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Eric Mührel, Christian Niemeyer et al. (Hrsg.): Capability Approach und Sozialpädagogik

Rezensiert von Prof. Dr. Manfred Liebel, 26.05.2017

Cover Eric Mührel, Christian Niemeyer et al. (Hrsg.): Capability Approach und Sozialpädagogik ISBN 978-3-7799-3370-0

Eric Mührel, Christian Niemeyer, Sven Werner (Hrsg.): Capability Approach und Sozialpädagogik. Eine heilige Allianz? Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2016. 256 Seiten. ISBN 978-3-7799-3370-0. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,10 sFr.

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Thema

Der sog. Capability Approach (im Folgenden CA), der auf den indischen Sozialökonomen Amartya Sen zurückgeht und im Deutschen meist als Befähigungsansatz bezeichnet wird, hat in den beiden letzten Jahrzehnten weltweit eine große Aufmerksamkeit gefunden. Sen wollte damit die Grundlage für ein neues Verständnis von gesellschaftlicher Entwicklung und sozialer Gerechtigkeit schaffen. Seine konzeptionellen Überlegungen fanden Eingang in den periodisch von den Vereinten Nationen erstellten Human Development Report, der menschliche Entwicklung nicht mehr allein am makroökonomischen Wachstum misst, sondern danach fragt, inwieweit die Menschen in die Lage kommen, in umfassender Weise ihre Lebenschancen und ihre Lebensqualität zu verbessern. Eine Umverteilung von Gütern im Sinne von mehr Gleichheit gilt ihm als eine zwar notwendige, jedoch nicht hinreichende Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit. Stattdessen ist für Sen die Frage zentral, ob und inwieweit eine Person über die nötigen Befähigungen (capabilities) verfügt, um an den lebenswichtigen Gütern der Gesellschaft teilzuhaben und selbst gewünschte Ziele zu erreichen.

Der Begriff der Capabilities im Sinne des CA hat eine objektive und eine subjektive Dimension. Mit ihm sind nicht nur persönliche Fähigkeiten und Kompetenzen gemeint, sondern auch externe Verwirklichungsbedingungen. Erst in ihrem Zusammenwirken entstehen nach Sen die Möglichkeiten für ein menschenwürdiges Leben. Zu den externen Verwirklichungsbedingungen zählt er die Gewährleistung von fünf „substanziellen Freiheiten“:

  1. politische Freiheit (Zivilrechte);
  2. ökonomische Möglichkeiten (z.B. Zugang zu existenzsichernder Arbeit, Krediten);
  3. soziale Möglichkeiten (z.B. Zugang zu Bildungseinrichtungen und Einrichtungen der Gesundheitsfürsorge);
  4. Garantie für transparente Vorgänge (z.B. soziale Präventivmaßnahmen gegen Korruption);
  5. Sicherheitsmaßnahmen (z.B. soziale Sicherheitsnetze in Form staatlicher finanzieller Beihilfen).

Eine spezifische Variante des Capability Approach wird von der US-amerikanischen Sozialphilosophin Martha Nussbaum vertreten. Während Sen sich darauf beschränkt, einige grundlegende „Freiheiten“ zu benennen, formuliert Nussbaum eine detaillierte Liste von sog. „central capabilities“, in denen objektive und subjektive Aspekte zusammengedacht werden:

  1. die Fähigkeit, ein volles Menschenleben bis zum Ende zu führen;
  2. Gesundheit insbesondere als Ernährung, Wohnen, Sexualität und Mobilität;
  3. die Fähigkeit, unnötigen Schmerz zu vermeiden und freudvolle Erlebnisse zu haben;
  4. die Fähigkeit, fünf Sinne zu benutzen, sich etwas vorstellen und denken zu können;
  5. Bindungen zu Dingen und Personen einzugehen, zu lieben, zu trauern, Sehnsucht und Dankbarkeit zu empfinden;
  6. sich Vorstellungen vom Guten zu machen und kritisch über die eigene Lebensplanung nachzudenken;
  7. für andere und bezogen auf andere zu leben, verschiedene Formen familiärer und sozialer Beziehungen einzugehen;
  8. Verbundenheit mit Tieren und Pflanzen und der ganzen Natur zu (er)leben;
  9. die Fähigkeit zu lachen, zu spielen und Freude an Erholung zu haben;
  10. das eigene Leben und nicht das eines anderen zu leben;
  11. die Fähigkeit, sein eigenes Leben in seiner eigenen Umgebung und seinem eigenen Kontext zu leben.

