Theresia Degener, Klaus Eberl et al. (Hrsg.): Menschenrecht Inklusion
Rezensiert von Dr. Axel Bernd Kunze, 12.09.2017
Theresia Degener, Klaus Eberl, Sigrid Graumann, Olaf Maas, Gerhard K. Schäfer (Hrsg.): Menschenrecht Inklusion. 10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention - Bestandsaufnahme und Perspektiven zur Umsetzung in sozialen Diensten und diakonischen Handlungsfeldern. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2016. 379 Seiten. ISBN 978-3-7887-3080-2. D: 39,00 EUR, A: 40,10 EUR, CH: 53,90 sFr.
Thema
Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN) von 2006, die seit März 2009 für Deutschland verbindlich ist und erstmals auch von der Europäischen Union als solcher eigenständig unterzeichnet wurde, trägt neue Töne in die Menschenrechtsdebatte ein. Der Grund hierfür sind drei Perspektiven, die den Text durchgängig prägen: Empowerment (Ermächtigung), Diversity und soziale Inklusion (Einbeziehung). Inzwischen ist das Vertragswerk zehn Jahre alt: Grund für eine Bochumer Fachtagung, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Was hat sich durch die Konvention in den verschiedenen Feldern diakonischer Praxis verändert? Welche Perspektiven ergeben sich für die Zukunft?
Herausgeber
Die Herausgeber kommen alle aus dem Umfeld der rheinischen Landeskirche, sei es als Hochschullehrer im Kirchendienst oder in leitender Funktion im Landeskirchenamt oder der Diakonie.
Theresia Degener ist Professorin für Recht und Disability an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum, Sigrid Graumann ist Professorin für Ethik an der Evangelischen Hochschule ebendort. Gerhard K. Schäfer, Rektor der genannten Hochschule, lehrt dort Gemeindepädagogik und Diakoniewissenschaft.
Pfarrer Klaus Eberl ist hauptamtliches Mitglied der Kirchenleitung und Leiter der Abteilung Bildung im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche im Rheinland, er ist zugleich Vizepräsident der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. Olaf Maas war bis 2015 Geschäftsbereichsleitung Pflege, Alten- und Behindertenarbeit bei der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe in Düsseldorf.
Entstehungshintergrund
Der Band dokumentiert eine internationale Fachtagung vom Juni 2013 an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum, die aus Mitteln der Aktion Mensch, des Ministeriums für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, der KD Bank Stiftung, des Vereins der Freunde und Förderer der Hochschule, der Wohnungsbaugesellschaft Bochum sowie der Hochschule selbst gefördert wurde.
Der zehnte Jahrestag der Verabschiedung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen wurde zum Anlass genommen, die Zusammenarbeit zwischen der Hochschule, der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe sowie den Landeskirchen im Rheinland, in Westfalen und in Lippe zu intensivieren. Ziel der Fachtagung, die als erster Schritt einer vermehrten Zusammenarbeit gedacht ist, war es, „Fragen der Umsetzung der UN BRK in den Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit, Heilpädagogik, Pflege und Diakonie kritisch und konstruktiv“ (S. 1) zu erörtern.
Aufbau
Im Fokus des Bandes steht das neue Inklusionsparadigma, das mit der UN-Behindertenrechtskonvention zentral im internationalen Menschenrechtsregime verankert wurde. Nach einem Vorwort der Herausgeber gliedert sich der Band in zwei Hauptteile:
- Im ersten Teil werden grundlegende Perspektiven der Behindertenrechtskonvention und der mit ihr verbundenen Veränderungen diskutiert (I.).
- Im zweiten Teil werden diese dann am Beispiel praktischer Handlungsfelder erprobt (II.). Die Beiträge in diesem Teil sind lebenslaufbezogen geordnet.
Ein Autorenverzeichnis beschließt den Band.
Zu I. Grundlagen und Perspektiven
Den Auftakt macht Theresia Degener aus dem Herausgebergremium, die sich mit den völkerrechtlichen Grundlagen und den zentralen Inhalten der UN-Behindertenrechtskonvention beschäftigt. Deutlich wird der Paradigmenwechsel, den die Konvention gebracht hat: weg vom medizinischen Modell von Behinderung zu einem sozialen Modell.
