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Claudia Stöckl, Karin Kicker-Frisinghelli et al. (Hrsg.): Die Gesellschaft des langen Lebens

Rezensiert von Dr. Christine Matter, 06.06.2017

Cover Claudia Stöckl, Karin Kicker-Frisinghelli et al. (Hrsg.): Die Gesellschaft des langen Lebens ISBN 978-3-8376-3426-6

Claudia Stöckl, Karin Kicker-Frisinghelli, Susanna Finker (Hrsg.): Die Gesellschaft des langen Lebens. Soziale und individuelle Herausforderungen. transcript (Bielefeld) 2016. 280 Seiten. ISBN 978-3-8376-3426-6. D: 34,99 EUR, A: 36,00 EUR, CH: 42,70 sFr.
Gesellschaft der Unterschiede, Band 35.

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Thema

Der Band befasst sich vor dem Hintergrund aktueller demografischer Entwicklungen mit den sozialen und individuellen Herausforderungen einer „alternden Gesellschaft“. Die Autorinnen und Autoren stellen sich damit in einen mittlerweile weitläufigen Diskussionszusammenhang, der sich die Erforschung damit einhergehender sozialer, ökonomischer, kultureller und politischer Fragen zur Aufgabe macht. Der Band widerspiegelt dies durch die breite Themenvielfalt der Beiträge, die von der Arbeitswelt über Bildung, Demenz, Technik, Psychoanalyse bis zu Pädagogik und Fragen des Rechts und der Altersarmut reichen. Damit verbindet sich der Anspruch, die Forschung gegenüber dieser vielfältigen Realität des Alters und des Alterns zu positionieren: „Diese Realität fordert auch die Forschung heraus, ihre (kritischen) Blickwinkel neuerlich auszurichten und sie mehr denn je und mehr als in anderen Feldern der Gesellschaft zur Diskussion und zur Verfügung zu stellen.“ (S. 9 f.)

Herausgeberinnen

Alle drei Herausgeberinnen sind an der Karl-Franzens-Universität Graz tätig. Claudia Stöckl und Karin Kicker-Frinsinghelli am Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft, Susanna Finker an der Koordinationsstelle Alter(n).

Entstehungshintergrund

Der Band ist aus einer interdisziplinären Tagung des „Forum Age/ing“ in Graz im Jahr 2015 hervorgegangen. Ziel der Tagung war es, eine Zusammenschau von verschiedenen Forschungsanstrengungen zum Alter und zum Altern zu bieten ebenso wie einen Transfer in die institutionelle und gesellschaftliche Praxis anzustreben.

Aufbau

Die Publikation gliedert sich in vier Themenbereiche:

  1. Diskurse und Paradigmen der Gesellschaft des langen Lebens
  2. Selbständigkeit im Alter – Perspektiven und Kontroversen
  3. Möglichkeiten im Alter, für das Alter und durch das Alter
  4. Diversität und Selbstbestimmung – Gefährdungen im Alter

