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Dirk Beckedorf, Franz Müller: Von der Resonanz zur Bindung

Rezensiert von Prof.em Dr. Alexa Köhler-Offierski, 11.04.2017

Cover Dirk Beckedorf, Franz Müller: Von der Resonanz zur Bindung ISBN 978-3-8379-2616-3

Dirk Beckedorf, Franz Müller: Von der Resonanz zur Bindung. Förderung von Wahrnehmung und Bindung durch die Systemische Hörtherapie. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2016. 321 Seiten. ISBN 978-3-8379-2616-3. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.

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Thema

Der Begriff Resonanz kommt aus der Akustik und meint ein verstärktes Mitschwingen eines schwingungsfähigen Systems durch die Einwirkung periodisch wirkender Kräfte. Der Soziologe Hartmut Rosa hat in letzter Zeit den Begriff Resonanz auf die Bedeutung für gelingendes Leben hin untersucht und weist darauf hin, dass schwingungsfähige Körper miteinander in Beziehung treten. Er hält Resonanz für ein menschliches Grundbedürfnis und eine Grundfähigkeit.

Die Bindungstheorie hat die Bedeutung der Bindungserfahrungen (wenn man so will: die Resonanzerfahrungen) in der Beziehungsgestaltung zwischen Kind und Bezugspersonen hinlänglich untersucht auch im Hinblick auf die lebenslangen Auswirkungen (Vgl. Howe 2015, Bindung über die Lebensspanne).

Im Mittelpunkt der Veröffentlichung aber steht die „systemische Hörtherapie“, die von dem französischen Hals-Nasen-Ohren-Arzt Alfred Tomatis entwickelt und von den beiden Autoren übernommen, in neuen Anwendungsbereichen (Kindertherapie, Kommunikationstraining) erprobt und weiter entwickelt wurde. Hieraus ist die vorliegende Publikation erwachsen. Insofern behandelt das Buch einen mehrfach miteinander verknüpften somato-psychischen Zusammenhang.

Autoren

Dirk Beckedorf ist Internist und Psychotherapeut, Franz Müller hat Psychologie und Theologie jeweils mit einem Diplom abgeschlossen, ist aber auch Elektrotechniker, was im Hinblick auf die eingesetzte Technik bedeutsam ist. Beide arbeiten in eigener Praxis und in einem Weiterbildungsinstitut.

Aufbau

    Teil I ist überschrieben „Resonanz und Bindung“ und umfasst die Kapitel

  1. Zur Entwicklungsgeschichte des Hörsinns
  2. Resonanz und Spiegelneurone
  3. Resonanz, Autonomes Nervensystem und Systemische Hörtherapie
  4. Resonanz im Mutterleib
  5. Bindung vor und nach der Geburt
  6. Teil II „Die systemische Hörtherapie“ umfasst die Kapitel

  7. Die Geschichte der Systemischen Hörtherapie
  8. Der bindungsfördernde Ansatz der Systemischen Hörtherapie
  9. Beispiele aus der Praxis der Systemischen Hörtherapie
  10. Hören! Summen! Stille!
  11. Teil III „Methodologische Vertiefung“ gliedert sich in

  12. Das Hörprofil
  13. Das „Elektronische Ohr“ und seine Wirkung auf die Systeme des Menschen
  14. Integration der Vielfalt in der Systemischen Hörtherapie: Das Balancemodell

Ein Geleitwort leitet das Buch ein, im Anhang finden sich Indikationen, eine Zusammenfassung der Auswertung der Hörprofile von 60 Kindern im Verlauf der Systemischen Hörtherapie, 28 Seiten Anmerkungen, Literatur, Adressen und Links.

Inhalt

Wie bereits aus dem Aufbau deutlich wird, geht es um die Darstellung der „systemischen Hörtherapie“ und ihrer fachlichen Begründung, indem sie mit verschiedenen Erkenntnissen anderer Gebiete in Verbindung gebracht wird. Ausgangspunkt von Tomatis war die Beobachtung, dass Stimmstörungen z.B. bei Sängern durch Hörprobleme entstehen konnten, da „ein Regelkreis zwischen Ohr und Stimme besteht“ (S.109). Hören ist verkoppelt mit Wahrnehmung und Aufmerksamkeit sowie körperlicher Spannung.

Das Vorgehen besteht aus einer diagnostischen Phase mit Erstuntersuchung einschließlich Erstellung eines Hörprofils und Beobachtung des Kindes im freien Spiel, ergänzt durch Anamneseerhebung, weitere Testverfahren wie Familienzeichnung, Lateralitätstests u.a. Der Therapieplan werde individuell erstellt und umfasst mehrere Hörabschnitte à 12 bis 8 Tagen, zwischen denen jeweils Pausen von anfänglich 4 – 6, später 6 – 10 Wochen liegen. Die einzelnen Sitzungen sind mehrstündig und finden teils als Einzel- teils als Kleingruppensitzungen statt.

Methodisch eingesetzt werden

  • ausgewählte Musik von Mozart, auch Gregorianische Gesänge
  • eine Aufnahme der Stimme seiner Mutter.

Variationen werden über das „digitale elektronische Ohr“ mittels der Klangwippe, die jeweils bestimmte Frequenzbereiche filtert, sowie der Darbietung über Knochenleiter und Kopfhörer vermittelt, so dass verschiedene Sinneskanäle (Hören, Vibrationssinn, Tastsinn) angesprochen werden. Das „elektronische Ohr“ stellt das „Therapie- und Trainingsgerät“ dar, mit dessen Einsatz das Gehör konditioniert wird (S. 219).