Sigrid Graumanns Überlegungen schließen direkt daran an: Welche Folgen hat die veränderte Sicht der Behindertenrechtskonvention für das Selbstverständnis der Sozialpolitik und der verschiedenen sozialen Dienste gezeitigt? Graumann spricht für die diakonische Praxis von einem Paradigmenwcechsel weg von wohltätigkeits- hin zu rechtebasierten Ansätzen – auch gegen bleibende Widerstände der Inklusionskritiker: „Die Auseinandersetzungen mit den inklusions-kritischen Einwänden hat aber gezeigt, dass ein Menschenrechtsverständnis, in dem Menschenrechte primär als negative Rechte oder Nichtinterventionsrechte aufgefasst werden, in der Tat alle Menschen systematisch aus ihrem Schutzbereich ausschließen, die unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen nicht aus eigenen Stücken ihre Rechte wahrnehmen können“ (S. 70 f.).
Gerhard K. Schäfer zeigt auf, wie Menschen mit Behinderung historisch in der Kirche und ihrer Diakonie wahrgenommen wurden. Für die Reformation zeichnet Schäfer ein durchaus widersprüchliches Bild: Oft wenig wahrgenommen, habe Luther dazu beigetragen, die Bildsamkeit von Taubstummen anzuerkennen – ein entscheidender Schritt zu Beginn der Neuzeit. Andererseits sah sich Luther in einem endzeitlichen Kampf zwischen Gott und seinem Widersacher, in dem für ihn die mittelalterliche Vorstellung von „Wechselbälgern“ – Säuglingen, die einer Wöchnerin vom Teufel im Austausch gegen ihr Kind untergeschoben wurden – weiterhin eine wichtige Rolle spielte. Am Ende seines Beitrags zeigt der Diakoniewissenschaftler am Beispiel des „Leitbilds in einfacher Sprache“ der „Hephata“-Anstalten auf, wie diakonische Träger offen und transparent mit dunklen Phasen ihrer Geschichte, beispielsweise während der nationalsozialistischen Euthanasie, umgehen können.
Wie drückt sich Inklusion im kirchlich-diakonischen Selbstverständnis aus? Dieser Frage geht Klaus Eberl nach. Für den Autor und Mitherausgeber stellt Inklusion eine menschenrechtliche Leitnorm dar. Die Kirche habe im Sinne einer biblischen „Option für die Schwachen“ diese anwaltschaftlich einzufordern und selbst in ihrem eigenen Engagement umzusetzen – auch gegen paternalistische Strategien im bürgerlichen Milieu der Kirchengemeinden.
Heinrich Greving und Petr Ondracek beleuchten im Anschluss das Inklusionsparadigma aus heilpädagogischer Perspektive. Die Disziplin sollte in ihrer Didaktik und Methodik die bisherigen Ansätze noch stärker auf ihre Vereinbarkeit mit dem neuen Verständnis sozialer Teilhabe prüfen. Zugleich stelle sich der Heilpädagogik dadurch die Herausforderung, ihr eigenes Selbstverständnis stärker als bisher an allgemeinpädagogische Perspektiven anzuschließen.
Hildegard Mogge-Grotjahn greift in ihrem – klar und übersichtlich gegliederten – Beitrag die Theorie der Intersektionalität auf, die zunächst in feministischen Diskursen entstanden sei. Dabei handelt es sich um eine besondere Analyseperspektive zur Wahrnehmung sozialer Ungleichheit. Am Ende plädiert sie dafür, die Behindertenrechtskonvention nicht auf eine allein behinderungsbezogene Sicht zu verkürzen, sondern intersektional verschränkt zu lesen, also Exklusion aufgrund von Behinderung mit anderen Exklusionsdimensionen zu verknüpfen.
Uwe Becker macht auf die Gefahr einer möglichen Entpolitisierung aufmerksam: Wirksame Inklusion könne keinesfalls ein politisches Sparprogramm sein. Wer Inklusion fordert, müsse sich bewusst sein, dass es nicht um den Einschluss in bestehende Systeme unter Beibehaltung ihrer Beharrungskräfte gehe.
Zu II. Handlungsfelder und Praxisimpulse
Irmgard Eberl, Klaus Eberl, Sigurd Hebenstreit und Michaela Moser eröffnen den zweiten Hauptteil mit einem Beitrag zur inklusiven Frühpädagogik: „Der frühpädagogische Bereich bedarf insgesamt einer Professionalisierung und weitergehenden beruflichen Ausbildung. Dies gilt auch für die inklusive Arbeit, die verbindlicher Bestandteil einer hochwertigen akademischen Ausbildung für Kindergartenfachkräfte sein muss“ (S. 183 f.). Als „Best-practice-Beispiel“ wird die Kindertagesstätte Rosengarten aus Wassenberg vorgestellt.
