Annette Korntheuer: Die Bildungsteilhabe junger Flüchtlinge
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Berg, 04.01.2017

Annette Korntheuer: Die Bildungsteilhabe junger Flüchtlinge. Faktoren von Inklusion und Exklusion in München und Toronto. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2016. 434 Seiten. ISBN 978-3-8309-3541-4. D: 44,90 EUR, A: 46,20 EUR.
Thema
Der Willkommenskultur muss die gesellschaftliche Teilhabe folgen, insbesondere in Form und vermittels von Bildung und Ausbildung junger Flüchtlinge, selbst wenn sie eines Tages wieder Deutschland verließen, um ihr Heimatland aufzubauen.
Das Recht von Kindern und Jugendlichen auf Erziehung, Bildung und Ausbildung ist ein Menschenrecht, in der Kinderrechtskonvention noch einmal verdeutlicht. Es besteht gerade darin, dass es aus Gründen der Herkunft, Staatsangehörigkeit und des Aufenthaltsstatus (der Eltern) nicht beschränkt sein darf.
Daher ist es eine wichtige Frage, wie die Länder, in denen junge Flüchtlinge leben, diesen den Zugang zu Bildung eröffnen.
Autorin
Annette Korntheuer ist Diplom-Sozialpädagogin und Erziehungswissenschaftlerin, die mit der vorliegenden Studie 2016 an der Universität München promoviert wurde.
Aufbau
Die Dissertation besteht aus fünf Teilen, nämlich
- den theoretischen „Bezugspunkten“
- dem deutsch-kanadischen Vergleich zur Migrations- und Bildungspolitik
- einem „Zwischenfazit“ zur Forschungslage
- der „Methodologie“ und (ab Seite 203)
- den Ergebnissen der empirischen Arbeit, dazu einige „praktische Implikationen“
Inhalt
Methodisch zeichnet sich die vorliegende Studie durch zwei besondere Verfahren aus. Das ist zum Einen der Vergleich zwischen München und Toronto, wobei auch das Bundesland Bayern bzw. die Provinz Ontario und die Bundesebenen einbezogen werden. Zum Andern sind es die Interviews mit insgesamt 25 Funktionsträgern (z.B.Lehrkräfte oder Sozialarbeiterinnen) an beiden Forschungsorten, insbesondere aber die Gespräche, die in München oder Toronto mit insgesamt 40 jungen Flüchtlingen geführt wurden. Dabei bezieht sich die Autorin auf die sog. Grounded Theory Methodology insofern, als sie keine repräsentative Stichprobe mit statistischem Verfahren analysieren, sondern die Aussagen der Betroffenen verdichten und mit dem Forschungsstand verknüpfen will.
Während in Deutschland über Jahre hinweg Asylpolitik gerade auch darauf zielte, den Aufenthalt hier möglichst unattraktiv zu gestalten, wurde in Toronto/Ontario Einwanderung in einem transparenten Verfahren gesteuert und gefördert. Dies kam allen Einwanderern zu Gute, auch denen mit Fluchterfahrung. Diese können von außerhalb Kanadas einen Asylantrag stellen und als Government-Assisted Refugees (GAR) mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis rechnen, Das gilt auch für Personen, für die Sponsoren bürgen. Der Zugang aller Kinder und Jugendlichen zur Regelschule hat Priorität, wobei gerade die kulturellen Unterschiede respektiert und sichtbar bleiben sollen (Multikulti). Dementsprechend tun die Schulen alles, um die Diversität zu pflegen und abzubilden, auch in der Lehrerschaft, auch durch die Beteiligung der ethnisch-religiösen Communities. Wie aus den Interviews hervorgeht, werden die Kinder und Jugendlichen nicht nach Alter und Sprachkenntnissen sortiert, auch nicht wenn sie älter als 16 sind. Es könne jedoch, so eine Anmerkung, ein Problem geben, wenn die jungen Erwachsenen ein Hochschulstudium beginnen wollen, da sie dann die Gebühren für „Ausländer“ zu zahlen hätten. Allerdings ist die Einwanderungspolitik insgesamt darauf abgestellt, Einwanderern nach 3 bis 5 Jahren die kanadische Staatsbürgerschaft anzubieten.
