Oliver Bilke-Hentsch, Kathrin Sevecke: Aggressivität, Impulsivität und Delinquenz
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Klug, 28.04.2017

Oliver Bilke-Hentsch, Kathrin Sevecke: Aggressivität, Impulsivität und Delinquenz. Georg Thieme Verlag (Stuttgart) 2016. 280 Seiten. ISBN 978-3-13-203851-6. 49,99 EUR.
Thema
„Aggressivität und Impulsivität gehören in gewissem Maß zur Jugend dazu. Wann ein gesundes Maß überschritten ist, wie Sie gefährdete Kinder erkennen können und welche Therapieoptionen Ihnen dann zur Verfügung stehen, stellen namhafte Expertinnen und Experten in diesem Buch dar.
Als ideales Nachschlagewerk bietet dieses praxisnahe Handbuch eine umfassende und dennoch präzise Darstellung der Gesamtthematik:
- Entstehung von Delinquenz aus entwicklungspsychologischer Sicht.
- Neueste Forschungsergebnisse zur Diagnostik und Begutachtung aus Deutschland, Österreich und der Schweiz im Vergleich.
- Ausführliche Darstellung aller Therapiemöglichkeiten.“ (Verlagsangaben)
Herausgeber und Herausgeberin
Dr. med. Oliver Bilke-Hentsch, MBA, arbeitet als Chefarzt in der Modellstation SOMOSA in Winterthur.
Univ.-Prof. Dr. med. Kathrin Sevecke, arbeitet an der Uniklinik der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Innsbruck.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in zwei Hauptteile:
- „Gesellschaftliche und medizinische Entwicklungen“ mit fünf Unterkapiteln und
- „Interventionen in Praxis und Institutionen“ mit sieben Unterkapiteln
Zu I. Gesellschaftliche und medizinische Entwicklungen
1 Gesellschaftliche und medizinische Entwicklungen
1.1 Juristische Entwicklungen von Julian Mausbach und Brigitte Tag. Dieser Artikel beschäftigt sich mit juristischen Fragestellungen (Strafrecht, Zivilrecht, Sozialrecht) nahezu ausschließlich aus Schweizer Perspektive.
1.2 Mediale Entwicklungen von Petra Grimm. Hier geht es um Probleme bei der Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen (Smartphone Nutzung, Internet). Thematisiert werden die Folgen von Gewaltmedien und Cybermobbing auf Jugendliche. Letzteres kann könne zu einer „Steigerung der Gewalt“ hervorrufen und die Gemeinschaftsfähigkeit von Jugendlichen negativ beeinträchtigen (S. 23).
1.3 Wandel und Konstanz in der Rolle des Arztes und der Fachpersonen von Gunther Klosinski. Thematisiert werden gesetzliche und gesellschaftliche Veränderungen, die zu neuen Aufgaben und einem neuen Rollenverständnis von Ärzten führen: z. B. UN-Kinderrechtskonvention, Reform des Kindschaftsrechts, Gutachtertätigkeit im Familienrecht und Sozialrecht.
1.4 Versicherungsmedizin von Gerhard Ebner und Michael Liebrenz. „Versicherungsmedizin beinhaltet medizinische Beurteilung der Risikosituation bei Versicherungsanträgen und medizinische Beurteilung für die Leistungsregulierung.“ (S. 27) In diesem Zusammenhang geht es um eine Bestandsaufnahme von Forschung, Aus- und Weiterbildung sowie um das Gutachterwesen. Drei Herausforderungen werden kurz dargelegt: evidenzbasierte Gütekriterien zur Beurteilung psychischer Behinderung, interkulturelle Begutachtung, medizinethische Aspekte.
1.5 Ethische Aspekte – Wem gehört die Symptomatik? von Michael Brünger. Wer sich unter diesem Titel eine Abhandlung über „Ethische Aspekte“ vorstellt, wird feststellen, dass es vielmehr um die (nicht unwichtigen) Konsequenzen aus der UN-Kinderrechtskonvention geht.
1.6 Grundlegendes Konzept der Autonomie von Jonathan Herring. Dagegen wirft dieser Artikel die ethisch relevante Frage nach der Autonomie des Menschen und der Grenze derselben auf. Er zeigt, wie kompliziert diesbezüglich Abwägungsprozesse sein können, selbst bei einem Prinzip, das alle Menschen akzeptieren. Wenn sich auch der Autor bisweilen im argumentativen „Gestrüpp“ verfängt (so soll eine Entscheidung eines Menschen, die ihn selbst ernsthaft schädigt, dann akzeptiert werden, wenn sie „stark autonom“ ist – was aber die Frage aufwirft, welche Instanz „starke Autonomie“ beurteilt, was wiederum die Autonomie infrage stellt …), so ist seine Kasuistik doch meist interessant und regt zu vielfältigem Nachdenken an.
2 Entwicklungspsychiatrische Grundlagen
2.1 Entwicklungen von Aggressivität von Inge Seiffge-Krenke. Die Autorin setzt sich hier mit den (entwicklungspsychologisch verstandenen) Ursachen von Aggression auseinander. Ihre Kernthese: „Die Aggressionsentwicklung ist im Kontext der Entwicklung anderer Emotionen wie Scham, Empathie und Angst zu sehen und hat einen engen Bezug zu geschlechtsspezifischen und kulturellen Sozialisationspraktiken.“ (S. 39) Interessant ist die – gegen den Mainstream gerichtete – These einer „einseitigen Aggression“ bei jungen Paaren, die mehrheitlich von Mädchen ausgehe (S. 42).