Zum ersten Themenbereich

Den ersten Bereich, „Diskurse und Paradigmen des langen Lebens“, eröffnet Anton Amann mit seiner Idee einer kritischen Sozialgerontologie. Damit werden gleichsam die programmatischen Leitlinien für den ganzen Band gelegt. Den Kern einer Sozialgerontologie im Verständnis von Amann bildet die Kritik. In einer zumindest aus konstruktivistischer Perspektive etwas ungewöhnlichen Zuordnung des Deskriptiven zu Fragen nach dem 'Wie' (anstelle des 'Was') verschiebt Amann den Fokus auf Fragen nach dem 'Weshalb'. Nur Letztere sind gemäss Amann in der Lage, das Tor zur Kritik aufzustossen. Eine ausführlichere Definition von Kritik wird sogleich nachgereicht. Für den Autor heisst Kritik, „aufmerksam und prüfend auf alles Wissen hinzusehen, das öffentlich verbreitet und vertreten wird, heisst Einspruch erheben, wenn etwas von diesem Bezugspunkt aus als unerwünscht oder falsch erscheint“ (S. 18). Für die Wissenschaft ergeben sich daraus zwei Aufgaben: „Vom jeweils neuesten Stand des Wissens aus zu urteilen und methodisch sauber zu verfahren – dafür gilt sie ja als Wissenschaft.“ (S. 18) Mit Bezug auf gängige Altersbilder bedeutet dies etwa, jeweils zu fragen, was mit diesen Bildern kommuniziert wird. Zu leisten ist das nur, wenn der zeittypische Kontext mitbedacht wird. Eine kritische Sozialgerontologie hat gemäss Amann drei Ebenen der Kritik zu berücksichtigen: eine gesellschaftstheoretische Kritik, eine Wissenschaftskritik sowie eine Kritik an den Forschungsergebnissen. Die gesellschaftstheoretische Kritik setzt am Diskurs der Globalisierung an, welcher zu einer Politisierung und Ökonomisierung des Alters geführt habe. Alte Menschen werden in dieser Sicht hauptsächlich als (finanzielles) Risiko für die Gesellschaft wahrgenommen. Dieser Diskurs habe, so Amann in einer etwas überzogenen Schlussfolgerung, „zu einer definitiven, neuen Weltsicht geführt, die die Rahmenbedingungen für die weiteren Politiken des Alters abgeben“ (S. 22). An diese Sicht schliessen die nachfolgenden Beiträge des Bandes fast alle an. Allgemein gehalten und im Kern weitgehend bekannt sind auch die Einwände gegen die laufende Wissenschaftspraxis unter den Titeln der Wissenschaftskritik und der Kritik an den Forschungsergebnissen (als Methodologiekritik). Für das Gebiet der Methodologie lassen sich immerhin Verbesserungen insofern feststellen, als die Perspektiven, Bedürfnisse und Erwartungen etwa von Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohnern vermehrt methodisch Berücksichtigung finden.

Die anderen beiden Beiträge dieses ersten Teils befassen sich mit dem ideologischen Charakter des Active Ageing und mit Bildung im Alter.

Ausgehend von zwei in seiner Sicht konträren Positionen und Interessenlagen im Bereich des Active Ageing, „nämlich das konkrete Lebensinteresse älterer Menschen auf der einen, das gesellschaftliche Bestandserhaltungsinteresse vor dem Hintergrund kapitalistischer Wachstums- und Produktivitätszwänge und demografischem Wandel auf der anderen Seite“ (S. 30), widmet sich Andreas Stückler dem „hoch problematischen ideologischen Charakter des Active-Ageing-Konzepts und der von ihm beschworenen schönen neuen Arbeitswelt“ (S. 30). Im Rahmen einer „neoliberalen Regierungstechnik“ (S. 32), die vorerst Forderungen der Aktivierung vor allem an Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger herangetragen hat, sind nun auch die älteren Menschen vom Paradigma der Aktivierung betroffen. Dabei geht es vor allem um sozialstaatliche Umstrukturierungen, um so den Herausforderungen bei der Finanzierung von staatlichen Pensions-, Gesundheits- und Sozialsystemen zu begegnen. Teilhabe-, Inklusions- und Lebensqualitätspostulate sind dabei, auch wenn sie durchaus als Hilfe für Ältere ernst gemeint sein mögen, in erster Linie als ideologisch zu betrachten: „Primär geht es um die Instandhaltung und nachhaltige Reproduktion der kapitalistischen Verhältnisse unter politisch und ökonomisch verschärften neoliberalen Prämissen und im Angesicht einer im Zuge des demografischen Wandels schrumpfenden und zugleich ‚alternden‘ Bevölkerung.“ (S. 33). Zur Ideologie der Aktivierung, wie sie sich in der „neuen, neoliberalen ‚Denkform‘ des Alters“ (S. 35) Ausdruck verschafft, gehört sodann auch die Individualisierung des Alter(n)s als Eigenverantwortung der Älteren. Werte wie Autonomie und Selbstbestimmung werden jedoch angesichts einer von sozialen Ungleichheiten geprägten Gesellschaft problematisch. Im Active Ageing werden, so Stückler, Lebensstilkonzepte des gehobenen Mittelstandes zugrunde gelegt; das Konzept stellt eine „Privilegierung bereits Privilegierter“ (S. 38) dar. Den Kern der Ideologie des Active-Ageing-Konzepts bildet sodann die Aufwertung des Alters und die Überwindung negativer Altersbilder. Dabei wird gemäss Stückler jedoch nichts anderes erreicht, als dass die Defizitperspektive des Alters auf die hochaltrigen Pflegebedürftigen verschoben wird.