Die Weiterentwicklung der Methode nach Tomatis sehen die beiden Autoren in der Gestaltung der therapeutischen Beziehung als Entwicklungsbegleitung. „Dies erreichen wir einerseits durch eine Verbesserung der Wahrnehmungsfähigkeit durch auditive Stimulation und andererseits durch eine Förderung der Beziehungsfähigkeit in der Begleitung der Patienten. Dabei sind sowohl das äußere Bindungsmuster als auch die innerseelische Verankerung dieser Bindungsmuster angesprochen. Da wir vor allem mit der Mutterstimme auch frühkindliche Erfahrungen stimulieren, schaffen wir eine Umgebung, in der diese Erfahrungen in einem guten Rahmen aufgefangen, gefördert und begleitet werden.“ (S. 115)

Was sind die Grundlagen, um den Ansatz der „systemischen Hörtherapie“ nachvollziehen zu können? Hierzu dienen die einleitenden Kapitel zur Entwicklung des Hörsinns einschließlich der anatomischen Strukturen, der Verknüpfung mit dem vegetativen oder autonomen Nervensystem und der Bedeutung der Spiegelneurone. Für deren Entwicklung sind die Austauschprozesse mit den Eltern bedeutsam, sozusagen Resonanzerfahrungen. Diese erfolgen auch über das Hören. So nimmt das Kind bereits vorgeburtlich die Stimme der Mutter – allerdings modifiziert durch die intrauterine Situation – wahr. Im weiteren Verlauf skizzieren die Autoren die Selbstentwicklung nach Daniel Stern und ordnen dieser bestimmte Musiken zu, z.B. entspreche die Phase des subjektiven Selbstempfindens dem musikalischen Dialog, wie er bei Mozarts Klavier- und Violinkonzerten zwischen Soloinstrument und Orchester erlebbar sei. Die angesprochenen Inhalte werden in weiteren Kapiteln vertieft, z.B. Hörsinn in Kap. 1-2 und erneut in Kap. 4, welches besonders auf die pränatale Stimmung und Kommunikation eingeht. Die vielfältigen Resonanzerfahrungen -Spiegelneurone, gemeinsames Schwingen der Knochenvibrationen im Mutterleib von Embryo und Mutter, im gemeinsamen psychischen Erleben – verbinden sich über drei Schlüsselmerkmale mit der Bindungsbeziehung: der Suche nach Nähe zu einer bevorzugten Person, der Bedeutung der „sicheren Basis“ und dem Protest gegen Trennung (Vgl. S. 70f und S. 99).

Dasselbe Muster – Überblick und dann vertiefende Darstellung – findet sich auch in Bezug auf das methodische Vorgehen, welches dann durch einige Hörtherapieverläufe illustriert wird. Im dritten Teil werden Hörprofil sowie das „elektronische Ohr“ mit der bereits erwähnten Klangwippe, der Darstellung der Filtersysteme und weiterer Aspekte erläutert.

Diskussion

Es ist besonderes Anliegen der beiden Autoren, die Bedeutung des Hörens in seinen verschiedenen Verbindungen sowohl embryologisch, entwicklungsphysiologisch wie -psychologisch verständlich zu machen und dafür zu werben, diesen Sinn auch für therapeutisches Arbeiten zu nutzen. Dies wird einerseits angestrebt durch Fallbeispiele sowie die Darstellung der Auswertungen von sich verändernden Hörprofilen in Rahmen der Behandlung von Kindern, andererseits durch die theoretische Fundierung in der Verknüpfung des Hörens (und des Gleichgewichtsinns), seiner Anatomie und Physiologie, mit etablierten psychodynamischen Theorienansätzen, insbesondere der Bindungstheorie.

Die Autoren sehen den Menschen in Systeme eingebunden bzw. sich aus Systemen aufbauend, daher auch die Bezeichnung „systemisch“, ohne dass der Systembegriff theoretisch geklärt ist. Ebenso scheinen verschiedene psychotherapeutische Ansätze zum Einsatz zu kommen, ohne dass ihre jeweilige Herkunft und Begründung ausgeführt werden. Dadurch besteht ein Ungleichgewicht zwischen der Qualität der körperlichen Aspekte und dem diagnostischen Vorgehen und der Darstellung des therapeutischen Vorgehens, welches abgesehen von dem Einsatz des „elektronischen Ohrs“, individuell gestaltet zu sein scheint. Die Falldarstellungen weisen aber darauf hin, dass eine rein „mechanistische“ Beschallung wahrscheinlich nicht ausreichen würde, positive Wirkungen in dem geschilderten Ausmaß z.B. auf die Bindung zu erzeugen.

Fazit

Sicherlich berechtigt ist das Anliegen, die Bedeutung des Hörens sowohl leiblich wie interpersonell stärker bewusst zu machen, in einer Welt, die zum Teil wenig achtsam damit umgeht.

Wer etwas über das Hören und seine Entwicklung lernen will, erhält vielfältige Anregungen. Des Weiteren bieten die Autoren einen Einblick in die Hörtherapie. Die psychotherapeutischen Anteile einschließlich des Systemverständnisses bedürfen deutlich weiterer Klärung. Eine Anerkennung des Verfahrens im Rahmen psychotherapeutischer Leistungen, die durch die Krankenkassen zu finanzieren sind, liegt nicht vor.

Rezension von
Prof.em Dr. Alexa Köhler-Offierski
Seniorprofessorin Evangelische Hochschule Darmstadt

Es gibt 26 Rezensionen von Alexa Köhler-Offierski.

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ISSN 2190-9245