Betrachtet man nun Deutschland, so könnte die Ausgangslage unterschiedlicher kaum sein. Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung werden vorwiegend nach ihren Sprachkenntnissen beurteilt und erhalten so kaum Zugang zu einer Regelklasse. Jugendliche, die im Alter von 16 oder 17 Jahren ohne Deutschkenntnisse nach Deutschland kommen, sind damit praktisch vom Bildungssystem ausgeschlossen. Der Widerspruch ist offensichtlich: Wie können sich die Jugendlichen „anpassen“, d.h. doch assimilieren, wenn sie nicht mit anderen Gleichaltrigen zusammenkommen, zusammen und voneinander lernen?
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden von der Jugendhilfe betreut. Damit sind sie in jeder Hinsicht gut versorgt, aber auch kontrolliert. Dabei mag symptomatisch sein, dass ein Mädchen, eine junge Frau, die auf das Gymnasium gehen und Abitur machen wollte, dies mit aller Kraft und externer Hilfe gegen Vormund und Sozialpädagogin durchsetzen musste. In aller Regel werden Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrungen in Sonderklassen an Haupt- und Mittelschulen untergebracht, auch in Form eines Berufsvorbereitungsjahres. Es geht offensichtlich darum, Flüchtlinge in Ausbildungsberufe zu bringen, der Fachkräftebedarf ist immerhin eingestanden. Noch immer wirkt allerdings nach, dass den Jugendlichen selbst und den potentiellen Ausbildungsbetrieben die Bleibeperspektive nicht sicher erscheint, trotz der § 18a bzw. § 25a AufhG. Inzwischen ist die Rechtslage ja so, dass Eltern vom Bleiberecht eines Kindes abhängen, das ordentlich Schule oder Berufsausbildung absolviert. Flüchtlinge, die mit ihren Eltern oder nach Volljährigkeit in Gemeinschaftsunterkünften leben, beklagen die Abgeschiedenheit, den Mangel an Realitätsbezug und Informationen – selbst wenn Freiwillige, Nachbarinnen und Nachbarn sie informieren und soziale Kontakte vermitteln. Wenn dann noch Flüchtlinge in Übergangsklassen an der Mittelschule oder im Berufsvorbereitungsjahr/ Berufsintegrationsjahr unter sich bleiben, ist die gesellschaftliche Exklusion schon fast perfekt.
Obgleich die „Übertragbarkeit der kanadische Situation“ auf Deutschland, wie die Autorin schließlich feststellt, „beschränkt“ ist, stellt sie eine Reihe von Vorschlägen und Empfehlungen zusammen. Das sind z.B.:
- Der Zugang zum Bildungssystem wäre besser, wenn es Ganztagsschulen mit Kurssystem gebe,
- Das Recht auf Schule sollte nicht mit der Schulpflicht enden,
- Migrantenorganisationen oder ethnisch-religiöse Communities müssen mehr in das Schulleben einbezogen werden,
- Die Schulsozialarbeiter/innen sollten sich noch viel mehr als Vermittler und Übersetzer, als „advocacy“ (Anwälte) der jugendlichen Flüchtlinge verstehen.
Die Autorin erinnert jedoch auch daran, dass junge Flüchtlinge viel Resilienz (Widerstandskraft) und Bildungsmotivation mitbrächten, ja die Chance auf Bildung für viele ein massiver Migrationsgrund ist und war. Freiwillige, Lehrkräfte, Schulleiter, aber auch ethnisch-religiöse Communities können viel dafür tun, dass junge Flüchtlinge ein positives Selbstbild aufbauen.