Dirk Nüsken und Hiltrud Wegehaupt-Schlund beschäftigen sich mit notwendigen Reformschritten im Bereich der Erziehungshilfe – unter dem programmatischen Titel: „Der Inklusionsanspruch gilt allen Kindern und Jugendlichen“. Wichtige Elemente inklusiver Erziehungshilfe sind für sie eine Vernetzung von Jugendhilfe und Schule, aktivierende und partizipative Elternarbeit, milieunahe Wohngruppen sowie ein Konzept der Multisystematischen Therapie.
Hans- Jürgen Balz, Kathrin Römisch, Martin Weißenberg und Kurt-Ulrich Wiggers fragen nach wünschenswerten Veränderungen in den Bereichen Arbeit, Wohnen und Partnerschaft. Solche seien notwendig, da die bisherigen Angebote der Eingliederungshilfe die behindertenbedingten Barrieren nicht aufheben konnten. Als „Leuchtturmprojekte“ werden das Arbeits- und Qualifizierungsangebot für Menschen mit schwersten mehrfachen Behinderungen „Caput Redaktion“, das Projekt PIKSL zur Förderung von Medienkompetenz, das Appartementhaus Weimar und die „Persönliche Zukunftsplanung und Teilhabebegleitung“ des Sozialwerks St. Georg vorgestellt.
Wie kann inklusives Wohnen und Leben im Alter gelingen? Silke Gerling und Helene Ignatzi stellen als Modellprojekt das Heinrich-Held-Haus des Diakoniewerks Essen vor. Als konstruktiv-stimulierend habe sich vor allem die Gemeinschaft zwischen Menschen mit und ohne geistige Behinderung im Alter für das Zusammenleben und die Atmosphäre im Haus herausgestellt.
Siegfried Bouws, Christian Grabe und Stefan Schache widmen sich dem Thema Quartiersarbeit und Sozialraumbegleitung. Angesichts der anhaltenden Diskussion über Chancen und Grenzen dieses Ansatzes plädieren sie am Ende für klare Verantwortlichkeiten und eine ausreichende Ressourcenausstattung. Sozialraumbegleitung könne Impulse für eine veränderte Haltung setzen und den Boden für notwendige Transformationsprozesse bereiten. Die sozialen Dienste müssten diese zugleich durch politische Lobbyarbeit und konkrete Vernetzungen begleiten. Doch müssten die Erwartungen realistisch bleiben: Gesellschaftliche Verursachungszusammenhänge von Armut, gerade struktureller Art, lassen sich nicht im Gemeinwesen lösen.
Das Inklusionsparadigma verändere die Zusammenarbeit von Professionellen und Ehrenamtlichen, sind Beate Hofmann, Olaf Maas, Karen Sommer-Loeffen und Christine Stopping überzeugt. Seien Behinderte früher vor allem Nutzer sozialer Dienste gewesen, wollten sie jetzt stärker ihre eigenen Ressourcen und Fähigkeiten aktiv einsetzen – und das auch im Ehrenamt. Dies zwinge zum Überdenken überkommener Hilfeprojekte. Notwendig sei künftig eine Verzahnung von Unterstützungsbedarf und Engagement. Wie das konkret aussehen kann, wird am Beispiel der Essener Bahnhofsmission beleuchtet.
Zu voller sozialer Teilhabe gehört auch die Möglichkeit, sich künstlerisch auszudrücken und aktiv am kulturellen Leben teilzunehmen. Dieter Kalesse und Helene Skladny zeigen an der Arbeit des Ateliers Strichstärke auf, wie künstlerische Arbeit zur Inklusion beitragen kann.
Margret Osterfeld fragt nach der Zukunft des rechtlichen Betreuungswesens. Ziel müsse es sein, die Selbstbestimmung psychisch beeinträchtigter Menschen zu stärken. Die Autorin plädiert dafür, unter dem Einfluss einer inklusiven Sichtweise die Anwendung des Betreuungsrechts nicht allein juristisch zu betrachten, sondern dezidiert auch als diakonische Aufgabe zu betrachten und auszugestalten. Exklusion werde in diesem Feld solange ein Thema bleiben, wie professionelle Denkmodelle sich vor allem darum drehten, Betroffenen Einwilligungsfähigkeit und Entscheidungsfähigkeit abzusprechen.
Harald Herderich beschäftigt sich abschließend mit Fragen von Stellvertretung und Zwang im Bereich diakonischer Dienste. Betreuungsrichter segneten allzuoft medizinische Akte ab, ohne sich die Mühe zu machen, sich einen persönlichen Eindruck von den Betroffenen zu verschaffen. Der als Persönlicher Assistent tätige Autor plädiert nicht zuletzt dafür, die Informationsrechte von Betroffenen mit psychischen Krankheiten deutlich zu verbessern.
