Heidi Sack: Moderne Jugend vor Gericht
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 30.03.2017
Heidi Sack: Moderne Jugend vor Gericht. Sensationsprozesse, "Sexualtragödien" und die Krise der Jugend in der Weimarer Republik. transcript (Bielefeld) 2016. 486 Seiten. ISBN 978-3-8376-3690-1. D: 39,99 EUR, A: 41,20 EUR, CH: 48,70 sFr.
Thema
Der aufsehenerregende Mordprozess der „Steglitzer Schülertragödie“ von 1927/28 stellte die Situation Jugendlicher in der Weimarer Republik in den öffentlichen Fokus und hielt sich lange in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. In ihrer mikrogeschichtlichen Studie nutzt Heidi Sack dieses Geschehen als Brennglas für größere Debatten der Zeit und zeigt auf, dass am Beispiel der angeklagten Jugendlichen letztlich erbittert und kontrovers über die Moderne verhandelt wurde. Die Studie bietet einen wertvollen Beitrag zur neueren Kulturgeschichte und erlaubt besondere Einblicke in eine Epoche der Deutschen Geschichte, die allgemein als gründlich erforscht gilt. Die Studie wurde von der Universität Düsseldorf als Dissertation angenommen.
Autorin
Heidi Sack (Dr. phil.) arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neueste Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit Schwerpunkten in der Neuen Kulturgeschichte und der Historischen Kriminalitätsforschung. Sie ist langjährige Mitarbeiterin der Düsseldorfer Mahn- und Gedenkstätte.
Aufbau
Die Studie bietet neben einem Einleitungskapitel, in dem der Forschungsstand, methodische Überlegungen, Quellengrundlagen und der Aufbau des Forschungsvorhabens dargestellt werden, ein Kapitel zum allgemeinen Jugendbegriff und dem Diskurs um Jugend in der Weimarer Zeit, sowie drei Kapitel zum Tatgeschehen des als „Steglitzer Schülertragödie“ verhandelten Kriminalfalls aus dem Jahr 1927, in denen Personal- und Tataspekte, das Strafverfahren, dessen mediale Aufarbeitung, die sexualkriminalistischen Hintergründe des Delikts und die besondere Situation Jugendlicher in Gerichtsprozessen dargestellt und untersucht werden. In einem abschließenden Kapitel zieht Heidi Sack ein Fazit und gibt einen Ausblick der auch die Bedeutung der erhobenen Analysen für die weitere Diskussion beinhaltet.
Inhalt
Einleitung. Das Kapitel führt in die zentralen Begriffe der Studie ein. Es geht auf die Begriffe Jugend im Verständnis der untersuchten Epoche, Generation und Generationenkonflikt ein und stellt die zeitgenössische Definition von moderner Jugend, Krise, sowie Krise der modernen Jugend vor. Die Kernaussagen dieses Kapitels beziehen sich auf den besonderen Umgang der Gesellschaft der Weimarer Zeit zum Jugendbegriff, dessen Erhöhung zum „Mythos Jugend“. Die Überhöhung des Jugendbegriffs, die mit ihm verknüpften Erwartungen und Zuschreibungen erscheinen in der Analyse Heidi Sacks eher als Zuschreibung (der Gesellschaft, des Staates) an diese Gruppe, denn als Ausdruck deren realer Beschaffenheit. Als Hintergrund für dieses Zuschreibungsphänomen benennt die Autorin die strukturellen Wandlungsprozesse der damaligen Gesellschaft, welche keine ausreichende Sicherheit für ihre Bürger aus sich heraus formulieren oder darstellen konnte, sondern diese als Aufgabe, Chance und Möglichkeit für die nächste Generation postulierte, oder forderte. „Am Beispiel der Jugend kann die Gesellschaft ihre Krisen und Brüche thematisieren, sich über sich selbst und über notwendige Veränderungen Rechenschaft ablegen und hat mir ihr sogleich einen Adressaten dafür. Indem eigene Probleme, aber auch gesellschaftliche Schieflagen auf die Jugend projiziert werden, erschienen diese greifbarer und leichter zu bewältigen“ (119). In Phasen gesellschaftlicher Umbruchsituationen (Moderne – Postmoderne; Weimarer Zeit – Nationalsozialismus) treten solche Diskurs- und Zuschreibungsprozesse besonders deutlich hervor.
Verhandelt – Täter und Tat. Das Kapitel stellt den Tathergang und die Verhandlung der „Steglitzer Schülertragödie“ vor Gericht vor und benennt die Protagonisten, um darauf aufbauend in den folgenden Kapiteln konkrete Aspekte des Verfahrens analysieren zu können. Ausführlich stellt Heidi Sack hier die Gruppe von befreundeten Jugendlichen vor, in dessen Kreis es zum Mord an einem 18jährigen Jungen und daraufhin zum Suizid des 19jährigen Täters gekommen war. Der Freundeskreis zeichnet sich einerseits durch langjährige Bekanntschaft, jugendtypisches Explorationsverhalten und ethisch-moralisches Suchverhalten aus, in dessen Dynamik schließlich die Straftat und der Suizid entwickelt sind.
