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Matthieu Ricard: Allumfassende Nächstenliebe

Rezensiert von Prof. Dr. Christian Schulte-Cloos, 25.04.2017

Cover Matthieu Ricard: Allumfassende Nächstenliebe ISBN 978-3-9816188-3-9

Matthieu Ricard: Allumfassende Nächstenliebe. Altruismus - die Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit. Edition Blumenau (Hamburg) 2016. 915 Seiten. ISBN 978-3-9816188-3-9. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR.

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Thema

In Zeiten politisch-gesellschaftlicher Verunsicherung wird der Bedarf an Orientierung größer, zumal dann, wenn gleichzeitig traditioneller Sinn-Stifter wie die Religion an Glaubwürdigkeit verlieren. Im Ideal der Nächstenliebe sieht Ricard eine solche leitende Orientierung und Handlungsmaxime für Menschen in den unterschiedlichen Kulturen, insbesondere, wenn der Nächstenliebe über rein christliche Konnationen hinaus erweitert verstanden wird. Das vorliegende Buch macht den Versuch, umfangreich zu dokumentieren, warum und wie Altruismus zu einem allumfassenden Wert und Orientierungspunkt für die gegenwärtige und zukünftige Gesellschaft werden kann.

Autor

Ricard wurde 1946 in Paris geboren. Der Molekularbiologie und promovierte Zellgenetiker gab seine wissenschaftliche Laufbahn auf, um als Mönch im Himalaya über 25 Jahre die buddhistischen Lehren zu studieren. Seine Werke über buddhistische Philosophie wurden in viele Sprachen übersetzt. Der Bestsellerautor tritt weltweit als Gastredner auf, u.a. auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Auf der Internetplattform TED haben über sieben Millionen Menschen seine Vorträge über Glück und Nächstenliebe verfolgt. Matthieu Ricard engagiert sich für die wissenschaftliche Erforschung der Auswirkungen von Mediation auf unser Gehirn. Er lebt in Nepal und widmet den Großteil seiner Zeit 140 von ihm initiierten humanitären Projekten in Tibet, Indien und Nepal. (aus: Verlagsveröffentlichung)

Entstehungshintergrund

Zielsetzung des Buches ist sicherlich, nachhaltig für ein Menschenbild in Gesellschaft und Politik, aber auch in individueller Lebensorientierung zu werben, welches Altruismus zur allgemeinen Maxime menschlichen Handelns macht. Der Autor zeichnet hierbei auch einen eigenen Erkenntnisweg nach: Vom Wissenschaftler über den im Buddhismus Sinn Findenden bis hin zum akribisch wissenschaftlich belegenden Autor und Referenten ist der Autor beseelt vom Gedanken, für ein geläutertes Menschenbild zu werben. Das vorliegende Buch legt hierfür beredt Zeugnis ab.

Aufbau und Inhalt

Das Buch besteht aus sechs Teilen und einen angehängten Anmerkungsteil.

Ricard schildert in einem einleitenden Kapitel des ersten Teils seinen Erkenntnisweg und die Notwendigkeit einer Veränderung des die Welt dominierenden westlich geprägten und kapitalistisch orientierten Welt- und Menschenbildes hin zu einem durch Altruismus geprägtem Denken und Handeln. Hieran an schließt sich eine Annäherung an das Phänomen unter dem Titel „Was ist Altruismus?“ Der Autor verweist auf verschiedene Definitionen, und sieht in Altruismus nicht nur eine Handlung (zum Wohle des anderen als Selbstzweck), sondern eine Haltung, die Denken und Handeln im sozialen Kontext bestimmt. Dies belegt er an Beispielen und Definitionen aus Philosophie, Psychologie und Religion und immer wieder auch anhand eigener Erfahrung mit anderen ihn beeindruckenden Menschen. Es gelte allerdings, diesen Begriff zu erweitern: „Altruismus braucht das Licht der Einsicht und der Weisheit“ (S.34), braucht das Bedürfnis, sich am Glück der anderen ohne Parteilichkeit zu erfreuen, braucht Offenheit und Neugier für das Andere und lässt in diesem Sinn Unwissenheit in Verbundenheit zu. Im dritten Kapitel des 1. Teil setzt der Autor sich dann mit dem Phänomen „Empathie“ auseinander („in Resonanz mit dem Anderen treten“) – auch hier differenziert er deutlich (der Autor unterscheidet fünf Formen- S.55 ff) und belegt mit Beispielen. Mit Ergebnissen aus neurowissenschaftlicher Forschung beschäftigt er sich anschließend und legt dar, in wie fern „Liebe“ („das größte der Gefühle“) für eine emotionale Fundierung von Altruismus sorgen kann. Dass Gutes tun auch die eigene Person einschließt verdeutlicht der Autor im folgenden Kapitel.

Im 2. Teil des Buches geht der Autor in 7 Kapiteln der Frage nach, ob es „wirklichen Altruismus“ gibt. Er grenzt hierbei eigennützigen von uneigennützigen Altruismus ab, und geht im 9.Kapitel besonders auf die „Banalität der Guten“ ein: den vielen alltäglichen und ganz selbstverständlichen Taten in Solidarität mit anderen Menschen. Die folgenden Kapitel sind mit „Heldenhafter“ und „Bedingungsloser“ und „Echter Altruismus“ überschrieben – auch hier werden vermeintliche Sonderformen altruistischen Verhaltens anhand von Beispielen und auch Laborexperimenten voneinander abgegrenzt. Der Teil endet mit einem philosophisch orientiertem Appell gegen allgemein verbreiteten Egoismus.

