und Benzinspuren und verbrachte noch 4 Tage im Untergrund, bevor sie sich in Anwesenheit eines Anwalts selbst stellte. Dieses gezielte Verhalten und ihre möglichen Kontakte mit anderen Unterstützer*innen wirft viele Fragen auf, die jedoch im Rahmen des Prozesses bisher nicht aufgeklärt wurden. Overdieck fragt deshalb zurecht, ob dies bei einem überlebenden Mann genauso gewesen wäre und ob es Zschäpe aufgrund ihres „Frauseins“ und der „defizitären Wahrnehmung“ weniger zugetraut wurde, Unterstützerstrukturen zu nutzen und aufrechtzuerhalten. Gleichwohl gilt Zschäpe laut Anklage als ein „Kopf“ einer rechtsterroristischen Organisation.

Auch in der Reaktion vieler Medien und der öffentliche Wahrnehmung wurde nach der Selbstenttarnung „das übliche Klischee von der unpolitischen Frau“ präsentiert. Im Zentrum stand oftmals das Liebesleben der Rechtsterroristin und die „Dreierbeziehung“, weniger die lange rechtsextremistische Karriere Zschäpes.

Obwohl die Anklage gegen Zschäpe als gleichberechtigte Beteiligte am NSU geführt wird, konzentrierten sich viele Medien bei ihrem Erscheinen zu Prozessbeginn vor allem auf ihre Äußerlichkeiten wie Kleidung, Frisur Mimik und Gestik – im Gegensatz zu den männlichen Angeklagten, bei denen dies keine Rolle zu spielte. Anders als bei den männlichen Mitangeklagten Ralf Wohlleben und André E. schienen Medien und Öffentlichkeit bei Zschäpe auf Äußerungen der Reue oder eine Entschuldigung gegenüber den Angehörigen zu warten – entsprechend dem weiblichen Rollenmuster. Nicht Zschäpe, jedoch zwei weitere männliche Angeklagte gestanden gegenüber den Hinterbliebenen der Opfer ihre Schuld ein.

Im Weiteren beschreibt Overdieck anhand von drei Fallgeschichten wie Medien versuchten, Zschäpe zu entlasten, dass weiterhin Rasterfahndungen durchgeführt wurden, ohne Frauen zu berücksichtigen und wie es gelang, im „Untergrund“ eine polizeiliche Vernehmung zu überstehen. Alle diese Fallgeschichten zeigen, dass die „defizitäre“ Wahrnehmung von Frauen als Teil der extremen und militanten Rechten dabei grundlegend war.

In einem weiteren Kapitel konzentriert Overdieck sich auf Frauen im NSU-Prozess und beleuchtet, wie Zschäpes Helferinnen vor Gericht, aber auch im Unter- und Hintergrund wirkten, sie unterstützten und dabei auch die Klischees der „fürsorgenden Mutter“, der „unpolitischen Freundin von…“ oder der „friedfertigen“ Frau bedienten und gezielt nutzten. Zitiert werden Aussagen von Zeuginnen, die ihre Rolle in rechtsextremen Organisationen klein reden und beteuern, sich seit ihrer Mutterschaft von der Szene entfernt und nicht mehr aktiv in ihr beteiligt zu haben.

Zschäpes Teileinlassung während des NSU-Prozesses bewerten die Autorinnen als „Reden ohne das Schweigen zu brechen“. Sie beschreiben das widersprüchliche Verhalten Zschäpes, dass sie einerseits diese Teileinlassung gegen den Willen ihrer Anwälte durchsetzte und sich somit als aktiv Handelnde zeigte, in der Teileinlassung ging es ihr jedoch vor allem darum, sich „als passives Opfer der Geschehnisse zu präsentieren“. Aussagen, die auf ein politisches Verständnis hätten schließen lassen können, äußerte sie nicht. Im Gegenteil, sie präsentierte sich in einer klischeehaften Frauenrolle als Opfer der Geschehnisse. Zwar äußerte sie eine Entschuldigung gegenüber „allen Opfern und Angehörigen der Opfer“ jedoch nicht für ihre Taten, sondern für die „von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt begangenen Taten.“ In den Schlagzeilen vieler Medien wurde dies als Entschuldigung von Zschäpe gewertet, dabei hatte sie – bei genauer Betrachtung des Wortlautes – den beiden toten Männern die Taten zugewiesen und sich „nur“ für deren Taten entschuldigt, nicht für ihre eigenen. Auch bei weiteren Aussagen blieb ihr Verhalten strategisch motiviert, sie belastete keine weiteren noch lebenden Täter aus der extrem rechten Szene und versuchte diese eher zu entlasten.

In den nachfolgenden Kapiteln beleuchten die Autorinnen konkrete Arbeitsfelder und beschreiben anhand von Fallbeispielen Situationen, in denen extrem rechte Frauen sichtbar wurden. Sie schildern Situationsverläufe in den Bereichen der

  • Frühkindlichen Pädagogik,
  • Jugendarbeit,
  • Familienunterstützenden Hilfe,
  • Pflege und Schutz vor häuslicher Gewalt.

Das öffentliche Bild der „friedliebenden“ und „unpolitischen“ Frau verstellt auch in diesen Arbeitsfeldern oft den Blick auf die Realität einer zunehmenden Organisierung rechtsextremer Frauen im sozialen Bereich. Die von außen häufig als „nett“ und „unauffällig“ wahrgenommen Frauen können sich in öffentlichen Stellen der Sozialen Arbeit relativ sicher bewegen und längere Zeiträume unbemerkt ihre rechten und rassistischen Positionen vermitteln.