2.2 Entwicklung von Impulsivität von Eva Hammerstein und Kai von Klitzing. Der sehr informative Artikel gibt einen kurzen Überblick über das klinische Bild von Impulsivität, dessen Auftreten im Rahmen anderer klinischer Störungen (z. B. ADHS, Borderline), sowie von Entwicklungsperspektiven, Ätiologie und Therapie. Reichhaltige Literatur zur Vertiefung wird ebenfalls angeboten.
2.3 Familiäre Einflüsse von Dieter Stösser. Dieser Beitrag beschreibt weitgehend ohne weitere Literaturnachweise und Vertiefungshilfen im Wesentlichen bekannte Einflussfaktoren (Familie, Bindungen, Sozialisationsinstanzen) auf Dissozialität, Suchtverhalten und Delinquenz.
2.4 Peereinflüsse von Andreas Wepfer und Oliver Bilke-Hentsch. Sehr allgemein gehalten sind die Überlegungen zu Einflüssen der Peers auf die „Entwicklung, Erprobung und Automatisierung von Impuls- und Temperamentsteuerung.“ (S. 52) Ihr zentraler Inhalt ist es, die Bedeutung von Peerkontakten nicht zu unterschätzen.
2.5 Späte Kindheit als Übergangsphase von Gunnar Neuschäfer. Deutlicher am Thema des Buches orientiert, aber mit vielen Überschneidungen zu den vorigen Kapiteln, beschreibt der Autor Risikofaktoren in der späten Kindheit (Emotionsregulation, Belohnungsaufschub, kognitive Entwicklungsdefizite). Ein praktischer Exkurs zum Umgang mit „Doktorspielen“ wird eingeschoben. Auch hier fehlen über weite Strecken vertiefende und belegende Literaturhinweise.
2.6 Delinquenz als vorübergehende adoleszentäre Phase von Mogens Nielsen und Oliver Bilke-Hentsch. Dieser Artikel beschäftigt sich ebenfalls mit einer Entwicklungsphase (Adoleszenz), allerdings unter dem besonderen Aspekt der Kriminalität. Neben aktuellen epidemiologischen Zahlen, werden zentrale kriminologische Erkenntnisse der Erforschung von Jugendkriminalität referiert (Risikofaktoren, Ubiquität, passagere Delinquenz, Peereinflüsse, Gruppendynamik, Alkohol und Drogen). Thematisiert werden auch pädagogische Fragestellungen am Beispiel der Modellstation SOMOSA. Für manche Behauptung hätte man sich einen Beleg gewünscht.
2.7 Entwicklung von antisozialen Persönlichkeitsstörungen von Kathrin Sevecke und Maya Krischer. Den beiden Autorinnen gelingt es, auf wenigen Seiten einen ebenso informativen wie anregenden Abriss von Klassifikationshinweisen, ätiologischen und therapeutischen Fakten zur Problematik der Dissozialität/Antisozialen Persönlichkeitsstörung zu liefern, sodass man buchstäblich jede Zeile mit Gewinn liest. Ein überaus spannender und anregender Artikel.
2.8. Psychopathy im Jugendalter von Kathrin Sevecke. Einleitend schreibt die Autorin: „Dem breiten Spektrum verschiedener klinischer Formen von Störungen des Sozialverhaltens und der antisozialen Persönlichkeitsstörung steht eine große Anzahl begrifflicher Definitionen und Subklassifikationen mit unterschiedlichen Verlaufsformen gegenüber. Das Konzept der Psychopathy nach Hare et al. beschreibt eine solche Subgruppe, die in der Literatur als schwerwiegende Persönlichkeitsstörung beschrieben wird und sowohl durch ein anhaltendes Verhaltensmuster von antisozialem und kriminellem Verhalten als auch durch Persönlichkeitspathologien wie fehlende Empathie, fehlendes Schuldbewusstsein sowie narzisstische und manipulierend-interpersonelle Züge beschrieben wird.“ (S. 67) Neben diesen klassifikatorischen Abgrenzungsfragen beschreibt die Autorin weitere Phänomene im Zusammenhang mit Psychopathy (Komorbidität). Die Darstellung eigener Forschungsergebnisse im Zusammenhang mit Mädchen mit Psychopathy-Eigenschaften, zeigt die Aktualität dieses lesenswerten Artikels.
3 Epidemiologie
3.1 Kriminalstatistik von Frank Neubacher. Der Leser erfährt aktuelle statistische Tatsachen über die Struktur der registrierten Kriminalität (z. B. die in der Öffentlichkeit wenig bewusste Tatsache, dass Gewaltdelikte nur mit 3 % an der Gesamtkriminalität Anteil haben). Weitere wichtige Informationen finden sich über die Aufklärungsquote, das Stadt-Land-Gefälle, das Alter, Geschlecht und Ausländerstatus der Täter. Insgesamt sind dies sehr nützliche und interessante Fakten, gerade in emotionalisierten Debatten.