Claudia Stöckl befasst sich schliesslich mit der Bildung im Alter. Die Autorin geht vom Konzept des lebenslangen Lernens und von dessen Idee eines handelnden Selbst aus, welches für die Selbstbestimmung moderner autonomer Individuen zentral ist. Dieses Konzept blendet jedoch die Kehrseiten aus, nämlich, dass Menschen oft nicht wählen können, dass sie unmündig und abhängig sind. Insbesondere alte Menschen können vom Ideal der Selbstbestimmung überfordert sein. Stöckl setzt dem Konzept entsprechend die Idee des negativen Lernens gegenüber, welches sich sowohl auf die Dimension des Wissens oder Könnens bezieht wie auch auf Erfahrung. Die Dimension der Erfahrung ist dabei die entscheidende, insofern sich ein Wissen als nicht tragbar erweisen kann und die Person damit eine neue Erfahrung über sich selbst macht: „Negative Erfahrung ist die Erfahrung, dass wir nicht diejenigen sind, für die wir uns hielten: z.B. autonom und selbstbestimmt. In der Erfahrung des negativen Lernens werden wir selbst, wird unser Denken zum Thema und unserem Selbstverständnis wird die Selbstverständlichkeit entzogen.“ (S. 51 f.; Hervorh. i.O.) Der Aspekt des Lernens durch solche Irritationen werde bei der Idee des lebenslangen Lernens, so die Autorin, ausgeblendet. Grundsätzlich ein Thema jeder Lebensphase, erhält das negative Lernen für das Alter unter den Bedingungen von Verletzlichkeit und Fragilität eine besondere Bedeutung.

Zum zweiten Themenbereich

Die Beiträge des zweiten Bereichs befassen sich mit dem Thema „Selbständigkeit im Alter – Perspektiven und Kontroversen“. Im Gegensatz zum ersten Teil, welcher sich mit grundlegenden Diskursen und Paradigmen der gegenwärtigen Gesellschaft auseinandersetzt, werden hier konkrete Projekte vorgestellt.

Lucas Paletta et al. stellen unter dem Namen „AktivDaheim“ ein Projekt zur Förderung von Menschen mit Demenz vor, welches sich auf multimodales Training und auf intelligente Interaktion stützt. Dabei gibt der Beitrag einen Überblick über bereits bestehende kognitive Spiele und Trainingsprogramme (S. 59 ff.). Anspruch von „AktivDaheim“ ist es, „den Stand des Wissens durch den Fokus auf die integrativen Komponenten eines Multikomponenten-Trainings und die zugehörigen verschiedenen Stimulationen zu erweitern“ (S. 62). Die verschiedenen Bestandteile des Multikomponenten-Trainings beziehen sich dabei auf kognitives, bewegungsorientiertes und soziales Training. Es handelt sich um ein Assistenzsystem für angehörige Pflegende. Da die konkreten Trainingsinhalte jeweils erst gemeinsam mit den pflegewissenschaftlichen Partnern, mit Betroffenen und mit Ärzten und Trainern festgelegt werden müssen, bleibt das Projekt jenseits der vielen angeführten allgemeinen Fachausdrücke recht diffus. Entsprechend liest sich auch die knappe Conclusio: „Die Systemplattform AktivDaheim – mit Tablet-PC und Serious Game zur spielerischen Motivation, tägliche Übungen mit einem multimodalen Trainingsprogramm durchzuführen – bietet neue Möglichkeiten für nachhaltig applizierte Diagnose- und Behandlungsformen, unter kontinuierlichem Monitoring der Humanfaktoren, die für Demenzbetroffene charakteristisch sind.“ (S. 70)