Im 3. Teil geht es dem Autor darum, zu verdeutlichen, wie Altruismus auch evolutionstheoretisch erklärt werden kann, wie Altruismus also naturgeschichtlich entstanden ist. Dabei setzt sich der Autor u.a. mit der Theorie der sog. Egoistischen Gene auseinander und gibt Belege,die gegen diese sprechen. Über Mutterliebe als vermeintliche soziale Grundlage, über kulturspezifische Entwicklungsbedingungen, schließlich einem Exkurs in die Tierwelt und der Frage, ob auch Tiere altruistisch handeln können verfolgt der Autor den Gedanken nach den Ursprüngen bis hin zu psychologischen Entwicklungsbedingungen in der Ontogenese. Mit Überlegungen zu Prosozialem Verhalten schließt der Autor diesen Teil und insgesamt die grundlegenden Aspekte der Thematik ab.

Nachdem nun klar gemacht wurde, dass die Entwicklung von Altruismus beim Individuum, in Gruppen und Kulturen nicht selbstverständlich geschieht, sondern gefördert werden muss setzt sich der Autor im Teil 4 mit der „Einübung von Altruismus“ auseinander. Die Kapitelüberschriften mögen als thematischer Einblick genügen: „Können wir uns ändern“, „Die Übung des Geistes“, „Was die kognitiven Wissenschaften sagen“ und „Altruismus einüben“ werden sie betitelt.

Dass die Entwicklung einer neuen Haltung immer auch auf Wiederstände stößt, erzwingt quasi die Auseinandersetzung mit „gegenläufigen Kräften“- das Thema des 5. Teils des Buches. Über 13 Kapitel und fast 250 Seiten setzt der Autor sich differenziert gerade deshalb damit auseinander, weil ohne Kenntnis der Fallstricke und „Feinde“ die Umsetzung einer neuen Haltung, eines geläuterten Humanismus ihm nicht möglich erscheint. Der interessierte Leser dieser Besprechung sei wegen der inhaltlichen Fülle dieses Teils auf die Titel der Kapitel im Inhaltsverzeichnis des Verlags verwiesen.

Schließlich der 6. und letzte Teil des Werkes: „Eine altruistische Gesellschaft aufbauen“. Dass hierzu in Familie, Erziehung, Gesellschaft und Wirtschaft/Ökologie Änderungen notwendig sind, versteht sich von selbst und wird von Ricard wieder kenntnisreich belegt. Mit einer knappen Schlussbetrachtung (nur 3 Seiten) schließt der Autor seine Arbeit unter Hinweis auf den fünfjährigen Entstehungsprozess, über die vielen Kontakte mit relevanten Wissenschaftlern, seiner religiösen Läuterung zum Buddhismus ab – der Leser spürt den Stolz über die geleistete Arbeit, das Durchhaltevermögen und etwas auch die Erschöpfung des Autors nach 743 Seiten.

Reichlich Anmerkungen (163 Seiten) und Danksagung führen schließlich zum Rück-Cover des Buches.

Diskussion und Fazit

Fraglos stellt das Buch gerade auch mit seinen reichhaltigen Belegen aus Wissenschaft und Literatur, mit seien Beispielen aus Begegnungen mit anderen Menschen einen Beitrag dar, über Bedingungen und Entwicklungen in unserer Gesellschaft nachzudenken. Bewusst ist es parteiisch im Sinne eines dringenden Plädoyers für den individuellen und gesellschaftlichen notwenigen Wandel- einen Wandel, dessen Zielrichtung eben die Erreichung eines geförderten, praktizierten und verteidigten Altruismus ist. Der Autor lässt es diesbezüglich nicht bei einem Glaubensbekenntnis- schließlich ist er nicht ausschließlich religiös bestimmt, sondern in seiner Vita wissenschaftlich geschult. Und so durchforstet er die verfügbare Literatur, begegnet Wissenschaftler, die das Phänomen Prosozialen Verhaltens in unterschiedlichen wissenschaftlichen Kontexten untersucht haben und vertieft/ konkretisiert diese Ergebnisse immer wieder mit Beispielen von Alltagsmenschen und deren Handeln ganz im Sinne eines Altruismus. Der Gründlichkeit gebührt Respekt – allerdings geht der Autor das Risiko ein, dass der Leser wegen Redundanzen einerseits, wegen der Unmöglichkeit, die Qualität der zitierten Studien zu prüfen andererseits, wegen der Informationsfülle insgesamt ermüdet. Man fragt sich dann, für wen der Autor bei diesem wichtigen Thema geschrieben hat- für sich selbst, um die Fülle des gesammelten Materials in einem Werk zu fassen? Altruistisch für andere? Nun ja: zumindest der Rezensent wünscht sich eine Kurzform mit dem Fokus auf Wesentliches – der Hinweis auf eine 2016 ausgestrahlte Sendung in 3Sat- Scobel – sei deshalb erlaubt.

Für Leser, die gewohnt sind, aus einem Füllhorn von Informationen verdichtend Essenz zu extrahieren, gerne empfohlen.

Rezension von
Prof. Dr. Christian Schulte-Cloos
Hochschullehrer Hochschule Fulda, Fachbereich Sozialwesen, seit 31.8.2011 pensioniert
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Es gibt 90 Rezensionen von Christian Schulte-Cloos.

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Zitiervorschlag
Christian Schulte-Cloos. Rezension vom 25.04.2017 zu: Matthieu Ricard: Allumfassende Nächstenliebe. Altruismus - die Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit. Edition Blumenau (Hamburg) 2016. ISBN 978-3-9816188-3-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22090.php, Datum des Zugriffs 28.03.2023.


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