Diese Capabilities, die Nussbaum in ihren Schriften immer wieder variiert, gelten als Mindestbedingungen eines „guten Lebens“. Sie werden als universell verstanden, in ihrer Konkretisierung jedoch als individuell und kulturgebunden.

In Deutschland ist der CA in den 1990er Jahren von einer Gruppe um den Bielefelder Erziehungswissenschaftler Hans-Uwe Otto aufgegriffen worden, die darin ein wegweisendes Modell für eine sich als emanzipatorisch und gerechtigkeitsorientiert verstehende Sozialpädagogik sieht („Bielefelder Schule“). Autor*innen aus dieser Gruppe betonen, dem CA gehe es aus der Perspektive der Verwirklichungschancen nicht um die autoritative Festlegung, worin ein gutes oder gerechtes Leben bestehe, sondern um die Formulierung von grundlegenden Gelegenheiten und Befähigungen, auf deren Ermöglichung Menschen Anspruch haben und die sich als ein Fundament für die Verfolgung und Verwirklichung der verschiedenen Entwürfe eines guten Lebens verstehen lassen. Im Zentrum stehe der Spielraum von Selbstbestimmung und Autonomie.

Der CA ist in seinen verschiedenen Ausprägungen nicht unwidersprochen geblieben. So wird von Autor*innen, die ihn für die Kindheitsforschung und Kinderrechtspraxis nutzbar machen wollen, kritisiert, dass er Kinder bislang nicht als soziale Subjekte mit Autonomieanspruch, sondern nur als zukünftige Bürger und unter dem Aspekt der für den Bürgerstatus zu entwickelnden Fähigkeiten betrachtet. Obwohl Amartya Sen zugesteht, dass Kinder ein gewisses Maß an Wahlmöglichkeiten haben sollten, besteht er darauf, dass diese Freiheit erst mit Blick auf ihre Zukunft relevant wird. Auch Martha Nussbaum betont wiederholt, dass innerhalb des CA der Schulbesuch in erster Linie Bedeutung besitze, um die zukünftigen Befähigungen der Kinder hervorzubringen. Nach dieser Betrachtungsweise bleibt weitgehend ausgeschlossen, Kinder auch als Subjekte eigener Rechte oder als politische Subjekte zu verstehen, die in maßgeblicher Weise an der Gestaltung ihrer Lebensbedingungen mitwirken. Ihre soziale Position bleibt darauf beschränkt, auf die Erfüllung ihrer Rechte durch die Erwachsenen und die von ihnen getragenen Institutionen zu vertrauen.

Soweit die Rezeption des CA in Deutschland sich auf die Sozialpädagogik und Sozialarbeit bezieht, hat sie solchen Fragen bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Gleichwohl wird auch in Deutschland die Frage kontrovers diskutiert, ob der CA für die Sozialpädagogik neue Perspektiven eröffnet. Der hier zu rezensierende Sammelband gibt einen Einblick in den gegenwärtigen Stand dieser Diskussion.

Aufbau und Inhalt

Dem von Eric Mührel, Christian Niemeyer und Sven Werner herausgegeben Band liegt die Frage zugrunde, ob der CA der Sozialpädagogik neue Handlungsimpulse und Perspektiven vermitteln kann. Die Antworten, die in dem Band gegeben werden, könnten verschiedener kaum sein. Neben Beiträgen, die diese Frage uneingeschränkt oder teilweise bejahen, stehen Beiträge, die dem CA ankreiden, er sei für die professionelle und disziplinäre Bearbeitung der aktuellen sozialen Fragen und Problemlagen ungeeignet.

Der Band wird mit einem Beitrag von Christian Niemeyer eingeleitet, in dem er unter Bezug auf Martha Nussbaum die These vertritt, deren Rede vom „guten“ Leben reiche für die notwendige Rekonzeptualisierung einer sich als kritisch verstehenden Sozialpädagogik nicht aus. Stattdessen müsse diese sich als Wissenschaft vom „richtigen“ bzw. „besseren“ Leben neu aufstellen, wie Niemeyer unter Berufung auf Theodor W. Adorno und Ernst Bloch betont. Den gedanklichen Hintergrund des polemischen Beitrags bildet eine eigenwillige Neuinterpretation der Schriften von Friedrich Nietzsche. Der Aufsatz Niemeyers war zuvor in der „Zeitschrift für Sozialpädagogik“ veröffentlicht worden und wird von einigen Autoren des Bandes aufgegriffen.