Im Beitrag von Cordula Endter geht es um die Beteiligung von Nutzerinnen und Nutzern im Rahmen von Innovationsprozessen am Beispiel von altersgerechten Technologien. Im Zentrum stehen die Fragen, wie Nutzerbeteiligung „konkret in den Projekten hergestellt wird, welche Interessen damit verbunden sind und wie Alter in der Praxis der Beteiligung ko-konstruiert wird“ (S. 77) – dies unter der leitenden Annahme, dass die Beteiligung von Nutzern den Projektablauf destabilisiere. Diese Annahme findet Bestätigung, indem bei einem Nutzer beobachtet wird, wie sein Handeln in die Entwicklung von Förderprogrammen eingebunden ist und auch von Finanzierungsmodellen beeinflusst wird: „So ist es gerade der situative Kontext, der Handlungsmacht verteilt, Rollen zuweist und Entscheidungen fallen lässt.“ (S. 88) Die Autorin erkennt im Entwicklungsprozess von AAL-Technologien ein instabiles Arrangement, „das es durch die Handlungen der beteiligten Akteur*innen zu stabilisieren [gilt]. In diesem Arrangement wird Nutzer*innenbeteiligung zum Aushandlungsort von Übersetzungen und Schliessungen, die die Agency von AAL-Technologien bestimmen“ (S. 88).

Dorothea Erharter beschäftigt sich in ihrem Beitrag im Rahmen des Projekts mobi.senior.A mit dem Verhältnis von Seniorinnen und Senioren zu mobilen Geräten für die Internetnutzung. Das Projekt verfolgte das Ziel, Guidelines für App-Entwicklungen, Bildungsangebote und Verkaufsberatung und Support zu entwickeln. Gelingt es hier, Zugang und Nutzung der Geräte entsprechend zu gestalten? Insbesondere wurde auch der Genderaspekt mitberücksichtigt. Auf der Grundlage eines Methodenmixes (Einzel- und Paarinterviews, Fokusgruppen, Usability-Tests und Cultural Probes) wurden diese Fragen verfolgt. Es hat sich schliesslich bestätigt, dass die Seniorinnen und Senioren bei der Nutzung von mobilen Geräten vor einer Vielzahl von Herausforderungen stehen. Der Wunsch nach Hilfe ist entsprechend gross. Die grösste Schwierigkeit besteht in der wenig intuitiven Gestaltung von Soft- und Hardware. Die Projektergebnisse haben sodann zu Guidelines für die App-Entwicklung, für Schulungen und für Verkauf und Support geführt, die auf einer Website (www.mobiseniora.at) kostenlos zur Verfügung stehen.