3.2 Entwicklungspsychiatrische Epidemiologie von Martin Fuchs. Ebenso hilfreich ist dieser Beitrag, der den Zusammenhang zwischen psychiatrischen Störungen und Straffälligkeit bei Jugendlichen herstellt. Es ist erschreckend, welch schwere und schwerste psychiatrische Störungen sich bei Jugendlichen in Jugendgefängnissen finden und wie viele Jugendliche darunter leiden. Inhaftierte Frauen beispielsweise leiden besonders an Traumafolgestörungen, was auf den Zusammenhang zwischen Opfer-sein und Täterin-werden hinweist, Zusammenhänge, die nach Konsequenzen in der Straftäterbehandlung verlangen.
3.3 Kriminalitätsentwicklung von Frank Neubacher. Die Methoden der Erfassung von Kriminalität und ihre Probleme (z. B. Hellfeld, Dunkelfeld, Polizeiliche Kriminalstatistik) werden zunächst referiert, angefügt werden aktuelle Zahlen der Kriminalitätsentwicklung. Wären die beiden Artikel des Autors zusammengefasst worden, hätten sich Überschneidungen vermeiden lassen. Dennoch ist dies ein informativer und lesenswerter Beitrag.
4 Diagnostik
4.1 Klinische Diagnostik von Leonardo Vertone, Cornelia Bessler und Marcel Aebi. Hier werden zunächst die schon mehrfach referierten Störungsbilder forensischer Patienten geschildert. Interessant sind auch die Bemerkungen über „Besonderheiten im Umgang“. So raten die Autoren beispielsweise zur „Problemaktualisierung“ gewaltbezogener Themen: „Eine solche, prozessual in kontrolliertem Maß ausgelöste Aggressivität im Gespräch ist aus diagnostischer Sicht wichtig, da dies einen Einblick in die Funktionsweise des Klienten ermöglicht. Es empfiehlt sich aber, solche Interventionen nicht unerklärt stehen zu lassen, sondern transparent zu machen und mit dem Klienten zu besprechen.“ (S. 87)
4.2 Fragebogengestützte Diagnostik von Marcel Aebi und Leonardo Vertone. Dieselben Autoren stellen zur Abklärung von aggressiven und delinquenten Jugendlichen vorhandene testpsychologische, standardisierte Fragebögen vor.
4.3 Interviewgestützte Diagnostik von Leonardo Vertone und Marcel Aebi. Nach der Klinischen Diagnose (4.1) und der fragebogengestützten Diagnostik (4.2) wird hier der letzte Baustein einer vollständigen Diagnostik gelegt, indem (halb-)strukturierte und interviewbasierte Befunderhebungssysteme vorgestellt werden. Die relativ kurze Vorstellung wird durch umfangreiche Verweise kompensiert, der Leser, der sich mit einem Verfahren vertraut machen will, kann dies mittels der Literatur tun. Abschließend weisen die Autoren darauf hin, dass Instrumente, die spezifisch auf das „komplexe Zusammenspiel zwischen Delinquenz, forensischen Parametern, Psychopathologie und Persönlichkeit“ (S. 97) abheben, fehlen.
4.4 Operationalisierte psychodynamische Diagnostik von Eginhard Koch und Oliver Bilke-Hentsch. Mit dem Instrument der „Operationalisierten psychodynamischen Diagnostik“ (OPD) sollen die nosologischen Klassifikationssysteme DSM und ICD um psychodynamische Merkmale erweitert und ergänzt werden, gleichzeitig stellt es ein strukturiertes Vorgehen sicher. Einige wichtige Grundlagen (Persönlichkeitsstruktur, innerseelische Konflikte) werden referiert. Formal negativ auffallend an diesem Artikel ist, dass die überwiegende Zahl der Fußnoten im Text nicht vorkommen und dass die angegebene Tabelle im Text nicht zu finden ist.
4.5 Neurobiologisch fundierte Diagnostik von Michael Kaess und Lena Rinnewitz. Es werden neurophysiologische (niedriger Ruhepuls) und neuroendokrinologische (Kortisol, Testosteron) Prädiktoren für kriminelles/aggressives Verhalten diskutiert. Interessant sind auch Ergebnisse aus der Forschung mit bildgebenden Verfahren (reduziertes Volumen der Amygdala; Verbindung zwischen Präfrontalem Cortex und Limbischen System). Ein wenig irritierend ist die Zusammenfassung, die betont, man könne noch nicht von „echten“ diagnostischen Markern sprechen, während an anderer Stelle im Artikel durchaus der entgegengesetzte Eindruck erweckt wird, beispielsweise wenn gesagt wird, ein „verringerter Ruhepuls im Jugendalter“ sei „ein signifikanter Prädiktor für kriminelles Verhalten bis zum frühen und mittleren Erwachsenenalter“ (S. 103). Diese Passage könnte man durchaus so verstehen, als gäbe es ansatzweise einen „biologischen Marker“.
5 Begutachtungen und fachliche Stellungnahme
Die folgenden drei Beiträge befassen sich mit:
5.1. Grundlagen der Begutachtung in Praxis und Klinik von Volker Schmidt
5.2. Abfassung eines Gutachtens – Schritt für Schritt von Tomas Czuczor
5.3. Prognoseerstellung von Marcel Aebi und Cornelia Bessler. Die Autoren schreiben über das Ziel einer umfassenden forensischen Abklärung: „Die Aufgabe des forensischen Sachverständigen ist es, das Risiko zu beurteilen, das vom betreffenden Täter ausgeht, erneut straffällig zu werden.“ (S.119) Nach der Definition von Begriffen (Risikofaktoren, Protektiven Faktoren), werden die Methoden der Risikoeinschätzung dargelegt. Schließlich werden die Validität und die klinische Nützlichkeit von Kriminalprognosemethoden erörtert.