Ulrich Steckmann setzt sich unter Einbeziehung des Eröffnungsbeitrags von Niemeyer mit Kritikern von Nussbaums Version des CA auseinander, die dieser in den vergangenen Jahren ankreidet hatten, sie repräsentiere ein perfektionistisches und somit letztlich bevormundendes Gesellschaftsmodell. Ausdrücklich wendet er sich gegen den Verdacht, die Soziale Arbeit handle sich mit der Inanspruchnahme des CA einen ausufernden Paternalismus ein.

Johannes Drerup diskutiert die insbesondere in der sozialpädagogischen Rezeption des von Nussbaum vertretenen CA meist ausgeblendete Frage, wie sich tradierte (sozial-) pädagogische Leitnormen und Legitimationen mit Nussbaums neuerem Bekenntnis zu einer modifizierten Version des politischen Liberalismus vertragen. Hierfür schlägt er vor zu klären, ob und wie personale Autonomie als Erziehungsziel und eine respektbasierte Konzeption von Erziehung zu Toleranz im Rahmen des CA zu rechtfertigen sind.

Auch Dieter Röh sieht im CA eine geeignete handlungstheoretische Grundlage, um der Profession der Sozialen Arbeit zu ermöglichen, sowohl an den gesellschaftlichen Strukturen als auch an den subjektiven Bildungsbemühungen anzusetzen. Damit könne sie besser dazu beitragen, eine „daseinsmächtige Lebensführung“ von Menschen zu unterstützen.

Bernd Birgmeier hält es allerdings für erforderlich, den CA handlungstheoretisch zu fundieren, um die Frage nach dem, zu was konkret „befähigt“ werden soll, beantworten zu können. Hierzu empfiehlt er, aus den Befunden der Handlungsphilosophie und der Handlungswissenschaften einen eigenen, theorienahen Handlungsbegriff abzuleiten.

Markus Hundeck konfrontiert den CA angesichts der Unauslotbarkeit der Person und deren Würde mit der Frage, inwieweit ein Anspruch auf gerechte politische Strukturen und dem sich daraus ergebenden guten Leben nicht zu kurz greife und etwa die Reduzierung auf eine ausschließlich materialistische Perspektive zur Folge hätte.

Eric Mührel fragt unter Bezug auf existenzphilosophische Reflexionen von Robert Misrahi und die Pädagogik von Paul Natorp nach dem Zusammenhang eines Humanistischen Sozialismus mit einem Offenen Liberalismus, wie er vor allem in neueren Arbeiten von Martha Nussbaum zum Vorschein kommt.

Vor dem Hintergrund des sozialhistorischen und entwicklungspolitischen Kontextes der Entstehung des CA bezweifelt Lothar Böhnisch, dass die Sozialpädagogik als Handlungswissenschaft mit ihrem Ziel und Wert des Empowerment mittels des CA subjekttheoretisch erweitert werden könne.

Stefan Lorenz Sorgner gibt zu bedenken, dass Nussbaums Theorie des guten Lebens nicht nur ein Paternalismus-Problem habe, sondern auch zu einer moralisch verwerflichen staatlichen Eugenik führen könne. Dabei setzt er sich auch mit der Annahme von Jürgen Habermas auseinander, dass es sich bei erzieherischen und genetischen „Verbesserungen“ um grundlegend verschiedene Vorgänge handele.

Michael Winkler sieht im CA vorrangig eine Methode, kaum jedoch eine starke Theorie, um die Grundlagen der Sozialen Arbeit zu verstehen. Insofern empfiehlt er, sie solle eher an ihre eigenen pädagogischen Theorietraditionen anknüpfen, wie sie beispielsweise bei Paul Natorp zu finden seien.

Zoë Clark sieht mit dem CA die Möglichkeit gegeben, eine gerechtigkeitstheoretisch fundierte Konzeption des Subjekts der Kinder- und Jugendhilfe zu entwickeln und eine Antwort auf die Frage zu finden, welche Form der Wirkung und Wirkungsforschung in diesem sozialpädagogischen Handlungsfeld legitimierbar sei.

