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David Zimmermann: Traumapädagogik in der Schule

Rezensiert von Mag.a Barbara Neudecker, 30.06.2017

Cover David Zimmermann: Traumapädagogik in der Schule ISBN 978-3-8379-2585-2

David Zimmermann: Traumapädagogik in der Schule. Pädagogische Beziehungen mit schwer belasteten Kindern und Jugendlichen. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2016. 200 Seiten. ISBN 978-3-8379-2585-2. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.
Reihe: Psychoanalytische Pädagogik.

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Thema

Traumatisierte und schwer belastete Kinder und Jugendliche stellen eine Herausforderung an pädagogische Fachkräfte in unterschiedlichen Handlungsfeldern dar. Traumapädagogische Publikationen beschäftigen sich oft mit der Frage, wie diese Kinder und Jugendlichen in Einrichtungen der Jugendhilfe gut betreut werden können, aber selten mit dem schulischen Bereich und den Kompetenzen, die Lehrkräfte für ihre Arbeit mit schwer belasteten Kindern benötigen.

Autor

David Zimmermann ist Professor am Institut für Rehabilitationswissenschaften an der Humboldt-Universität in Berlin und leitet dort die Abteilung „Pädagogik bei psychosozialen Beeinträchtigungen“. Zuvor war er an der Leibniz Universität Hannover tätig. Darüber hinaus ist er Mitbegründer des Berliner Instituts für Traumapädagogik.

Aufbau und Inhalt

Zu Beginn des Buches wird aufzeigt, in welch komplexen Kontext die Arbeit mit beziehungstraumatisierten Kindern und Jugendlichen in der Schule eingebettet ist. Dabei wird ein weiter Bogen gespannt von schulischen Rahmenbedingungen, sozialer Benachteiligung von Kindern und ihren Familien über die gegenwärtig zu beobachtende Tendenz zur Optimierung von Kindheit und der Zunahme psychiatrischer Diagnosen im Kindes- und Jugendalter bis zu Aspekten der Professionalisierung pädagogischer Fachkräfte. Pädagogische Institutionen und vor allem die Schule müssen einem sich verändernden gesellschaftlichen Auftrag gerecht werden und zunehmend auch korrektive Erfahrungen für Kinder und Jugendliche übernehmen, die zuhause nicht oder nicht ausreichend möglich sind. Dabei stellt der Umgang mit sozial-emotional belasteten Kindern hohe Anforderungen an Lehrkräfte. Sie für diese Arbeit, wie es häufig propagiert wird, durch Vermittlung von Fachwissen und Handlungskonzepten qualifizieren zu wollen, greift zu kurz: „Die Voraussetzung für tatsächliche Bildungs- und Entwicklungsarbeit aber ist das Verstehen und die (trauma-)pädagogische Haltung, die in der derzeitigen Ausbildung von Sozialpädagoginnen und -pädagogen sowie von Lehrkräften eher randständig behandelt werden (.).“ (S. 11) Die Betonung der Bedeutung von Beziehungsarbeit und Reflexiver Pädagogik durchzieht die Arbeit wie ein roter Faden.

Im zweiten Abschnitt wird der pädagogische Zugang zu beziehungstraumatisierten Kindern in den Blick genommen. Zimmermann verweist darauf, dass es für ein angemessenes pädagogisches Verständnis dieser Kinder zum einen notwendig ist, ihre äußeren Lebensbedingungen zu verstehen und zum anderen das innere Erleben der Kinder, das in ihrem Verhalten zum Ausdruck kommt. Pädagogische Arbeit ist dabei stets als Konfrontation mit fremden Erfahrungs- und Erlebenswelten zu verstehen. Kinder mit sozial-emotionalen Beeinträchtigungen werden je nach professionellem Zugang mit unterschiedlichen Terminologien belegt, in Zusammenhang mit schulischer Inklusion werden sie aber insgesamt politisch und medial zu wenig berücksichtigt, obwohl die Zahl der Kinder mit Förderschwerpunkt emotional-sozialer Entwicklung steigt. Es lässt sich kein gemeinsames pädagogisches Verständnis dieser Kinder ausmachen, und in der Praxis dominieren verhaltensmodifikatorische Ansätze, die aber die Individualität der Kinder ausblenden. Das Bedürfnis zu regulieren und zu disziplinieren lässt sich als Reaktion auf unerträgliche Beziehungsdynamiken mit diesen Kindern verstehen. Die Psychoanalytische Pädagogik hat in der Betrachtung schwer belasteter Kinder mit der Traumapädagogik gemein, dass in ihren Erklärungsmodellen auch die sozialen Rahmenbedingungen und Organisationsstrukturen berücksichtigt werden und dass Professionalisierung als kontinuierlicher Entwicklungsprozess von Fachkräften, der Beziehungs- und Selbstreflexion fördert, zu verstehen ist.