Diskussion
Die vorliegende Dissertation ist reich an Material, präsentiert den internationalen Forschungsstand, besonders in Kanada und Deutschland, beeindruckt mit über 400 Titel im Literaturverzeichnis. Mitunter ist der Umgang mit Kommata nicht korrekt. Bei manchen Formulierungen erliegt die Autorin dem Jargon (z.B „Biografie“, wenn es der Lebenslauf ist). Sie kommt z.B. immer wieder darauf zurück, dass die „inkludierende Exklusion“ doch „rekonstruierbar“ sei; gemeint ist damit, dass die Jugendlichen – wie sie in Interviews bemerken – als „Ausländer“ in der Mittelschule oft unter sich seien, aber das gemeinsam.
Besonders hervorzuheben ist eigentlich der Forschungsansatz, Interviews mit Betroffenen und Beteiligten, vor allem mit jungen Flüchtlingen zu führen. Allerdings entgeht auch diese Autorin nicht der Gefahr, die Menschen mit Fluchterfahrungen als Stichwortgeber, als Quelle zu betrachten, die nicht wirklich selbst zu Wort kommen. Das liegt an der sog. Grounded Theory Methodology, die ja das sprachliche „Material“ so lange dreht und wendet, bis es stimmig in wissenschaftliche Sprache umgeformt ist. Überdies treten Redundanzen auf bis zu dem Extrem, dass ein singuläres Statement (z.B. einer (!) Interviewpartnerin, der Gymnasium und Abitur nicht zugetraut wurde) für eine Generalisierung herhalten muss.
Wenn die Autorin die genaue Herkunft der jungen Flüchtlinge, ihre Beweggründe, ihre Bildung, ihren Fluchtweg so allgemein fasst, dass die Anonymität voll gewahrt ist, ist das wissenschaftsethisch voll gerechtfertigt. Aber damit bleiben die Menschen, um die es geht, leider ohne Gesicht, ohne Persönlichkeit. Kann denn ein Bildungsweg anders als im Blick auf den ganzen Lebenslauf einer Person und vor allem die familiären Verhältnisse erklärt werden? Bekanntlich stehen Flüchtlinge in transnationalen Beziehungen, haben Aufträge oder Verpflichtungen von und nach „zuhause“. Die Communities am Schulort haben ganz unterschiedliche Einflüsse. Aus diesen Gründen wäre es sicher nützlich, die Kategorie „Flüchtling“ deutlich auszudifferenzieren, nach Kulturkreisen, ohne Individuen zu kulturalisieren. Wenn es keine Details zu den Herkunftsländern gibt, können sich auch die Flüchtlinge nicht dazu äußern – obwohl ihre Herkunft weiterhin maßgeblich ihre Identität, ihr Lebensgefühl und ihre Lebenslage bestimmt, auch in Hinsicht auf den aktuellen Status und die Anerkennungsquote.
Da die Autorin den Schwerpunkt darauf legt, die „Bildungsstruktur junger Flüchtlinge“, d.h natürlich den Zugang junger Flüchtlinge zum Bildungssystem zu untersuchen, geraten einige mindestens so wichtige Momente von Bildung bald ins Hintertreffen. Sie selbst bemüht eingangs Freire und Giroux, spricht von kritischer Reflexion, Autonomie, Empowerment – wozu gerade auch informelle Lernprozesse gehören. Gerne hätte man – von den Jugendlichen selbst – mehr erfahren über die Freizeitaktaktivitäten der Gleichaltrigengruppen. Andrerseits lernen wir auch, dass gerade Lehrkräfte, sofern sie sich über die Routine hinaus engagieren und flexibel auf die Bedürfnisse der Schüler/innen eingehen, sehr viel zur Stärkung und Orientierung der Jugendlichen beitragen. Es ist aber auch noch hervorzuheben, dass die Schule „emotionale Verortung“ bringt: Ein Interviewpartner steigert sich gar zu der Aussage: „Schule macht Spaß“. Nehmen wir solche Potentiale endlich wahr.
Fazit
Die Autorin sieht in ihrer Dissertation einen „wichtigen, ersten Schritt zur Erklärung der Bildungsteilhabe junger Flüchtlinge“. Dem ist voll zuzustimmen.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Berg
Hochschule Merseburg
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