Der „Sensationsprozess“ von Moabit. In diesem Kapitel konzentriert Heidi Sack die Frage darauf, warum der folgende Gerichtsprozess zu einem Sensationsprozess der Weimarer Zeit werden konnte. Die Historikerin benennt dazu die besonderen Tatumstände, das jugendliche Alter der Protagonisten, die zeitgenössischen Normen und (in der Tat, aber auch in der Gesellschaft) liegenden Normbrüche, relevante Diskurse und Interessenslagen, sowie die Art, Struktur und Dynamik der damaligen gerichtlichen Phänomene (Prozessgeschehen, -dynamik, Stellung der Justiz) und die Rolle der Presse (als Agent und Produzent von Sensation).
Der Strafprozess als „Sexualtragödie“. Im sich anschließenden Kapitel konzentriert sich die Autorin auf ein zentrales Merkmal des Steglitzer Prozesses, die Transformation eines Verfahrens wegen Mordes hin zu einem Sittlichkeitsprozess. Heidi Sack fokussiert hier insbesondere auf die Bedingungen des Strafgerichtsverfahrens und die Dynamik „im Gerichtssaal“. Sack bezieht hier andere „Sexualprozesse“ in ihre Analysen ein und zeigt einerseits, dass das Liebes- und Sexualleben der Weimarer Jugend eine -in der Öffentlichkeit kaum wahrnehmbare- Eigendynamik besaß, andererseits genau diese Dynamik von besonderem Interesse für die Öffentlichkeit war, die entsprechenden Gerichtsverfahren als „Enthüllungsprozesse“ gestaltet waren und durch die Berichterstattung in den Medien transportiert wurden (und ihre Abnehmer fanden). In diesen Prozessen zeigen sich dabei das zeitgenössische Frauenbild, geltende Moral- und Machtvorstellungen, der Umgang mit (realen oder vermeintlichen) Randgruppen (Homosexualität). Insgesamt offenbart sich in den untersuchten Prozessen eine Diskrepanz zwischen (gesellschaftlichem) Ideal und (individueller) Realität, das hier auf der Ebene jugendlichen Fehlverhaltens verhandelt und inszeniert wird und so als Projektionsfläche für die Abspaltung gesellschaftlicher Widersprüche genutzt wird.
Jugend vor Gericht. Bevor die Autorin im abschließenden Kapitel Fazit und Ausblick formuliert, wird in diesem Abschnitt zusammenfassend die Behandlung Jugendlicher vor Gericht betrachtet und schwerpunktmäßig nach der Bedeutung von Moral für dieses hier untersuchte Verfahren und den daraus resultierenden Folgen gefragt. Dabei geht Heidi Sack auf die Rolle der beteiligten Gutachter ein und benennt schließlich die soziale Rahmung des aktuellen Gerichtsverfahrens (Weimarer Gesellschaft) und ihre Diskurse (Moderne, Jugend) und dessen Wirkung auf die justizielle Einschätzung. Deutlich wird hier, dass die besonderen Tatumstände und die soziale Gruppe, innerhalb der die Tat(en) stattgefunden haben ein deutliches Ausmaß an Unreife und allgemeinen Verhaltensauffälligkeiten (Beziehungsgestaltung, sexuelles Orientierungsverhalten, Alkoholkonsum) aufweisen, was einerseits als Besonderheit der beteiligten Akteure eingeschätzt wurde (und als „moralisches Fehlverhalten“ kritisiert wurde), andererseits als allgemeines Zustandsbild heranwachsender Straftäter identifiziert werden konnte, in dessen Gefolge es u. a. zu einer Anhebung der Altersgrenze im Jugendgerichtsgesetzt gekommen ist.
Fazit und Ausblick. „Der … Prozess qualifizierte sich in verschiedener Hinsicht als Jugendprozess, dessen Besonderheit weit über die Tatsache hinausging, dass hier junge Menschen vor Gericht standen. [Er] gestattete … Einblicke in verschiedene Lebensbereiche, wie etwa Alkohol- und Nikotinkonsum, eine veränderte Sexualmoral oder ein verändertes Wesen der Jugend insgesamt und offenbarte schließlich unübersehbare Indizien eines Generationenkonflikts“ (425). Die Autorin stellt hier noch einmal dar, dass sich an diesem Gerichtsverfahren die Struktur(probleme) der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegeln, u. a. die Tatsache, dass die Protagonisten des Falls dem bürgerlichen Milieu entstammen deutet darauf hin, dass sich breite Bevölkerungsschichten in einem Wandel hinsichtlich moralisch-normativer Grundlagen befanden. Dieser Umstand sei im Kontext der damaligen Zeit, v. a. durch konservative Kreise als „Vorbotin eines gesellschaftlichen Niedergangs“ (433) gedeutet, als Jugendphänomen (das mit der gesellschaftlichen Erwachsenenwelt gebrochen habe) identifiziert und entsprechend instrumentalisiert worden. Liberalere Gesellschaftskreise hingegen hätten eher eine „neue Jugend“ wahrgenommen, die sich von überkommenen Idealen gelöst und von der Gesellschaft entfremdet hätte. „Kritische Beobachter konnten in ihnen den Verfall der Jugend und ihre Krise bestätigt sehen, aufgeschlossene Zeitgenossen hingegen eine neue, moderne Jugend, die selbstbewusst einen eigenen Lebensstil auslebte“ (441). Letztlich, so der Ausblick der Autorin, zeigt sich in dem von ihr untersuchten Gerichtsfall eine Gesellschaft im Übergang, die (noch) nicht ganz in der Moderne angekommen war und die (gerichtliche) Betrachtung der Jugend, die Beurteilung ihrer Taten als Vehikel für die anstehende gesellschaftliche Auseinandersetzung um die eigene Entwicklung und Zielsetzung nutzte.