Im dritten Kapitel folgt eine kritische Auseinandersetzung mit gängigen Ansätzen der Traumapädagogik, bei denen u.a. häufig festzustellen ist, dass eine explizit pädagogische Perspektive fehlt. Diese versucht die Psychoanalytische Pädagogik in der Beschäftigung mit traumatisierten Kindern dadurch zu erreichen, dass sie pädagogische Beziehungsprozesse in den Mittelpunkt rückt und „Trauma“ damit als (Zer-)Störung innerer und äußerer Beziehungen versteht. Zimmermann greift das Konzept der sequentiellen Traumatisierung auf und beschreibt damit, wie die Häufung und Wiederholung von Ausschlüssen und Beziehungsabbrüchen für Heranwachsende in pädagogischen Kontexten häufig traumatisches Potential erhält.

Im vierten und fünften Kapitel wird ein traumapädagogisches Forschungsprojekt der Leibniz Universität Hannover vorgestellt, in dem mittels qualitativer Interviews mit pädagogischen Fachkräften und Beobachtungen in den Schulen dazu geforscht wurde, wie sich traumatische Erfahrungs- und Erlebensmuster in der pädagogischen Interaktion und in institutionalisierten Handlungsabläufen reinszenieren. Detailliert wird nachgezeichnet, wie Lehrkräfte über beziehungstraumatisierte Kinder berichten, wie diese Schilderungen Aufschlüsse über das innere Erleben der Pädagoginnen und Pädagogen geben und wie dies in Verbindung mit dem Material aus den Beobachtungen hilft, die Beziehungsdynamik zwischen den Kindern und ihrer pädagogischen Umwelt und damit verbundene Abwehrmechanismen zu verstehen. Vier „Interaktionsgeschichten“ werden erzählt und zentrale Themenfelder dieser Geschichten herausgearbeitet. Die befragten Lehrkräfte arbeiten in Grundschulen und Schulen mit dem Förderschwerpunkt soziale und emotionale Entwicklung.

Im 6. Kapitel werden fallübergreifende Themenfelder dargestellt (z.B. „Bedrohliche Beziehungsgestaltung und Nicht-Integrierbarkeit traumatischer Erfahrung“ oder „Emotionale Belastung als Bedingungsfeld von Grenzverletzungen in der pädagogischen Interaktion“).

Der letzte Abschnitt behandelt die Evaluierung eines Teilbereichs des Forschungsprojekts, für den Kurzfortbildungen für Lehrkräfte angeboten wurden. Untersucht wurde, ob diese traumafokussierten Fortbildungen zu beobachtbaren Veränderungen der Haltungen und Verhaltensweisen der Teilnehmenden führten und ob die Lehrkräfte sich dadurch im Umgang mit traumatisierten Heranwachsenden als selbstwirksamer erlebten.