Zu II. Interventionen in Praxis und Institutionen
6 Ambulante Maßnahmen
6.1 Psychosoziale Intervention von Cornelia Bessler. Der Artikel gibt einen guten Überblick über die verschiedenen disziplinären und professionellen Zugänge zur Prävention und Intervention aggressiven und impulsiven Verhaltens. Basierend auf den Erkenntnissen der Wirkungsforschung werden sowohl pädagogische als auch psychotherapeutische Verfahrensweisen angesprochen, der Schwerpunkt liegt erwartungsgemäß auf Letzteren. Auch wenn man sicher darüber streiten kann, ob ein Antiaggressionstraining zu den psychotherapeutischen Ansätzen zu zählen ist, so ist der Autorin doch für den Überblick über die „state of the art“-Methoden zu danken. Dem Rezensenten erscheint der Hinweis der Autorin auf die Notwendigkeit einer evidenzbasierten Wirkungsnachweises sehr wichtig.
6.2 Multisystemische Therapie Kinderschutz (MST-CAN) von Bruno Rhiner und Ute Fürstenau. Eines der wirksamsten Verfahren der Intervention bei Kindesmissbrauch und Vernachlässigung ist die Multisystemic Therapy for Child Abuse and Neglect (MST-CAN). Der zugrundeliegende theoretische Ansatz wird hier ebenso wie die Adaption MST-CAN in Kürze beschrieben und der Leser kann sich in groben Zügen den Verlauf einer solchen Therapie vorstellen. Wünschenswert wäre noch im Sinne des vorigen Artikels ein Hinweis auf die vorhandenen Wirksamkeitsstudien, ansonsten kann man sich dem Wunsch der Autoren auf eine weite Verbreitung dieser hochwirksamen Intervention nur von Herzen anschließen.
6.3 Primäre Prävention von sexuellem Kindesmissbrauch durch Jugendliche (PPJ) von Klaus M. Beier und Tobias Hellenschmidt. Das im April 2014 gestartete Projekt PPJ „richtet sich an 12 und 18-jährige [sic] mit sexuellen Fantasien und/oder Verhaltensweisen, die auf Kinder bezogen sind. Die Betroffenen erhalten ein Angebot zur diagnostischen Abklärung ihrer sexuellen Präferenzbesonderheiten und therapeutische Hilfe bei der Bewältigung und Kontrolle ihrer sexuellen Wünsche und Bedürfnisse. Ziel ist die Prävention sexueller Gewalt gegenüber Kindern“ (S. 134). Dargestellt werden Werbemaßnahmen, Therapieansatz und erste Ergebnisse.
7 Stationäre Maßnahmen
7.1 Entwicklungspsychiatrische stationäre Maßnahmen von Christian Perler. Stationäre psychiatrische Behandlung bei straffälligen Jugendlichen findet im Kontext von Gefängniskrisen, Begutachtungen und im Maßregelvollzug statt. Der Autor umreißt die Patientenprofile und Bedürfnisse (leider weitgehend ohne Nachweis, woher diese Erkenntnisse stammen), und stellt Ziele und Therapieprogramm der jugendforensischen Abteilung in Basel kurz dar. Im Vergleich zu den geschilderten Problemen der Jugendlichen, über die an anderen Stellen des Buches ausführlich referiert wird, wäre das nur schematisch dargestellte, aber interessant klingende Interventionsprogramm von größerem Interesse gewesen.
7.2 Jugendhilfemaßnahmen von Christian Rexroth. Der Autor referiert zunächst die gesetzlichen Grundlagen des SGB VIII, um im Folgenden (leider deutlich unterkomplex dargestellt) das Thema „Wirksamkeit der Kinder- und Jugendhilfe“ anzusprechen. Er kommt des Weiteren auf die ausbaufähige Kooperation von Kinder- und Jugendhilfe mit Kinder- und Jugendpsychiatrie zu sprechen, die er wie folgt beschreibt: „In der konkurrierenden Kontroverse drohen die Rechte der Kinder regelmäßig zwischen den Fachbereichen zerrieben zu werden.“ (S. 146), um daran anknüpfend einige normative Schlussfolgerungen zu ziehen, wie dieses Verhältnis sein sollte.
7.3 Stationäre Maßnahmen im Strafvollzug von Michael Braunschweig und Évi Forgó Baer. Nach den gesetzlichen Rahmenbedingungen für Einschlussstrafen und stationäre Maßnahmen (vorwiegend aus Schweizer Sicht), kommen die Autoren auf bestimmte Maßnahmen zu sprechen: Vollzugsöffnungen als Möglichkeit der Nachreifung, „mehrgleisige Orientierung“ (Ausbildung, Schule, Sozialpädagogik, hochstrukturiertes Lebensumfeld), Deliktorientierte Therapie. Leider fehlen zu diesen (vorwiegend pädagogischen) Inhalten die vertiefenden Literaturverweise. Mit Hinweisen auf positive Behandlungseffekte therapeutischer Behandlungen schließt der Artikel.