Diskussion
Neuere sozialwissenschaftliche, konstruktivistisch orientierte Konzepte, die in der Menschenrechtsdebatte seit den Neunzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend an Einfluss gewonnen haben, werden mit der noch jungen Behindertenrechtskonvention erstmals in eines der großen Vertragswerke des internationalen Menschenrechtsregimes übernommen: als rechtlich abgesicherter und – im Vergleich zu früheren Auslegungen – erweiterter Anspruch auf Selbstbestimmung, Diskriminierungsfreiheit und gleichberechtigte Teilhabe. Findet sich die Idee sozialer Inklusion an prominenter Stelle erstmals 1994 in der sogenannten Salamanca-Erklärung der Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur der Vereinten Nationen (UNESCO), wird sie in der Behindertenrechtskonvention konzeptionell weiterentwickelt. Der vorliegende Tagungsband zeigt anschaulich und praxisnah auf, welche weitreichenden Veränderungen damit verbunden sind. Die Auswirkungen betreffen nahezu den gesamten Bereich der sozialen und diakonischen Dienste.
Das Konzept der sozialen Inklusion entstammt der Systemtheorie, stellte in deren Kontext allerdings noch kein Element kritischer Gesellschaftsanalyse dar. Inklusion meint im anfänglichen Sinne die Einbeziehung in die verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme aufgrund funktionsbezogener Entscheidungen. Dem zunächst funktionsbezogenen Verständnis von Inklusion wurde erst viel später der Gegenbegriff „Exklusion“ entgegengestellt, ohne den Inklusion nicht strategisch verwendet werden kann. Von Exklusion ist dort zu sprechen, wo Personen für kommunikativ irrelevant erklärt und nicht mehr innerhalb eines bestimmten Funktionssystems, beispielsweise innerhalb des Erziehungssystems, sozial adressiert und als Person anerkannt werden. Ausgrenzung kann sich beispielsweise im fehlenden Zugang zu bestimmten Bildungsangeboten oder in Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt zeigen.
Inklusion fordert die umfassende Einbeziehung aller, unabhängig von ihren äußeren Merkmalen, in die verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereiche und deren Institutionen. Steht bei Integration die Perspektive der Eingliederung in bestehende Strukturen im Vordergrund, betont der Inklusionsgedanke, dass es nicht darum gehen kann, dass sich die Einzelnen an bestehende Systeme oder Institutionen anpassen. Vielmehr müssen diese von vornherein so gestaltet werden, dass sie unterschiedlichen Bedürfnissen, Interessen und Persönlichkeitsmerkmalen gerecht werden.
Der Mensch erfährt seine Freiheit sozial vermittelt, darf aber nicht vollständig in der Gemeinschaft aufgehen. Ohne diese persönliche Freiheit besteht die Gefahr, dass sich Beteiligung in Bevormundung durch übermächtige Institutionen und staatliche Rund-um-Versorgung verkehrt, bei der die Wünsche des Einzelnen kein Gehör mehr finden. Die Behindertenrechtskonvention geht aber noch einen Schritt weiter und formuliert als Ziel, ein verstärktes Zusammengehörigkeitsgefühl (enhanced sense of belonging) zu fördern. Diese Forderung, die nicht zum etablierten Vokabular der internationalen Menschenrechte gehört, soll deutlich machen, dass nicht allein der Staat, sondern auch die Gesellschaft Einbeziehung verwehren kann.
Tendenzen, die Grenze zwischen universal gültigen Wesensgehalten und historisch-vorläufigen Interpretationen im Menschenrecht zu verwischen und damit auch die Spielräume fachpolitischer Aushandlung zu begrenzen, finden sich gleichfalls in politischen, zivilgesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Stellungnahmen. Ohne diese Spielräume wäre es letztlich auch nicht mehr möglich, die Menschenrechte weiterzuentwickeln; sie wären dann nur noch Antwort auf vergangene Unrechts- und Leiderfahrungen, könnten aber immer schwerer ihre Protest- und Widerstandsfunktion gegenüber neuen Formen von Ungerechtigkeit erfüllen. Die Menschenrechte sollen aber gerade jenen Freiraum offenhalten, der es erlaubt, über verschiedene Alternativen für die Ausgestaltung des sozialen Lebens politisch, wissenschaftlich und kulturell zu streiten, diese zu prüfen und weiterzuentwickeln.