Zielgruppe
Die als Dissertation an der Universität Düsseldorf eingereichte Studie wendet sich an alle geschichtlich, sozialwissenschaftlich und juristisch interessierten Leser, welche aus der Kenntnis einer einzelfallbezogenen mikrogeschichtlichen Analyse ein vertieftes Verständnis zur Entwicklung unserer Gesellschaft und ihrer Justiz entwickeln möchten
Diskussion
Historische Analysen, geschichtswissenschaftliche Forschung erlaubt, wenn sie gelingt, einen tieferen Einblick und ein tieferes Verständnis in Bezug auf historische Vorgänge. Das zur Verfügung stehende Material sind Datenbestände und die publizierte öffentliche Meinung. Beides hat Heidi Sack in ihrer Studie herangezogen, nicht nur, um die Vorgänge um einen Sensationsprozess in der Weimarer Zeit zu erhellen, sondern den Bezug zu gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Vorgängen herstellen zu können und die Wechselwirkung zwischen Einzelfall und Gesellschaft zu verdeutlichen. Dafür hat die Autorin tief gegraben und Datenbestände aus dem Landesarchiv Berlin, dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, den Bundesarchiven in Berlin und Koblenz, dem Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, dem Staatsarchiv Bremen, dem Hessischen Staatsarchiv Darmstadt und einigen Spezialbibliotheken analysiert. Daneben wurden Presseveröffentlichungen in einer erstaunlichen Breite einbezogen, zeitgenössische Aufsätze, Monografien, Fachbuchpublikationen und Internetquellen genutzt. Entstanden ist eine genau und sensibel recherchierte Studie, die in ihren beiden Hauptdimensionen (Einzelfall, gesellschaftlicher Diskurs) mehr als eine geschichtswissenschaftliche Qualifikationsarbeit bietet. Die Darstellung der beteiligten Protagonisten des untersuchten Falls, die Analyse der gesellschaftlichen Debatte dazu, weisen Merkmale einer sozialwissenschaftlichen, teilweise psychologischen Untersuchung auf. Auch wenn es sich bei der veröffentlichten Studie nicht um ein interdisziplinäres Forschungsprojekt geht, versucht Heidi Sack, weitergehende Perspektiven zu integrieren. Das Ergebnis ist ein in den Einzelfacetten und im Gesamtergebnis äußerst gelungenes Werk, das deutlich macht, dass sich (moderne) Gesellschaften auch in ihrem Umgang mit abweichendem, strafbaren Verhalten, mit straffälliger Jugend darstellen und entwickeln und diese Form gesellschaftlichen Praktik als Indikator und Motor gesellschaftlicher Identität gesehen werden muss.
Fazit
Eine umfassende, genaue und sensibel gestaltete historische Studie, welche auf den aktuellen Forschungsstand, Quellengrundlagen und den Aufbau des Forschungsvorhabens hinweist, Grundlagen zum allgemeinen Jugendbegriff und den Diskurs um Jugend in der Weimarer Zeit darstellt, sowie umfassend das Tatgeschehen des als „Steglitzer Schülertragödie“ verhandelten Kriminalfalls aus dem Jahr 1927, in denen Personal- und Tataspekte, das Strafverfahren, dessen mediale Aufarbeitung, die sexualkriminalistischen Hintergründe des Delikts und die besondere Situation Jugendlicher in Gerichtsprozessen darstellt und analysiert. Die mikrogeschichtliche Studie zeigt den Zusammenhang zwischen Einzelfall und gesellschaftlicher Struktur auf und belegt, inwiefern sich Gesellschaft in ihrer Auseinandersetzung mit Jugend (hier im Rahmen eines Strafprozesses) selbst vergewissert und im Sinn einer Identitätsbildung positioniert. Ein Gewinn für alle geschichtswissenschaftlich und juristisch interessieren LeserInnen.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 177 Rezensionen von Gernot Hahn.
Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 30.03.2017 zu:
Heidi Sack: Moderne Jugend vor Gericht. Sensationsprozesse, "Sexualtragödien" und die Krise der Jugend in der Weimarer Republik. transcript
(Bielefeld) 2016.
ISBN 978-3-8376-3690-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22042.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
Urheberrecht
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