7.4 Jugendmaßregelvollzug Wolfgang Weissbeck und Michael Brünger. An dieser Stelle werden die gesetzlichen Grundlagen aus deutscher Sicht, danach die allgemeinen Methoden und Prinzipien der Therapie referiert. Zentrale Erkenntnisse der Wirkungsforschung sind demnach: verhaltenstherapeutischer, haltgebender Rahmen, Beziehungskonstanz, Vermeidung von Bestrafung mit dem Ziel altersangemessener Coping-Strategien, Verbesserung der Stresstoleranz und der Emotionsregulierung (S. 155). Die Autoren betonen am Ende die Notwendigkeit solcher jugendspezifischen Maßregeleinrichtungen.
8 Psychotherapieformen
8.1 Deliktorientierter Behandlungsansatz von Cornelia Bessler und Leonardo Vertone. Nach der Darstellung der Therapeutischen Prinzipien (RNR nach Andrews/Bonta) werden die Interventionstechniken mit dem Ziel der Legalbewährung und der Erhöhung der Steuerungs- und Kontrollfähigkeiten aufgezählt. Anschließend werden Rahmenbedingungen und Voraussetzungen (juristische Rahmenbedingungen, Transparenz des Vorgehens, strukturierter Ablauf u. a.) genannt. Ein häufig wenig beachteter Wirkfaktor, die therapeutische Beziehung, findet erfreulicherweise ausführliche Erwähnung.
8.2 Mentalisierungsbasierte Therapie für Jugendliche (MBT-A) mit aggressiven Verhaltensstörungen von Kathrin Sevecke und Svenja Taubner. Die Therapie geht von folgender Theorie aus: „Affektive Mentalisierung anderer stellt die Grundlage für prosoziales Handeln und insbesondere die Inhibierung von Gewalt dar. […] Tatsächlich scheint gewalttätiges Verhalten damit in Verbindung zu stehen, dass der Gewalttätige sein Gegenüber (passager) nicht als fühlenden und denkenden Mitmenschen wahrnimmt, was normalerweise die Ausübung von Gewalt hemmt.“ (S. 163) Als Ursachen nehmen die Autorinnen eine Interaktion von genetischer Prädisposition und dysfunktionalen frühen Bindungen an, die zu einer Bindungsstörung führen. Adoleszente verlieren damit besonders unter Stress ihre Mentalisierungsfähigkeit. Die Therapie geht davon aus, dass die Kinder und Jugendlichen sowie ihre Eltern in der Aufrechterhaltung von Mentalisierung besonders in Stresssituationen unterstützt werden sollten. Wer jetzt allerdings genau wissen will, wie die Therapie vorgeht, wird nicht fündig: Da es sich um eine heterogene Gruppe handelt, können nur „allgemeine Handlungsleitsätze und Haltungen sowie spezifische Problemlagen formuliert werden […], die genaue Ausgestaltung der Therapie [muss] jedoch auf die individuelle Ausprägung des jeweiligen Jugendlichen ausgerichtet sein.“ (S. 165)
8.3 Adoleszentäre Delinquenz, Aggression und Impulsivität aus Sicht der Psychoanalyse von Gerhard Dammann. Für die Anhänger psychoanalytischer Konzepte ist dieser Artikel genau richtig, er beginnt mit der Triebtheorie von Freud, führt diese weiter über die Bedeutung von Peers, die Bedeutung des Vaters, hin zur „motorischen Entladungen und ADHS“, Psychodynamik, Objektverlust, Störungen der Ich-Funktionen u. Ä.
9 Pharmakotherapie
Es folgen drei Artikel, die sich mit den Möglichkeiten der Pharmakotherapie auseinandersetzen. Sie beschreiben die Wirkungen verschiedener Substanzen, sind aber so speziell, dass sie vermutlich nur von ausgewiesenen Pharmakologen eingeordnet werden können:
9.1 Störungsbezogene Pharmakotherapie von Andreas Conca
9.2 Pharmakotherapie bei Impulsivität und Aggressivität von Ralf W. Dittmann und Tobias Banaschewski
9.3 Pharmakotherapie bei sexuellen Präferenz- und Verhaltensstörungen von Klaus M. Beier, Umut C. Oezdemir und Tobias Hellenschmidt
10 Spezielle Täter und Tatgruppen
10.1 Sexualstraftaten von Martin Rettenberger und Peer Briken. Hier werden bereits in anderen Artikeln referierte Zusammenhänge zur Entstehung und Therapie von jugendlichen Sexualstraftätern noch einmal aufgenommen. Es zeigt sich ein Konsens innerhalb der Wissenschaft, zumindest all derer, die nicht psychoanalytisch orientiert sind. Interessant ist der Hinweis auf die hohe Rückfallwahrscheinlichkeit gerade bei jugendlichen Sexualstraftätern und die Kurzdarstellung der Instrumente zur Vorhersage von Rückfällen.
10.2 Gruppenstraftaten von Ulrich Preuss. Wenn die (allerdings aus relativ alten Quellen entnommenen) Zahlen stimmen, dass rund 40?80 % der Jugendstraftaten in Gruppen verübt werden, muss man die Bedeutung dieses Beitrages nicht mehr eigens hervorheben. Er greift damit einen bereits in den Kapiteln 2.4. und 2.6 beschriebenen Zusammenhang auf, informiert über die gruppendynamischen Einflussfaktoren und einige Interventionen, ohne diese allerdings weiter auszuführen. Erfreulicherweise wird hier (was selten ist in diesem Buch) die Soziale Arbeit als rückfallpräventive Einrichtung wenigstens genannt.
