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Silke Diestelkamp, Rainer Thomasius: Riskanter Alkoholkonsum bei Jugendlichen

Rezensiert von Arnold Schmieder, 02.02.2017

Cover Silke Diestelkamp, Rainer Thomasius: Riskanter Alkoholkonsum bei Jugendlichen ISBN 978-3-662-49314-4

Silke Diestelkamp, Rainer Thomasius: Riskanter Alkoholkonsum bei Jugendlichen. Manual zur Durchführung einer motivierenden Kurzintervention. Springer (Berlin) 2016. 94 Seiten. ISBN 978-3-662-49314-4. D: 29,99 EUR, A: 30,83 EUR, CH: 31,00 sFr.

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Thema

Zwar sinkt die Gesamtzahl der 12- bis 17-Jährigen, die mindestens einmal pro Woche Alkohol trinken, seit 1979 tendenziell, gleichwohl steigt die Zahl Minderjähriger, die mit akuter Alkoholintoxikation eingeliefert und stationär behandelt werden, was allerdings daran liegen kann, wie die VerfasserInnen gleich eingangs bemerken, „dass dieser Anstieg der Behandlungszahlen zum Teil auch auf eine Sensibilisierung in der Bevölkerung zurückzuführen ist, die sich darin ausdrückt, dass schon bei weniger stark intoxikierten Jugendlichen ein Krankenwagen angefordert wird.“ (S. 5) Auch wenn Alkoholkonsum im Jugendalter weit verbreitet und „für viele Jugendliche ein passageres Phänomen“ ist, „aus dem sie mit zunehmendem Alter ‚von allein‘ herauswachsen“, bleibt gleichwohl eine Kurzintervention für Jugendliche mit riskantem Alkoholkonsum angezeigt, insbesondere auch angesichts möglicher Folgeschäden, vor allem aber, um „in einem Gespräch zu einem risikoarmen Konsum bzw. zur Abstinenz zu motivieren.“ (S. VII)

Dazu legen Silke Diestelkamp und Rainer Thomasius unter Mitwirkung von Katrin Lammers und Udo Küstner ein Manual vor, das ein Interventionsmodell an die Hand gibt. Strukturierungshilfen für den Gesprächsverlauf werden geboten und Materialien, die für die Durchführung der Intervention hilfreich sind. Dabei greifen die AutorInnen auf den Leitfaden und Gesprächswegweiser für Brückengespräche des Alkoholpräventionsprogramms HaLT (Hart am LimiT) zurück. Über Standardisierungen und zugleich Übertragbarkeit sollen „Freiheitsgrade für die individuelle beraterische Schwerpunktsetzung“ gewahrt bleiben, auch um eine „Umsetzung der empathischen und wertschätzenden therapeutischen Grundhaltung des Motivational Interviewing“ zu gewährleisten. (S. 2)

Aufbau und Inhalt

Nebst Einleitung und am Schluss beigefügten Materialien für die Durchführung der Intervention sowie einem Serviceteil mit Literatur und Stichwortverzeichnis ist das Buch in einen theoretischen und einen praktischen Teil untergliedert.

