Christian Schüle: Wir haben die Zeit. Denkanstöße für ein gutes Leben
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 08.06.2017

Christian Schüle: Wir haben die Zeit. Denkanstöße für ein gutes Leben. Edition Körber (Hamburg) 2017. 260 Seiten. ISBN 978-3-89684-197-1. D: 22,00 EUR, A: 22,60 EUR, CH: 31,90 sFr.
Euzôia – das gute Leben
Im anthropologischen Diskurs um die Fragen: Was ist der Mensch? – Wie will und soll er sein?, leuchtet immer wieder die Hoffnung auf, dass es ihm gelingen möge, ein gutes, gelingendes Leben zu führen. In der aristotelischen Gleichstellung von eu zên, gut leben und eudaimonia, Glück, kommt zum Ausdruck, dass ein gutes Leben ein sittliches und autarkes Dasein sein sollte und sich im guten, humanen Denken und Handeln zeigt. Im alltäglichen wie im institutionellen, philosophischen Diskurs gilt deshalb die Herausforderung und Aufgabe, nach Möglichkeiten zu suchen und sich anzueignen, wie ein gutes Leben erworben werden kann.
Es ist die Frage nach dem Sinn des individuellen und kollektiven, gesellschaftlichen Lebens, das als intellektueller Anspruch in vielfältigen Adaptionen, Affirmationen, Agenden, Akkumulationen, Aktionen und Akzenten reflektiert und diskutiert wird. Die Bemühungen füllen Bibliotheken, verkünden Utopien und lassen gleichzeitig Lücken, wie es gelingen könne, ein individuelles und gleichzeitig für alle Menschen mögliches gutes, gelingendes Leben zu erreichen.
Autor und Zielsetzung
Christian Schüle, Philosoph, Publizist, Essayist und Schriftsteller, will mit seinem Buch „Wir haben die Zeit“ diesen intellektuellen Unternehmungen kein weiteres hinzufügen. Vielmehr unternimmt er den Versuch, die humanen Werte – Arbeit, Zeit, Leben – zusammen zu denken und eine Utopie zu entwickeln, wie in den Zeiten der Ungewissheiten, Unsicherheiten, Haltlosigkeiten, Entgrenzungen und Alles-Machbaren die menschliche Sehnsucht nach einem guten Leben denkbar werden könnte: „Es wird eine Antwort auf die Frage zu geben versucht, wie unter permanent sich wandelnden Sozial- und Kulturverständnissen, bei steigender Lebenserwartung und ausbleibenden Geburten neue Lebensentwürfe denkbar werden und Leben, Arbeit und Zeit auf eine bisher nicht bekannte Weise austariert, organisiert und aufeinander bezogen werden können“; fürwahr, eine Herkulesaufgabe!
Aufbau und Inhalt
Das Essay wird, neben dem Vorwort, in zwei Kapitel gegliedert: Im ersten diskutiert der Autor mit den Stichworten „Arbeit und Sein“ die „Phänomenologie der Gegenwart“, und im zweiten wird mit „Sorge und Zeit“ die „Utopie eines Humanismus“ reflektiert. Hetze und Muße, Geschäftigkeit und Gelassenheit, monochrom und polychrom – mit diesen Unterscheidungen lassen sich Typenbilder charakterisieren, wie sie sich als M-(monochrom)Zeit-Kultur-Menschen und P-(polychrom)Zeit-Kultur-Menschen darstellen (vgl. dazu auch: Peter A. Levine, Sprache ohne Worte – Die Botschaften unseres Körpers verstehen. Das Grundlagenbuch zu Trauma, Selbstregulation und dem Finden von innerer Balance, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11727.php; sowie: Bruno Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17992.php). Die Beschleunigung und Verfügbarkeit der Menschen in den Zeiten von Individualismus, Kapitalismus, Marktgängigkeit und Digitalisierung bewirkt, dass „die Komplementärfigur zum unternehmerischen Selbst (sich als) das erschöpfte Selbst“ darstellt. Die Reflexionen über die Tugenden und Wertvorstellungen wie „Glück“, „Wohlbefindlichkeit“, „Leistung“, „Erfolg“, und die Gegenerscheinungen wie „Angst“, „Entgrenzung“, münden in der „Degenerierung des Menschen zur Ware (und) konkurrierender Ansprüche“.