10.3 Brandstiftung von Winfried Barnett. Dieser Artikel geht sein Thema historisch an, was sich auch in der Forschungsmethodik zeigt: Der Autor verweist auf seine Forschung, die in der Sichtung „sämtliche[r] an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg seit ihrem Bestehen (1870) über Brandstifter erstellten 119 mit unserem Instrument auswertbaren Gutachten“ (S. 195) besteht. Daraus hat er Tätertypen entwickelt, die allerdings mit sehr kleinen Fallzahlen (z. B. n=5) belegt werden. Es folgen Überlegungen zur pathologischen Brandstiftung und Dissozialität bzw. Impulsivität. Leider wird außer dem Verweis auf die eigenen Forschungen des Autors keine aktuelle Literatur verwendet, die zitierte Literatur stammt aus den Jahren 1794, 1817, 1825, 1915 und 1951. Am interessantesten und neugierig machend ist der Schlusssatz: „Für Serientäter sind eine Fülle von verhaltenstherapeutischen Verfahren und Techniken beschrieben und empfohlen worden, die unserer Kenntnis nach in Deutschland jedoch bisher nicht zur Anwendung kommen.“ (S. 197) Der Rezensent gesteht, dass er über dieses Verfahren und die Techniken lieber mehr gelesen hätte, als zur Criminaldeputation des Königlich Preußischen Kammergerichts von 1794.
10.4 Besonderheiten bei Mädchen von Ulrich Preuss. Dieses spannende Kapitel behandelt die Gender-Perspektive. Nur auf den ersten Blick sind Mädchen weniger aggressiv als Jungen: Wenn man die generell gewaltbezogenen Verurteilungen heranzieht, ist das männliche Geschlecht zwar in höherem Maße betroffen, nicht aber bei allen spezifischen Gewaltformen (z. B. Mobbing). Der Artikel schildert Risiko- und Schutzfaktoren (die häufig ganz ähnlich denen der Jungen sind) sowie im Besonderen Viktimisierung und Komorbidität. Am Ende stellt der Autor das Forschungsdesiderat heraus, das allen zu denken geben müsste, die von einer reinen Umweltbedingtheit von Kriminalität ausgehen: „Warum sind Mädchen/weibliche Jugendliche weniger kriminell, obwohl sie unter gleichen Lebensbedingungen wie überdeutlich häufiger kriminell handelnde männliche Jugendliche aufwachsen?“ (S. 200)
10.5 Early Starter und Latenzkinder: Täter in der Kindheit von Gunnar Neuschäfer. „Mit Early Startern sind kindliche Intensivtäter zwischen 6 und 10 Jahren gemeint, die noch keine Anzeichen der Pubertät aufweisen und eine chaotische, unsichere Beziehungsgestaltung zu erwachsenen Bezugspersonen aufweisen.“ (S. 203) Neben der Rolle der Eltern, der Geschwister und der Peers, ist es entwicklungspsychologisch das „Latenzalter“, das die Kinder, ausgestattet mit geringem Selbstwert und mangelndem Sozialverhalten in ihrer Entwicklungsphase scheitern lässt. Interessant und didaktisch gut platziert sind die folgenden Fallbeispiele, die das Gesagte nachvollziehbar illustrieren. Man muss dankbar sein, dass hier ein wichtige, in der kriminologischen Literatur häufig wenig thematisierter Zielgruppe beleuchtet wird.
10.6 Substanzkonsum und substanzbedingte Störungen von Norbert Scherbaum und Martin Heilmann. Dieser Artikel vermittelt einen sehr informativen Überblick über Straftaten, die in Verbindung mit Suchtmitteln stehen. Themen sind insbesondere Alkohol, neue psychotrope Substanzen (sogenannte Legal Highs), Cannabisprodukte und Stimulanzien. Beschrieben werden auch kurz die entsprechenden Straftaten: Zum einen solche, die in Bezug zum Entzugssyndrom stehen und die sich aus der Angst des Abhängigen vor Entzugserscheinungen entwickeln, zum anderen Straftaten, die mit dem Zerfall der Persönlichkeit (einhergehend mit dem Verlust sozialer Bindungen und Wertvorstellungen) erklärt werden können, und schließlich Taten nach dem Betäubungsmittelgesetz, also mit unmittelbarem Bezug zu verbotenen Substanzen. Mit einigen (allerdings etwas „altbackenen“) Informationen zur Prävention und diversen einschlägigen Auszügen aus dem Strafgesetzbuch schließt dieser durchaus lesenswerte Beitrag.
10.7 Jugendliche Intensivtäter von Volker Schmidt. Zum wiederholten Mal wird in diesem Buch der sogenannte Intensivtäter thematisiert, was insofern interessant ist, als der Autor konstatiert, dass es keine einheitliche Definition für diese Gruppe gibt. Die hier beschriebenen Merkmale stimmen jedenfalls mit denen der anderen Artikel weitgehend überein. Ein Erkenntnisgewinn stellt die reichlich eingearbeitete Literatur dar, die den Leser zu weiteren eigenen Forschungen animiert. Im Abschnitt über den „Umgang mit jugendlichen Intensivtätern“ werden zunächst strafrechtliche und diagnostische Erfassungsmaßnahmen besprochen, dann aber wird auch die Möglichkeit von Frühintervention thematisiert (Zusammenarbeit von Schule und Elternhaus, Verschärfung der Jugendstraft, therapeutische und sozialpädagogische Maßnahmen).