Der theoretische Teil eröffnet Einblicke in riskanten Alkoholkonsum und dessen Folgen bei (nicht nur) minderjährigen Jugendlichen, kreist Konsummotive und Wirkerwartungen ein und zeigt auf, dass soziale Motive überwiegen und der Alkoholkonsum „deutlich andere Funktionen als im Erwachsenenalter“ hat, weshalb „präventive Arbeit stets vor diesem jugendspezifischen Hintergrund zu verstehen“ ist. (S. 9) Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf Risiko- und Schutzfaktoren für eine spätere Schädigung durch Alkoholkonsum und dem Erkennen riskanten Konsums, um auf diesem Hintergrund die Wirksamkeit von ‚Motivierenden Kurzinterventionen‘ zu erörtern, was an der entsprechenden Gesprächsführung nach Miller und Rollnick vertieft wird. Weil Jugendliche „sich typischerweise ‚unverwundbar‘ fühlen und oft eine geringe Ambivalenz in Bezug auf den Konsum von Alkohol erleben“, ist davon auszugehen, dass der Klinikaufenthalt „einen sog. ‚teachable moment‘ darstellt“ (S. 26), weshalb diesem Umstand unter Rückgriff auf verschiedene Modelle besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Im Anschluss werden die Hintergründe der HaLT-Hamburg-Studie dargelegt, ein sich an Minderjährige richtendes bundesweit verbreitetes „multimodale(s) Präventionsprogramm“ mit dem Ziel, „Alkoholexzesse und schädlichen Alkoholkonsum im Vorfeld zu verhindern“ und die „Öffentlichkeit für die Förderung eines verantwortungsvollen Umgangs mit Alkohol“ zu sensibilisieren. Von entscheidender Bedeutung ist da das „Brückengespräch“ bereits am Krankenbett, „eine Kurzintervention in Form eines motivierenden Gesprächs“, wobei auch Eltern schon im Krankenhaus das Angebot für ein Beratungsgespräch erhalten. (S. 34) Neben dem Studiendesign werden die Messinstrumente und statistischen Analysen vorgestellt, die Evaluationsergebnisse und nicht zuletzt die Einschätzungen des Projekts aus Sicht des Krankenhauspersonals sowie der Chefärzte. Zudem wird die Sicht der Studienteilnehmer hinsichtlich des therapeutischen Beziehungsverhaltens dokumentiert. Für diese Intervention spricht, dass die Gruppen der Untersuchten nach Klinikaufenthalt ihren Konsum reduziert haben, eine spontane Verhaltensänderung, die ggf. auch darauf zurückgeführt werden kann, dass die Intoxikation in Verbindung mit Hospitalisierung ein nachwirkendes „gesundheitsrelevantes Ereignis“ darstellt; es könnte jedoch auch daran liegen, „dass die Befragung und der persönliche Kontakt mit einer Mitarbeiterin des Evaluationsteams mögliche Reflexionsprozesse und damit eine Reduktion des Konsums in der Kotrollgruppe ausgelöst haben (Befragungs- und Zuwendungseffekte).“ Zusätzlich müssten „möglicherweise ergänzende entwicklungsspezifische Angebote entwickelt werden, die eine engmaschigere Nachbetreuung, beispielsweise durch eine Smartphone-App ermöglichen.“ (S. 44)

Im praktischen Teil geht es zunächst kurz neben der Zielgruppe, der Qualifikation der Berater und Rahmenbedingungen (wozu die Materialien im Anhang beigefügt sind) und dem Ablauf (wohin auch gehört, dass die Betroffenen und die Eltern über Beratungsangebote und Suchtberatungsstellen informiert werden) wesentlich um die Ziele der motivierenden Kurzintervention für Jugendliche und solche der Elternintervention. Das Ziel der Elternintervention ist mit „1. Erkennen, 2. Verstehen und 3. Unterstützen“ umrissen, wobei hier für das Gespräch gilt, was allenthalben von hoher Relevanz ist, so mit den Jugendlichen zu sprechen (und wohl insgesamt zu interagieren), „ohne durch das Auslösen von Reaktanz den Abbruch der Kommunikation durch den Jugendlichen zu provozieren.“ (S. 49) Über Beispiele des Gesprächsverlaufs und Schaubilder u.a. zu ‚Hebammen-Fragen‘ wird die praktische Umsetzung des Ansatzes konkretisiert; schließlich kommen die VerfasserInnen auf „Verstehen“ und „Unterstützen“ zu sprechen, wobei sie u.a. hervorheben: „Kinder brauchen Regeln“ und „Regeln müssen verstanden werden und nachvollziehbar sein“ sowie „Das Gespräch mit dem Jugendlichen suchen“ und „Vermeiden von Vorwürfen, Unterstellungen und Drohungen“. (S. 64 f.)

Diskussion

Dass man ‚verstehen‘ sollte, was ja nicht heißt, dass man alles dulden oder verzeihen soll, dass man ‚unterstützen‘ sollte, indem man selbst Regeln einhält und vor allem ein Vorbild ist, scheint ein Gemeinplatz, der gesonderter Erwähnung nicht bedarf. Angesichts der Realität des Verhältnisses zwischen Kindern und Jugendlichen sowie Eltern und anderen Bezugspersonen ist es doch wohl notwendig, daran zu erinnern und gerade in Situationen, in denen es um mehr geht als um Wohlverhalten, muss die zu häufige ultima ratio aus Vorhaltungen, Drohungen, Direktiven, Sanktionsandrohungen durchbrochen werden. Empathie ist da nicht mehr nur ein Zauberwort, sondern allenthalben die Basis für Verständigung. Dass dabei Selbstreflexion hier bei riskant trinkenden Jugendlichen ein Ziel ist, setzt Selbstreflexion bei denjenigen voraus, welche die Jugendlichen ‚zielführend‘ so aufzuklären beabsichtigen, dass sie zur Selbst-Aufklärung befähigt werden, wozu Informationen notwendig sind, die aber von überzeugenden und die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen ernst nehmenden Argumenten begleitet sein müssen. Vergessen werden darf nicht, dass bspw. in der ‚Zielgruppe‘ der wegen riskanten Substanzkonsums notfallmedizinisch zu behandelnden Minderjährigen die „psychosoziale Belastung (…) höher ist als in der Allgemeinbevölkerung.“ (S. 7)