Johanna Zeisberg geht in ihrem Beitrag ethischen Problemen in der Demenzpflege nach und beleuchtet die Frage nach der Pflicht zu Wahrheit bzw. Lüge im Umgang mit Menschen mit Demenz. Ihren Ausgangspunkt findet sie bei Kant und Nietzsche, die sich zum Thema von Wahrheit und Lüge gegensätzlich positioniert haben: Kant als moralisch rigoroser Vertreter der Pflicht zur Wahrheit, Nietzsche umgekehrt als Verfechter der Lüge als Bedingung für sozialen Zusammenhalt. Und wie verhält es sich beim Umgang mit an Demenz erkrankten Menschen? Gemäss Autorin „könnte es ein ethisch sinnvoller Massstab sein, die Bewertung des Lügens auch hier davon abhängig zu machen, ob es zur Stiftung einer zwischenmenschlichen Gemeinschaft mit dem Erkrankten dienlich ist oder nicht“ (S. 112). Nach der Darlegung von drei Pflegekonzepten im Umgang mit dementiellen Desorientierungen – dem „Realitäts-Orientierungstraining (ROT)“, der „Validation“ und der Arbeit mit „Scheinwelten“ – erörtert Zeisberg die Frage nach dem „richtigen Lügen“ in der Demenzpflege. In Anlehnung an den Moralphilosophen Klaus Peter Rippe kommt die Autorin zum Schluss, dass zwischen dem Autonomieprinzip und der Fürsorge jeweils abzuwägen ist. Wenn Lügen das Wohlbefinden des Demenzkranken fördern, sind sie zulässig, solange sie dem Kranken nicht schaden und die Vertrauensbeziehung nicht gefährden. Lügen müssen auch einen Bezug zur subjektiven Wirklichkeit des Kranken haben. Die soziale Beziehung zwischen Pflegenden und Kranken ist für Zeisberg zentral: „Um gleichwohl eine zumindest momentweise zwischenmenschliche Gemeinschaft mit den Erkrankten zu erreichen, die ein anthropologisches Grundbedürfnis ist und das Letzte, was Pflegende für sie noch tun können, sind ‚Lügen‘ in diesem ‚aussermoralischen Sinne‘ durchaus zuweilen erlaubt“ (S. 118). Der Gebrauch von Lügen ist jedoch in jedem Einzelfall situationsabhängig immer erst zu prüfen.

Den zweiten Themenbereich schliessen Gerhard Hermann, Manuela Gallunder und Günter Klug mit ihrem Beitrag zum Leben zuhause von psychisch kranken älteren Menschen ab. Psychisch kranken Älteren kommt gemäss den Autoren insofern eine besondere Bedeutung zu, weil ihre Situation im Rahmen der Diskussion um Selbständigkeit, Selbstverantwortung und Mitverantwortung oft zu wenig Berücksichtigung findet. Im Zentrum des Beitrags steht das Projekt der Sozialpsychiatrischen Hilfe im Alter (SOPHA), welches die Menschen im Alltag zuhause unterstützt sowie auch Krisenintervention leistet. Erste Hinweise liegen mittlerweile vor, die dem Programm SOPHA eine positive Wirksamkeit attestieren.

Zum dritten Themenbereich

Der dritte Themenbereich führt unter der Überschrift „Möglichkeiten im Alter, für das Alter und durch das Alter“ verschiedenste Beiträge zusammen. Das Themenspektrum ist hier breit und führt von der Psychoanalyse im Alter über Möglichkeiten des Gesprächs mit Demenzkranken, von Lebensplanung über Erwachsenenbildung bis hin zum Zusammenhang von Leiblichkeit und einer Pädagogik des Alters.

Entgegen Freuds Überzeugung, dass Menschen, die älter sind als vierzig Jahre, psychoanalytisch nicht mehr behandelbar sind, setzt sich Bettina Rabelhofer mit den therapeutischen Möglichkeiten im Alter auseinander und kommt zum Schluss, dass die Psychoanalyse ihr Potential im Alter durch die Auseinandersetzung mit den spezifischen Themen des Alters hat – also etwa mit Vergänglichkeit, mit Trauer und Abschiednehmen. Dabei lässt sich ein kreativer Prozess feststellen, der es erlaubt, Verdrängtes und Unbearbeitetes auch im Alter noch zu integrieren.