10.8 Patienten mit Intelligenzminderung von Frank Häßler. Wer sich unter diesem Titel (wie der Rezensent) Einblicke erhofft hat, wie man (z. B. psychotherapeutisch) mit Patienten mit Intelligenzminderung umgeht, sieht sich enttäuscht. Vielmehr argumentiert der Artikel fast ausschließlich an der juristisch-forensischen Schnittstelle und klärt Fragen wie „Auswirkung des Schwachsinns auf Einsichtsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit“ nach §§ 20/21 StGB oder „Auswirkung des Schwachsinns auf Maßregel der Unterbringung“ nach §§ 63 und 64 StGB. Über die Therapie wird nur gesagt, dass sie „multimodalen Ansätzen“ folgen muss, weil die Verhaltensprobleme eine große therapeutische Herausforderung darstellen. In den wenigen Zeilen zur Therapie wird leider ausschließlich pharmakologisch argumentiert.
11 Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den deutschsprachigen Ländern
Im vorletzten Kapitel werden Länderberichte dargestellt:
11.1 Entwicklung in Deutschland von Oliver Bilke-Hentsch und Kathrin Sevecke
11.2 Österreich von Martin Fuchs und Johannes Zahrl
11.3 Schweiz von Marcel Riesen-Kupper
11.4 Südtirol von Andreas Conca
Die Einblicke sind interessant, allerdings findet ein Vergleich der Länder, wie ihn die Überschrift über dem Kapitel suggeriert, nicht statt. Weder unterwerfen sich die einzelnen Autoren dieses Kapitels einer einheitlichen thematischen Ordnung, nach der ein Vergleich möglich wäre, noch ist es auf so wenig Raum umsetzbar, auch nur annähernd vergleichende Aussagen auf dem Niveau dieses Buches zu schaffen.
12 Zukunftsthemen und Forschungsansätze
12.1 Forschung von Kathrin Sevecke. Der Artikel der Herausgeberin entwickelt zum Schluss des Buches ambitionierte Forschungsansätze. So sollen ihrer Meinung nach Übersichtsarbeiten zu den verschiedenen Facetten des Themas „Gewalt“ den Forschungsstand aufzeigen. Wegen der hohen Prävalenzrate von psychisch kranken Gefangenen wird eine standardisierte psychiatrische Eingangsdiagnostik ebenso vorgeschlagen, wie die Erforschung geschlechtsspezifischer Fragestellungen zu den „Unterschiedlichkeiten zwischen Mädchen und Jungen sowie Verlaufsuntersuchungen dieser psychopathologisch auffälligen Persönlichkeitszüge“ (S. 236). Diesen Vorschlägen kann man sich nur anschließen.
12.2 Fort- und Weiterbildung von Cornelia Bessler und Kathrin Sevecke. Nach einer allgemeinen Einführung, in der die Ausdifferenzierung der Disziplinen beschrieben wird, die sich mit aggressiven, impulsiven und delinquenten Jugendlichen befassen, wird die Perspektive verengt auf „forensische Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie forensische Kinder- und Jugendpsychologie“, welche „sich in ihren Tätigkeiten auf das Erstatten von jugendstrafrechtlichen sowie zivilrechtlichen Gutachten und Durchführung von durch die Behörden angeordneten forensischen Behandlungen Minderjähriger konzentrieren.“ (S. 237) Qualifizierungsmöglichkeiten zu dieser Spezialisierung in der Schweiz, in Deutschland und Österreich werden beschrieben.
12.3 Zukunftsthemen von Kathrin Sevecke und Oliver Bilke-Hentsch. Die beiden Herausgeber beschließen den Band mit einer Reihe von Entwicklungslinien, die ihnen sowohl wissenschaftlich als auch praktisch von Bedeutung zu sein scheinen:
- Risikokonstellationen und -populationen (Präventionsprogramme)
- Traumafolgestörungen
- Migrationsbewegungen
- Entwicklung einer Überwachungs- und Kontrollgesellschaft
- Geringere Toleranz gegenüber normabweichendem Verhalten
- Mediale Entwicklungen
- Klassifikation und Definition von Krankheit und Störung
- Multikulturalität
Diskussion
Es ist bei 53 Artikeln nicht ganz leicht, ein Fazit zu ziehen, zumal diese sehr unterschiedlich sind, wenngleich einige Autoren mehrfach zu Wort kommen. Bei aller gebotenen Vorsicht mit Verallgemeinerungen, sollen dennoch einige generelle Aussagen zu dem zu besprechenden Buch vorgelegt werden:
Zunächst ist den Herausgebern ein großes Lob zu zollen, dass es gelungen ist, fast durchweg ein hohes fachliches Niveau zu garantieren, was sich u. a. daran zeigt, dass eine deutliche „Handschrift“ der Herausgeber erkennbar ist: Es sind kurze Artikel, meist drei Druckseiten (zweispaltig), sodass notwendigerweise manche Zusammenhänge nur angedeutet werden können. In der Regel wird für den interessierten und kundigen Leser reichhaltiges Material zur Weiterarbeit bereitgestellt. Was auffällt ist, dass – zumindest soweit der Rezensent es beurteilen kann – aktuelle und wissenschaftlich „gängige“ Standpunkte zu diesem Thema Platz gefunden haben, d. h., ausgesprochene Außenseiterpositionen sind eher selten zu entdecken. Insofern kann der Leser sich darauf freuen, spannende Einblicke zum Thema „Aggression und Impulsivität bei Kinder[n] und Jugendlichen“ von meist kompetenten Autoren und Autorinnen zu finden.