Das wirft auch die Frage nach schichtenspezifischer Verteilung des riskanten Alkoholkonsums und nach „soziale(n) und emotionale(n) Kompetenzen“ sowie „positive(r) Eltern-Kind-Kommunikation“ als „Schutzfaktoren“ auf (S. 15), die in diesem Manual nicht eingehender behandelt werden. Dazu liegt auch eine Bandbreite speziellerer Literatur vor wie ebenso zu dem nicht unwesentlichen Problem, wie sich insbesondere unter dem Druck neoliberaler Narrative und einer entsprechenden alltäglichen Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen eben Kindheit und dann die schwierige Phase der Adoleszenz zumal zur inhaltlichen Seite geändert hat und dies mit Auswirkungen auf Drogen- und Alkoholverhalten ganz allgemein und dann bis in den prekären Bereich des Riskanten. Auch dies wird in dieser Schrift nicht ausgelotet, wird aber in den Befragungssituationen immer wieder aufscheinen und von den Beraterinnen je konkret aufgegriffen werden, auch weil eine ‚motivierende Kurzintervention‘, wie sie detailliert vorgestellt ist, anders kaum möglich sein wird.

Worauf es hier ankommt: Die nicht alltägliche Situation der Einlieferung in ein Krankenhaus wegen Alkoholintoxikation, wenn die Minderjährigen noch nicht ganz auf dem Grund des Brunnens angekommen sind, auch für den Zweck der Prophylaxe zu nutzen, was offenkundig nachhaltig ist, wenn man es so macht, wie es mit diesem Manual vorgeschlagen wird und erprobt ist. Dabei muss man den Alkohol nicht dämonisieren noch die Fahne heilbringender Abstinenz setzen, darf aber durchaus Risiken benennen, weil sie den Kindern und Jugendlichen selbst bekannt sein dürften – wozu „ein erhöhtes Risiko“ gehört, „Gewalthandlungen zu erfahren“, „Konflikte mit der Polizei“, bei Mädchen „Traumatisierungen durch Vergewaltigungserlebnisse“ oder überhaupt „Opfer ungewollter sexueller Handlungen“. Das Risiko rauschtrinkender Mädchen ist 3-fach erhöht.

Doch auch angesichts dieser und anderer Risiken darf nicht vergessen werden, dass „episodisches Rauschtrinken Ausdruck sozialen Protests sein (…) und eine gewollte Normverletzung darstellen“ kann. „Es kann die Funktion der Individuation von den Eltern erfüllen, oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Peergroup Ausdruck verleihen“. (S. 7 f.) Auch darum ist es wichtig, dass der Berater, die Beraterin der Sichtweise des Jugendlichen „wertfrei begegnet“ und – erst einmal – „anerkennt.“ (S. 32)

Fazit

Wer eine knappe und zugleich informative Einführung in ganz allgemein die Thematik riskanten Alkoholkonsums bei Jugendlichen sucht, ist mit diesem Manual gut beraten, dessen Anspruch allerdings weiter gesteckt ist, nämlich eine praxisnahe Handreichung für Intervention zu sein, welche die Jugendlichen auch zur Selbsthilfe anleitet. Dabei ist die ‚empathische und wertschätzende therapeutische Grundhaltung‘ nicht nur Worthülse, sondern tragende Säule, was diese Arbeit auszeichnet. Zu empfehlen ist diese Schrift SozialarbeiterInnen und -pädagogInnen, ErziehungwissenschaftlerInnen und nicht zuletzt ÄrztInnen, aber auch interessierte Laien werden gut verständlich informiert und ggf. in ihrem Umgang mit gefährdeten Jugendlichen angeleitet.

Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 02.02.2017 zu: Silke Diestelkamp, Rainer Thomasius: Riskanter Alkoholkonsum bei Jugendlichen. Manual zur Durchführung einer motivierenden Kurzintervention. Springer (Berlin) 2016. ISBN 978-3-662-49314-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22031.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.


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