Ingrid Enge legt ihrerseits einen aufschlussreichen und anregenden Beitrag zur Frage vor, wie wir mit von Demenz betroffenen Menschen im Gespräch bleiben können, ohne mit ihnen in einen „Kampf um die Wahrheit“ zu geraten. Sie unterscheidet zwischen Wahrnehmungs- und Benennungsproblemen. Zumindest bei bestimmten Formen der Demenz haben wir es nicht primär mit einer Störung des Erkennens, sondern des Benennens zu tun. Einleuchtend legt die Autorin in der Folge dar, wie sich daher ein „Kampf um die Wahrheit“ und damit auch um die „richtige“ Wirklichkeit erübrigt. Das unter Umständen unterschiedlich Benannte ist das gleicherweise Erkannte und kann so als Ausgangspunkt für eine tragende soziale Beziehung dienen, ohne dass um die Definitionsmacht bezüglich des Wirklichen gekämpft werden und die demenzbetroffene Person sich dabei entwertet fühlen müsste: „Ein lange Zeit in diesen Situationen angewandtes Realitätstraining mit dementierenden Menschen war der vergebliche Versuch, sie aus ihrer vermeintlich falschen Wirklichkeit in unsere wahre zu bringen. Letztlich führt das jedoch zu einer Auseinandersetzung um die Wahrheit der jeweiligen Wirklichkeit – also zu einem Kampf um die Wahrheit – der von Niemandem gewonnen werden kann.“ (S. 153)

Verena Köck widmet sich in ihrem Artikel der Frage, welchen Beitrag eine soziologische Auseinandersetzung mit dem Thema der Lebensplanung für das Alter und das Altern leisten kann „und wie die subjektive Reflexion biographischer Orientierungen und Planungsperspektiven in Bezug auf das eigene Alter(n) empirisch erfasst werden kann“ (S. 157). Hierbei handelt es sich um ein Dissertationsprojekt im Anfangsstadium; entsprechend liegen bisher noch keine inhaltlichen Ergebnisse vor.

Alexandra Edlinger ihrerseits berichtet aus der Erwachsenenbildung. Sie identifiziert neue Herausforderungen, welche unter dem Begriff des „Mainstreaming Ageing“ gefasst werden. Damit ist eine Fortbildung gemeint, welche bei der Unterrichtung von Erwachsenenbildnern zur Anwendung kommt und diese dabei unterstützen soll, „in altersheterogenen und -homogenen Settings Unterricht altersgerecht zu gestalten“ (S. 173). Die entsprechenden Ziele und Inhalte dieses Mainstreaming Ageing werden sodann vorgestellt (zum Beispiel Biografiearbeit, intergeneratives Lernen u.a.m.). Schliesslich beschäftigt sich Karin Kicker-Frisinghelli mit der Leiblichkeit des Menschen in einer Pädagogik des Alters. In einem an zwei Beispielen orientierten historischen Rückblick werden der Philanthropinismus und die Reformpädagogik sowie für die Gegenwart die Hirnforschung jeweils auf deren pädagogische Konzepte des Leibes hin befragt. Dass der alternde Körper im Zusammenhang mit Bildungsprozessen im Alter eine Bedeutung hat, lässt sich dabei zwar erahnen. Es bleibt jedoch wenig konkret fassbar, worin diese Bedeutung letztlich besteht, zumal die mittlerweile einigermassen etablierte theoretische Unterscheidung zwischen Körper und Leib von der Autorin nicht eingeholt wird.

Zum vierten Themenbereich

Der Band schliesst mit einem vierten Themenbereich unter dem Titel „Diversität und Selbstbestimmung – Gefährdungen im Alter“.

Tanja Wurm eröffnet diesen Teil mit einer Betrachtung zu Autonomie und Freiheit als Menschenrechte im Alter. Dabei bezieht sie sich auf aktuelle Fälle der österreichischen Rechtsprechung im Bereich der freiheitsbeschränkenden Massnahmen in Pflegeeinrichtungen. Ohne hier auf die von der Autorin dargelegten juristischen Einzelheiten eingehen zu können, gibt der Text einen aufschlussreichen und inhaltlich reichhaltigen Einblick in das Verhältnis von Rechtsprechung und pflegerischer Praxis in Österreich.