Selbst nach Bekanntwerden ihrer rechtsextremen politischen Meinungen oder Aktivitäten, werden ihre Einstellungen oder ihr Verhalten durch z.B. die Liebe zu einem Mann innerhalb der Szene oder dem bloßen „Mitlaufen“ in einer rechtsextremistischen Bewegung erklärt und damit verharmlost.

Deshalb erläutern die Autorinnen zu ihren Fallbeispielen auch alternative Reaktionsweisen und skizzieren Erkennungsmerkmale für eine mögliche rechte Gesinnung.

Mit Ihren Beispielen zeigen die Autorinnen wie wichtig es ist, eine genderreflektierte Perspektive auf das Problem des Rechtsextremismus zu stärken, denn nach wie vor sind traditionelle stereotype Vorstellungen zu einem Großteil mitverantwortlich dafür, dass extrem rechte Frauen oft übersehen werden. Um den extrem rechten Einflussversuchen durch Frauen angemessen begegnen zu können, fordern die Autorinnen besonders auch Fachschulen, Fachhochschulen und Universitäten auf, sich mit den Erscheinungsformen des modernen Rechtsextremismus auseinanderzusetzen

Diskussion

Lehnert und Radvan haben versucht, Diskurse aus der Sozialwissenschaft, der Geschichtswissenschaft und der Frauen- und Geschlechterforschung heranzuziehen und zusammen zu denken, um angemessene Wege zu finden, wie auf die bisher eher „defizitäre“ Wahrnehmung extrem rechter Frauen in Forschung und Fachdiskursen reagiert werden kann oder müsste. Sie sehen darin eine wichtige Basis für die Initiierung von Konzepten zum Umgang mit Erscheinungsformen von Rechtsextremismus in Sozialer Arbeit allgemein und speziell mit extrem rechten Frauen. Indem sie die Zusammenhänge zu geschichtsphilosophisch und gesellschaftlich produzierten traditionellen Geschlechterbildern darstellen und für den Bereich Soziale Arbeit und Pädagogik die zentrale Frage nach einer Politischen Sozialen Arbeit sowie nach (Dis)-Kontinuitäten im Umgang mit ideologisch rechten Positionen aufwerfen, legen sie richtige und wichtige Akzente.

Mit ihrer Analyse des „defizitären“ Blicks auf Rechtsterroristinnen und insbesondere die Art und Weise, wie Zschäpes Anteil an dem Mördertrio in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, belegen sie, wie sich das verzerrte Bild der „friedliebenden Frauen“ bis in die Gegenwart auswirkt und welche Gefahren damit verbunden sind. Auch dieser Blick ist richtig und wichtig.

Dennoch stellt sich die Frage, ob dies ausreicht, um das Problem in seiner ganzen Dimension ermessen und ihm begegnen zu können. Denn solange die Analysen sich auf die „extreme Rechte“ oder auch „Frauen im Rechtsextremismus“ konzentrieren, geraten schnell die Vielen aus dem Blick, die ähnlich denken oder handeln, sich aber nicht dem extrem rechten Spektrum zuordnen oder diesem zugeordnet werden. Ausgrenzung, Diskriminierung und offener Rassismus muss auch dort offengelegt und problematisiert werden, wo dies tagtäglich geschieht, bewusst oder unbewusst, nämlich in den Institutionen der Sozialen Arbeit, überall dort, wo Menschen – egal welcher Herkunft, Nation, Religion oder Kultur nicht teilhaben können an der Gesellschaft, wo sie ausgeschlossen werden vom Recht auf Bildung oder einer lebenssichernden Existenz. Zwar betonen die Autorinnen, dass dies notwendig sei, bieten diesem erweiterten Blick in ihrem Buch aber keinen Raum. Eine politische Soziale Arbeit müsste jedoch genau hier ansetzen und dürfte sich nicht darauf beschränken, nur extrem rechte Frauen oder den Rechtsextremismus allgemein zu betrachten. Vielmehr müsste es um die fließenden Übergänge gehen, also ähnlichen Einstellungen und Denkmuster, die auch im Bereich Sozialer Arbeit und Pädagogik erkennbar werden, allerdings unspektakulärer.

Fazit

Das als Handreichung konzipierte Buch liefert Fachkräften in Sozialer Arbeit und Pädagogik Hintergrundinformationen zum Themenkomplex „Rechtsextreme Frauen“ und bietet anhand konkreter Arbeitsfelder Informative und hilfreiche Lösungsansätze für einzelne Arbeitsfelder. Allerdings beschränken sich die Lösungsansätze auf den Umgang mit extrem rechten Frauen und müssten erweitert werden auf den ganz alltäglichen Rassismus und wie diesem mit gendersensiblen Ansätzen begegnet werden kann. Nichtsdestotrotz kann das Buch pädagogisch geschulten und weniger informierten Leser*innen den Blick weiten für ein eher „unterbelichtetes“ Thema und dessen gesellschaftliche Relevanz. Die vor allem für Fachkräfte verfasste Publikation ist in einer gut verständlichen Sprache verfasst und prägnant geschrieben.

Rezension von
Dipl.-Soz.Päd Adelheid Schmitz
Hochschule Düsseldorf, FB 6
FSP Rechtsextremismus und Neonazismus
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Es gibt 2 Rezensionen von Adelheid Schmitz.

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Zitiervorschlag
Adelheid Schmitz. Rezension vom 16.05.2017 zu: Esther Lehnert, Heike Radvan: Rechtsextreme Frauen - Analysen und Handlungsempfehlungen für die Soziale Arbeit und Pädagogik. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2016. ISBN 978-3-8474-0700-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22003.php, Datum des Zugriffs 09.10.2024.


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