Damit die Analyse und Bestandsaufnahme der Jetzt-Situation nicht zu einem katastrophalen, fatalistischen und ohnmächtigen „Da-kann-man-nichts-machen“ wird, entwirft der Autor im zweiten Teil eine „Utopie eines Humanismus 4.0“. Er zeigt „an der Schwelle einer kognitiven Epoche“ die Fehlentwicklungen und Irrwege mit der Frage auf: „Wie konnte es so weit kommen?“. Er verweist auf die sozialen und kulturellen Veränderungsprozesse, und er entwirft Leitfragen für eine humane Zukunftsgestaltung:
- Zeit ist wichtiger als Geld.
- Kooperation ist wichtiger als Egoismus.
- Ergebnisorientierung ist wichtiger als Anwesenheitspflicht.
- Netzwerke sind wichtiger als Hierarchien.
- Weiterentwicklung und Selbstbestimmung sind wichtiger als Stabilität und Effizienz.
Die „Wertewende“ freilich lässt sich nicht realisieren, wenn es nicht gelingt, dem aktuellen und wohlfeilen Streben nach der lokalen und globalen Erhaltung des Status quo Einhalt zu gebieten und neue Formen eines humanen Zusammenlebens der Menschen zu entwickeln (vgl. dazu z.B. auch: medico international, Hg., Fit für die Katastrophe? Kritische Anmerkungen zum Resilienzdiskurs im aktuellen Krisenmanagement, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22199.php). Es braucht neue, anthropologische Zeit-, Arbeits- und Daseinsvorstellungen, um den gegenwartsbelastenden und zukunftsgefährdenden Entwicklungen zu entkommen und Ordnungs- und Organisationsformen einzuführen, die bisher zwar gedacht, aber nicht verwirklicht werden können, wie z.B. das „Bedingungslose Grundeinkommen“, die Einführung eines „Wertkontos“ und des Perspektivenwechsels hin zu einem neuen Bewusstsein für eine „sorgende, solidarische Gemeinschaft“.
Fazit
Die in zahlreichen Analysen und Fallbeispielen aufgezeigten und diskutierten, neoliberalen und menschenunwürdigen – aber auch selbstgemachten und -gewollten Entwicklungen des M-Zeit-Menschen – sind Fakt, aber kein Schicksal! Vielmehr gibt es reale Visionen, wie den Exzessen und Fehlentwicklungen entgegnet werden könnte. Der notwendige Perspektivenwechsel braucht kein, wie Christian Schüle betont, revolutionäres Verändern und kein Echo gewaltiger Fanfarenstöße, sondern „den Geist der Erkenntnis und den Mut zur Einsicht, dass die eigene Freiheit immer die Freiheit des anderen ist“; denn „Solidarität ist die allgemeine Sehnsucht nach Zeit und Sorge, nach Zuwendung, Gemeinsinn und vor allem Sicherheit“. Ist es die Wiederentdeckung der uralten Menschheitssehnsucht, dass die jedem Menschen angeborene Würde die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt ist, wie dies in der „globalen Ethik“, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 postuliert wird, die das Essay „Wir haben die Zeit“ zu einen wichtigen und bedeutsamen Baustein beim immerwährenden und immer wieder neu zu errichtenden Gebäude der Humanität machen? Die Zugangsweisen Schüles, die Werte – Arbeit, Zeit, Leben – zu einem Ganzen und Gemeinsamen zu verbinden, sind es wert, im individuellen, gesellschaftspolitischen, aufgeklärten und Bildungs-Diskurs um eu zên zu beachten.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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