Diskussion

Das Buch hebt sich von anderen traumapädagogischen Veröffentlichungen ab, indem nicht darauf abgezielt wird, das Verhalten traumatisierter Kinder und Jugendlicher mit theoretischen Erklärungsmodellen zu begründen, um darauf aufbauend praxisnahe Handlungskonzepte zu präsentieren. Vielmehr wird anhand der Interaktionsgeschichten deutlich gemacht, dass pädagogische Beziehungen aus einer Vielzahl kleiner Interaktionen bestehen, die dafür ausschlaggebend sind, ob diese Beziehung vom Kind als hilfreich oder als belastend bzw. erneut traumatisierend erlebt wird. Es ist bedrückend, festzustellen, dass auch engagierte Pädagoginnen und Pädagogen nicht davor gefeit sind, in Interaktionsdynamiken einzusteigen, die Kinder in ihren früheren negativen Beziehungserfahrungen zusätzlich bestärken, statt sie zu korrigieren. Es kommt zu verschiedenen Formen der Reinszenierung und der inneren Abwehr bei den Lehrkräften: Grenzüberschreitungen, Beziehungsabbrüche, Abspaltung von Emotionen, strafende und ausgrenzende Impulse u.v.m.

Es ist einerseits Verdienst dieses Buches, den Blick für die Bedeutung von alltäglichen Interaktionen zu schärfen, denn dieser Blick geht oft verloren, wenn man sich bemüht, spezifisch traumapädagogische Konzepte in der Praxis anzuwenden. Andererseits könnte dies auch zu Verunsicherung bei manchen Leserinnen und Lesern führen: Da die Verbesserung der Fähigkeit, die Beziehungsgestaltung zu Schülerinnen und Schülern im pädagogischen Umgang und den eigenen Anteil daran genau zu reflektieren und Interventionen darauf abzustimmen nicht durch ein Handbuch, sondern nur durch einen persönlichen Entwicklungsprozess ermöglicht werden kann, erhöht die Lektüre des Buches zwar das Problembewusstsein, es kann – und will es vermutlich auch nicht – aber keine raschen Lösungsvorschläge anbieten.

All dies unterstreicht die Forderung des Autors nach der Förderung von reflexiver Kompetenz und Beziehungsarbeit im schulischen Bereich.

So aufschlussreich die tiefenhermeneutische Interpretation der Interviews, durch die auch die Auswertung latenten Sinngehalts ermöglicht wird, ist, so wären doch einige Anmerkungen dazu hilfreich, wie mit der Veröffentlichung des Interviewmaterials vom Forschungsteam in Hinblick auf die interviewten Personen umgegangen wurde. Man gewinnt den Eindruck, dass den befragten Personen möglicherweise nicht immer bewusst war, welche Aspekte des Gesprächsmaterials auf welche Weise zur Auswertung herangezogen werden, sodass sie sich durch die Interpretation des Materials und die Veröffentlichung dieser Überlegungen auch bloßgestellt fühlen könnten. Gerade beim Thema Traumatisierung ist es für LeserInnen wichtig zu wissen, welche Vorkehrungen vom Forscherteam getroffen wurden, um einen achtsamen, Grenzen respektierenden Umgang auch im Forschungsprozess wahren zu können.

Fazit

„Traumapädagogik in der Schule“ schließt eine Lücke im bestehenden traumapädagogischen Angebot, indem der Fokus nicht auf die Vermittlung handlungsleitender Konzepte gelegt, sondern die pädagogische Interaktion in den Blick genommen wird und pädagogische Fachkräfte dafür sensibilisiert werden, welche Beziehungserfahrungen traumatisierte Kinder kontinuierlich im pädagogischen Alltag mit ihren Pädagoginnen und Pädagogen machen, die ausschlaggebend dafür sind, ob diese Beziehung für ein Kind förderlich oder retraumatisierend ist. Es ist zu hoffen, dass die Erkenntnisse dieses Buches Eingang in den traumapädagogischen Diskurs finden werden und diesen ergänzen.

Rezension von
Mag.a Barbara Neudecker
MA, Psychotherapeutin (IP) und psychoanalytisch-pädagogische Erziehungsberaterin, Leiterin der Fachstelle für Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche in Wien, Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Innsbruck, eigene Praxis
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Es gibt 19 Rezensionen von Barbara Neudecker.

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Zitiervorschlag
Barbara Neudecker. Rezension vom 30.06.2017 zu: David Zimmermann: Traumapädagogik in der Schule. Pädagogische Beziehungen mit schwer belasteten Kindern und Jugendlichen. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2016. ISBN 978-3-8379-2585-2. Reihe: Psychoanalytische Pädagogik. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22037.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.


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