Was ebenfalls gefällt, ist die didaktische Gestaltung mit kleinen Kästen mit Merksätzen oder Definitionen (was allerdings nicht durchgängig zu finden ist und ab dem 11. Kapitel aufhört). Das wissenschaftliche und fachliche Niveau ist fast immer hoch, was durch einige wenige „Ausreißer“ nicht wesentlich geschmälert wird.
Was des Weiteren auffällt, ist die Konzentration auf medizinische, psychologische und an einigen Stellen juristische Bezüge. Diese Selbstbeschränkung ist, wenn sie denn bewusst gewollt ist, insofern nicht ganz verständlich, als die Herausgeberin in einem ihrer Artikel schreibt: „Auf der Ebene der Forschung besteht eine zukünftige Herausforderung darin, die Forschungsergebnisse der verschiedenen Disziplinen, die sich mit den Themen Gewalt – Aggressivität – Impulsivität – Delinquenz und deren Zusammenhänge im Kindes- und Jugendalter befassen, weiter zu vertiefen sowie die einzelnen Erkenntnisse in einem interdisziplinären akademischen Diskurs zu einer multidisziplinären Theorie zusammenzufassen.“ (S. 235) Dem ist voll und ganz zuzustimmen, zumal es wahrscheinlich die Pädagogen sind, die zuerst und (abgesehen bei stationärer Behandlung) am meisten mit der Zielgruppe zu tun haben, von den Sozialarbeitern in der Justiz und den Jugendämtern ganz zu schweigen. Für diese wurde (leider) in vorliegendem Buch weder in der Theorie noch in der Praxis ein Platz gefunden. Insofern möchte man die Herausgeberin gerne beim Wort nehmen und zu einem echten interdisziplinären Dialog aufrufen.
Wenn die Verlagsinformationen versprechen, dass alle Therapieformen zu Wort kommen, ist das an sich schon eine ziemlich gewagtes Unterfangen, wenn aber die wichtigsten wenigstens dargestellt werden sollten, erstaunt es, dass kognitiv-behaviorale Behandlungsformen nicht ausführlicher und ausdrücklicher zur Sprache kommen. Vielmehr sind einige Artikel deutlich von psychoanalytischen Theorien inspiriert, was gerade zu dem von der Herausgeberin geforderten akademischen Diskurs einlädt, ist doch die Fachwelt, was den Beitrag der Psychoanalyse zur Verhinderung von Kriminalität betrifft, durchaus nicht unkritisch. Die im Band häufig genannten und mit ihrem RNR-Modell wohl weltweit am meisten zitierten psychologischen Kriminologen Andrews und Bonta (2010) schreiben ziemlich deutlich: „We are unaware of any explicit psychoanalytic programs that have impacted positively on delinquency prevention or corrections.“ (S. 383) Umgekehrt gehören kognitiv-verhaltensorientierte Maßnahmen zu den gängigen Behandlungsansätzen (siehe Beitrag von Cornelia Bessler auf S. 128) und haben sich in Metastudien als wirksam herausgestellt (Lipsey/Cullen 2007). Das muss man durchaus nicht akzeptieren, kann methodologische und inhaltliche Einwände dagegen formulieren – aber: Gerade von Anhängern der hart kritisierten Psychoanalyse hätte man sich einen Debattenbeitrag zur what-works-Debatte sehr gewünscht. Andererseits ist mit der Multisystemischen Therapie eine der wohl wirksamsten und aus unerklärlichen Gründen in Deutschland kaum praktizierten Therapieformen an prominenter Stelle, was natürlich ein zentraler Beitrag zur Wirksamkeitsdebatte ist.
Ansonsten ist die Vielfalt und Qualität der Einblicke auf knapp 250 Seiten durchaus beeindruckend. Schon der Überblick über Diagnosemethoden, das Kapitel über Neurobiologische Diagnostik, aber auch die Therapieformen und das Bemühen, auf spezielle Täterprofile einzugehen, verdient große Anerkennung.
Fazit
Mit den genannten Einschränkungen, die sich als Diskussionsanregung aus einer anderen Disziplin verstehen, ist das vorliegende Buch sehr zu empfehlen, stellt es doch einen großen Schatz an „state-of-the-art“-Wissen zur Verfügung, ohne dabei auf die ordnende Hand der Herausgeber zu verzichten. Diesen gebührt das Lob, einen gut geordneten, qualitativ hochwertigen Herausgeberband auf den Weg gebracht zu haben, dem man weite Verbreitung wünscht.
Literatur
- Andrews, D. A./Bonta, J. (2010): The Psychology of criminal conduct, New Providence (5th ed.).
- Lipsey, M.W./Cullen, F.T. (2007). The effectiveness of correctional rehabilitation: A review of systematic reviews. Annual Review of Law and Social Science, 3 (1), pp 297−320.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Klug
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Fakultät Soziale Arbeit
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