Wiederum ein anderes Thema greifen Manuela Mandl und Christa Lohrmann auf, indem sie sich auf der Grundlage einer Sekundärdatenanalyse mit dem Grad der Pflegeabhängigkeit von kontinenten und inkontinenten Pflegeheimbewohnerinnen und Pflegeheimbewohnern befassen. Die Autorinnen stellen fest, dass in verschiedenen Bereichen (Aus- und Ankleiden, Mobilität, Körperpflege) grosse Unterschiede zwischen kontinenten und inkontinenten Bewohnern mit Bezug auf ihre Pflegeabhängigkeit bestehen.

Margareta Kreimer untersucht die Frage der Altersarmut von Frauen in Österreich – ein Problem, das in der sozialwissenschaftlichen Forschung bislang wenig präsent sei (S. 231). Dabei stellt sich vor allem auch das Problem der Messung von Altersarmut. Jenseits von materiellen Ressourcen geraten die Faktoren soziale Kontakte, Kommunikation und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht in adäquater Weise in den Blick. Die Autorin stellt für die Situation in Österreich fest, dass sich Altersarmut hier unter anderem oft als Folge zu geringer Humankapitalinvestitionen oder auch asymmetrischer Arbeitsteilungsarrangements findet.

Nachdem sich Daniela Wagner mit der Vielfalt des Alters und Alterns in österreichischen Alten- und Pflegeheimen befasst und hier auf die Wahrnehmung von älteren Menschen seitens der verschiedenen Akteure fokussiert, schliesst der Band mit einem Beitrag von Bärbel Susanne Traunsteiner zu Alter und sexueller Orientierung und den entsprechenden intersektionalen Perspektiven zu diesem Thema. Am Beispiel von Homosexualität im Alter wird erörtert, „inwiefern die Strukturkategorien und intersektionalen Kreuzungspunkte hinsichtlich sexueller Orientierungen in wissenschaftlicher ebenso wie in sozialpolitischer Hinsicht in Österreich bisher einbezogen wurden“ (S. 264). Die Autorin kommt zum Schluss, dass die Handlungsspielräume ihrer Zielgruppe verbreitert werden müssten und so ihre Lebensqualität zu fördern sei, um eine gleichberechtigte Teilhabe homosexueller Älterer an der Gesellschaft zu ermöglichen. Dazu brauche es strukturelle Massnahmen.

Fazit

Der Band bietet für den österreichischen Kontext ein breites Spektrum an Themen zur Diskussion der Probleme und Herausforderungen einer „Gesellschaft des langen Lebens“. Dabei werden teilweise originelle Einsichten in Bereiche ermöglicht, die die Diskussion zu Altern und Alter zu bereichern vermögen, etwa der Beitrag zur Psychoanalyse im Alter (von Bettina Rabelhofer) oder jener zu den Kommunikationsmöglichkeiten mit von Demenz betroffenen Menschen (von Ingrid Enge), aber auch der philosophisch inspirierte Beitrag zu ethischen Fragen in der Demenzpflege (von Johanna Zeisberg). Die Herausgeberinnen wollen mit ihrem Band Divergenzen in der Altersforschung offenlegen und sie nachvollziehbar machen, ohne sie zu glätten. Daraus ist ein über weite Strecken jedoch sehr heterogener Band entstanden, der von einer einordnenden Synthese hätte profitieren können. So aber stehen die Beiträge weitestgehend nebeneinander; sie sind zwar alle an einem kritischen Standpunkt orientiert, meist jedoch bleiben die Anliegen jenseits einer allgemein gehaltenen Begrifflichkeit und ohne eine entsprechende vertieftere Auseinandersetzung zu ermöglichen stark normativen Forderungen verhaftet (z.B. Paletta et al.).

Rezension von
Dr. Christine Matter
Fachhochschule Nordwestschweiz
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Zitiervorschlag
Christine Matter. Rezension vom 06.06.2017 zu: Claudia Stöckl, Karin Kicker-Frisinghelli, Susanna Finker (Hrsg.): Die Gesellschaft des langen Lebens. Soziale und individuelle Herausforderungen. transcript (Bielefeld) 2016. ISBN 978-3-8376-3426-6. Gesellschaft der Unterschiede, Band 35. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22048.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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