Im abschließenden Beitrag betonen Holger Ziegler und Hans-Uwe Otto die Potenziale des CA, aus der Sozialen Arbeit eine emanzipatorischen Gesellschaftswissenschaft mit einer gerechtigkeitstheoretischen Perspektive in Verbindung mit einem wirklichkeitswissenschaftlichen Zugang zur sozialen Welt werden zu lassen.

Diskussion

Der Band vermittelt einen zwar selektiven, aber verlässlichen Eindruck von den im deutschen Sprachraum in den letzten beiden Jahrzehnten geführten Debatten um die Bedeutung des Capability Approach für die Sozialpädagogik und Soziale Arbeit (die ihrerseits synonym gedacht werden). Dabei werden auch zahlreiche Fragen aufgegriffen, die der CA für dieses Handlungsfeld bereithält, ohne dass sie bisher tiefergehend diskutiert wurden. Ob es sich zwischen Sozialpädagogik und CA um eine „heilige Allianz“ handelt, wie die Herausgeber im Untertitel des Bandes mit polemischem Gestus nahelegen, bleibt eine offene Frage.

Die meisten Autoren beziehen sich auf die von Marta Nussbaum vertretene Version des CA, die offensichtlich für sozialpädagogische Fragestellungen eher anschlussfähig ist. Bei Hans-Uwe Otto und Holger Ziegler, an deren Rezeption sich bisher meist die Kontroversen in der sozialpädagogischen Fachdebatte entzündet haben, spielt allerdings die von Amartya Sen eingeführte Variante des CA eine größere Rolle. Einzig der Beitrag von Michael Winkler vermittelt einen umfassenden Überblick über die verzweigte Theoriegeschichte des CA und die Anwendungsversuche im Bereich der Sozialen Arbeit. Im Unterschied zu mehreren Beiträgen des Bandes, deren Autoren ihr persönliches Steckenpferd zu reiten scheinen und einem wenig transparenten Fachjargon huldigen, lässt Winklers Beitrag auch deutlich werden, dass sich selbst komplexe Sachverhalte durchaus in einer unprätentiösen Sprache ausdrücken lassen. Ähnliches gilt für den Beitrag von Lothar Böhnisch, der mich am meisten überzeugt hat (aber das mag auch mit unserer gemeinsamen Vorliebe für subjekttheoretische Fragestellungen zusammenhängen).

Ein großes Manko des Bandes sehe ich darin, dass er fast überhaupt nicht auf die international heftig diskutierte Frage Bezug nimmt, ob sich der emanzipatorische und gerechtigkeitstheoretische Anspruch des CA auch auf Kinder und Generationenverhältnisse erstreckt. Da sich schwer leugnen lässt, dass Kinder und Jugendliche in vielen Handlungsfeldern der Sozialpädagogik im Fokus stehen, lässt sich das kaum nachvollziehen. Einzig der Beitrag von Zoë Clark, die zudem die einzige Frau unter den Autoren ist (Zufall?), widmet sich diesem Thema. Auch wenn ich der Ansicht bin, dass Clark die paternalistischen Implikationen des CA gegenüber Kindern ausblendet, finde ich ihre Mahnung, eine „subjektorientierte Kinder- und Jugendhilfe“ müsse sich von einem kritischen Verständnis der Kinderrechte leiten lassen, weiterführend.

Fazit

Der Sammelband macht darauf aufmerksam, dass der Capability Approach auch im deutschen Sprachraum zu einem wichtigen Thema der sozialpädagogischen Debatte geworden ist. Die Beiträge umfassen ein weites Spektrum möglicher Anwendungen und Beurteilungen. Auch wenn in manchen Beiträgen ein schwer verständlicher Fachjargon gepflegt wird und Kinder als Adressaten der Sozialpädagogik nur in einem einzigen Beitrag vorkommen, finden sich in dem Band zahlreiche zum Nachdenken anregende Überlegungen.

Rezension von
Prof. Dr. Manfred Liebel
Prof. a.D. für Soziologie an der Technischen Universität Berlin, Unabhängiger Kindheits- und Kinderrechtsforscher
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Es gibt 105 Rezensionen von Manfred Liebel.

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ISSN 2190-9245