Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Sven Schwabe: Alter in Verantwortung?

Rezensiert von Prof. Kurt Witterstätter, 04.01.2017

Cover Sven Schwabe: Alter in Verantwortung? ISBN 978-3-8376-3306-1

Sven Schwabe: Alter in Verantwortung? Politisches Engagement im Ruhestand. transcript (Bielefeld) 2016. 266 Seiten. ISBN 978-3-8376-3306-1. D: 34,99 EUR, A: 36,00 EUR, CH: 42,70 sFr.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Thema

Aktives Engagement im Alter wird Senioren allenthalben angeraten. Zum Wohl der Alten selbst und der Gesellschaft als win-win-Konstellation. Ein Drittel der Altengesellschaft mag dem folgen, glaubt man den Freiwilligensurveys. Die Motivlage für solche Selbstverpflichtungen erscheint heterogen von Einsamkeitsabwehr über prosoziale Gesinnung bis zur Fortsetzung von Aktivitäten aus den mittleren Lebensjahren. Sven Schwabe hat in seiner bei transcript in Bielefeld leicht überarbeiteten Dissertation an der Universität Düsseldorf auf der Grundlage von Michel Foucaults Verhaltensregimen die Aktivierungsmotive alter Menschen in einer qualitativen Studie untersucht und das „Alter in Verantwortung?“ von den öffentlich propagierten Verpflichtungsdiskursen in Wissenschaft und Modellprogrammen abgehoben. Der Autor fand eine davon abweichende Typologie von Loyalität, Wiedergutmachung und Selbstvervollkommnung und zeigt sich am Ende skeptisch, ob die Aufrufe zur Aktivität im Alter in Zukunft bei einer stark von Altersarmut durchsetzten Generation noch ebenso viel Gefolgschaft finden werden.

Autor

Dr. phil. Sven Schwabe studierte Soziologie und Politikwissenschaften in Osnabrück und Jena und durchlief das Graduiertenkolleg „Alter(n) als kulturelle Konzeption und Praxis“ der Universität Düsseldorf.

Aufbau und Inhalt

In sieben Kapiteln geht Sven Schwabe der Aktivitäts-Motivation alter Menschen in ihrer nachberuflichen Zeit nach. Nach methodologischen Überlegungen und Schilderungen untersucht er, wie sich die persönlichen Eigenverpflichtungs-Motive älterer Menschen von den öffentlich propagierten Aktivitätsaufrufen unterscheiden.

Einleitend teilt der Autor die Absicht mit, die Wiederverpflichtungs-Motivlage qualitativ aus der individuellen Situation der Befragten zu ergründen. In seiner methodologischen Fundierung geht er von Michel Foucaults gemischten Verhaltenregimentern aus und mutmaßt öffentlich-private Koproduktionen fluider und im Zeitablauf sich ändernder Engagements. Eigensinnige Interpretationen öffentlicher Anmutungen seien ebenso zu gewärtigen wie Neu-Positionierungen der Alten-Akteure. Die trachteten danach, ihr Leben als kohärentes Ganzes zu sehen. Methodisch stützt sich der Verfasser auf transkribierte Interviews bei fünfzehn bildungsaffinen Befragten. Seine Interviewpersonen konfrontierte der Versuchsleiter hernach mit Auszügen aus dem Sechsten Altenbericht von 2010 mit der Propagierung der Altersproduktivität.

Zur Kontrastierung der erhobenen Motiv-Antworten der Befragten mit politisch propagierenden Modellprogrammen untersucht der Autor die Konzeptionen der Initiativen Seniorenbüros, Erfahrung ist Zukunft, Erfahrungswissen für Initiativen, Aktiv im Alter, Alter schafft Neues und Mehrgenerationenhäuser und resümiert hierbei eher ein öffentliches Interesse an Ressourcenvermehrung denn eine auch konfliktuöse Partizipation der Alten-Akteure. Im Ergebnis sieht der Autor eine Dreier-Typologie für die Aktiv-Selbstverpflichtung alter Menschen:

  1. Den aus dem Lebensverlauf resultierenden, loyalen, pflichterfüllten Dienst an der Allgemeinheit,
  2. die Dank-Abstattung für zuvor im Leben erhaltene Privilegien,
  3. den Wunsch nach weiterem persönlichen Wachstum und dem Zugewinn an individuellen Fertigkeiten.

In der Konfrontierung der Befragten mit den Produktivitäts-Bekundungen des Sechsten Altenberichts heben die Interviewten ihre biografischen Anstöße hervor und lehnen es ab, im Zuge der Leistungseinschränkungen des Sozialstaats als Lückenbüßer aufzutreten. Die Frage nach dem Weiterwirken von „Alter in Verantwortung?“ beantwortet die Untersuchung mit dem Überwiegen eigensinniger Motive aus den früheren Engagements der alten Menschen und mit deren Wunsch, selbst bestimmte Kompetenzen für die Allgemeinheit einzubringen. Diese Strebungen könnten mit dem Regime der Altersproduktivität für das Gemeinwohl divergieren. In postmateriellen Blickrichtungen auf Wachstumsgrenzen könnten sich ebenso Konflikte mit appellativer Politik ergeben wie in einer künftigen, zunehmenden Verarmung wesentlicher Teile der Altenpopulation, die sich dann eher um das eigene Auskommen als um das Wohl ihrer Mitmenschen zu kümmern hätten.

Diskussion

Die Dissertation Sven Schwabes zu „Alter in Verantwortung?“ leuchtet bei allen Vorbehalten zu ihrer Repräsentativität mit nur fünfzehn, von ihrem Sozialstatus weitgehend homogenen Befragten dennoch in die Tiefe der Motivlage zu weiterer Aktivität und zum politischen Engagement nach der Berentung.

Das methodische Vorgehen als Mix aus qualitativen Befragungen und Expertise aus wissenschaftlichen Veröffentlichungen und politischen Programmen ist nachvollziehbar vorgetragen. Durch vielfältige Einblendungen von Antworten aus den Befragungen liest sich die Arbeit etwas ermüdend, da viele Inhalte von verschiedenen Befragten und sogar von denselben Befragten immer wieder ähnlich wiederkehren.

Ein Teil der Auswahlpersonen ist zu seinem Engagement von Berufswegen gekommen, wie Gewerkschaftssekretäre und Religionspädagogen. Hier ist kaum von einem bemerkenswerten Neu-Engagement im Alter auszugehen. Dass Verfasser auf Seite 142 die Verknüpfung zwischen Aktivitäts-Diskurs und individueller Verantwortungsübernahme als „so vielfältig und komplex…, wie es Menschen gibt“ ansieht, macht seine Motivationstypisierung schon nahezu obsolet.

Bei der Darstellung von Bürgerschaftlichem Engagement und Kommunitarismus hätte Verfasser die natürliche Parallelität zwischen privatem Engagement und Administration in den Vereinigten Staaten nach Amitai Etzioni benennen können.

Seine Auswahl der Untersuchungspersonen unter den Geburtsjahrgängen 1938 bis 1948 charakterisiert der Autor als 1968er-Geprägte mit Infragestellung des materiell erfolgten Nachkriegs-Wiederaufbaus. Dagegen ist zu sehen, dass zumindest die älteren Interviewten bereits vor dem Jahr 1968 ihre Berufskarriere abgeschlossen hatten und somit eher Verteidiger des Erreichten als Infragesteller des Establishments waren. Insoweit scheut sich der Verfasser auch, den in der Gerontologie üblichen Begriff der Kohorte zu verwenden und rekurriert auf den Terminus Generation, der eher zur Beschreibung innerfamilialer Zusammenhänge denn zur Charakterisierung von Gruppen zeithistorisch ähnlicher Prägung dient.

Bei der Herleitung der beruflichen Entpflichtung im Alter ist der auf Seite 62 erweckte Eindruck, der Rentenzugang mit 65 Jahren sei erst mit der Rentenreform von 1957 erreicht worden, falsch. Tatsächlich wurde diese Grenze bereits 1916 markiert. Bei der Darstellung der Rentenfinanzierung über die Generationen-Umlage bleibt die Tatsache unbeachtet, dass die deutsche Rentenversicherung von ihrem Anfang im Jahre 1891 an mit erheblichen staatlichen Zuschüssen arbeitete und arbeitet.

Die Studie ist leider unzureichend lektoriert und korrigiert. Unkorrigierte Druckfehler finden sich auf Seiten 39, 41, 69, 72, 84, 104, 109, 115, 120, 129, 139, 143, 149, 157, 208, 219, 221 und 237.

Fazit

Sven Schwabes Studie umreißt die Motivlage besser gestellter alter Menschen zum nachberuflichen Engagement mit weiter wirkender Loyalität, der Abgeltung im Berufsleben erhaltener Privilegien und in der Absicht auf Wachstum persönlicher Fertigkeiten. Ausblicke auf eine Kritik am gegenwärtigen Sozialsystem wie auf eine Fortdauer des gegenwärtigen Engagements auf stärker von Altersarmut betroffenen Kohorten fallen eher negativ aus.

Rezension von
Prof. Kurt Witterstätter
Dipl.-Sozialwirt, lehrte bis zur Emeritierung 2004 Soziologie, Sozialpolitik und Gerontologie an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen - Hochschule für Sozial- und Gesundheitswesen; er betreute zwischenzeitlich den Master-Weiterbildungsstudiengang Sozialgerontologie der EFH Ludwigshafen
Mailformular

Es gibt 105 Rezensionen von Kurt Witterstätter.

Zitiervorschlag anzeigen Besprochenes Werk kaufen

Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245