Bis heute sind Reichweite und Stellenwert des neuen Inklusionsparadigmas umstritten. Der Band geht auf diese Diskussion nicht ein, sondern setzt das im Zuge des Inklusionsparadigmas deutlich ausgeweitete Verständnis der Menschenrechte als geklärt voraus. Damit reiht sich der Band in jene Stellungnahmen ein, welche die Grenze zwischen universal gültigen Wesensgehalten und historisch-vorläufigen Interpretationen im Menschenrecht zu verwischen drohen – damit werden auf Dauer aber auch die Spielräume fachpolitischer Aushandlung begrenzt. Ohne diese Spielräume wäre es letztlich aber auch nicht mehr möglich, die Menschenrechte weiterzuentwickeln; sie wären dann nur noch Antwort auf vergangene Unrechts- und Leiderfahrungen, könnten aber immer schwerer ihre Protest- und Widerstandsfunktion gegenüber neuen Formen von Ungerechtigkeit erfüllen.
Eine weniger affirmativ geführte Debatte über die Chancen, aber auch Grenzen der Behindertenrechtskonvention wäre dringend geboten. Denn wird das Menschenrecht mit Hilfe der Forderung nach umfassender oder radikaler Inklusion für das Projekt einer umfassenden Gesellschaftsreform in Anspruch genommen, besteht die Gefahr, auf Dauer jenen moralischen Grundkonsens zu beschädigen, dem sich die Universalität der Menschenrechte verdankt. Wollen diese doch gerade für alle moralisch einsichtig sein, die beanspruchen, als moralische Subjekte zu handeln. Verloren gehen könnte gerade das, was die Freiheitsrechte zu schützen beanspruchen: die freie Vergemeinschaftung der Einzelnen und damit auch der freie gesellschaftliche Diskurs. Von diesen beiden Zielen kann sinnvollerweise nur dann gesprochen werden, wenn auch eine legitime Pluralität an pädagogischen Konzepten und Vorstellungen des guten Lebens vorausgesetzt wird. Die Chance, diese Debatte zu führen, versagt sich der vorliegende Band. Dabei geht es nicht darum, das Inklusionsparadigma grundsätzlich infrage zu stellen, sondern differenziert zu beurteilen, damit es gerade nicht aus eigener Selbstüberschätzung irgendwann politisch unter die Räder kommt.
Auch in diesem Fall wird – schon im Titel des Bandes – von Inklusion als einem Menschenrecht gesprochen. Dieser Sprachgebrauch suggeriert, als könnten aus dem Prinzip sozialer Inklusion bereits direkt material gehaltvolle Ansprüche abgeleitet werden. Dies ist allerdings nicht der Fall, wenn Inklusion als interpretierendes Auslegungsprinzip verstanden wird. Ähnliches gilt für die Menschenwürde, die selbst keinen subsumtionsfähigen Rechtssatz darstellt, sondern vielmehr ein Rechtsprinzip, das der Entfaltung in konkreten Rechtssätzen bedarf; bei der Menschenwürde handelt es sich nicht um eine „lex“, sondern um eine „ratio legis“, welche die Auslegung der Menschenrechte leitet. Schon gar nicht kann Inklusion aus systematischer Perspektive beides zugleich sein: Menschenrechtsprinzip und Menschenrecht. In einem solchen Fall wäre bereits von vornherein entschieden, welches Prinzip bei der Realisierung der Menschenrechte vorrangig zu behandeln wäre; einem Ausgleich konkurrierender Ansprüche, etwa mit komplementären Freiheits- oder Gleichheitsansprüchen, wäre im Voraus der Boden entzogen. Letztlich würde das Inklusionsprinzip seine kritische, die Menschenrechte fundierende Funktion einbüßen, da es mit allen möglichen materialen Forderungen aufgeladen werden könnte, eine formale Regel, nach der diese – möglicherweise miteinander konkurrierenden – Einzelansprüche aber abgewogen werden könnten, jedoch nicht mehr zur Hand wäre.
Inklusion ist vielmehr als rechtlich begründetes Leitprinzip zu respektieren, dann aber diakoniewissenschaftlich oder sozialpädagogisch differenziert auszulegen. Ob Inklusion gelingt, kann nicht allein politisch oder ethisch entschieden werden, vielmehr muss die Qualität der sie realisierenden sozialen Praxis beurteilt werden. Ein realitätsferner, inflationärer oder emphatisch überhöhter Gebrauch der Inklusionsmetapher führt nicht weiter; denn mit vielleicht gutgemeinten, aber schlecht oder überhastet umgesetzten Reformprojekten, auch das macht der Band an verschiedenen Stellen deutlich, ist am Ende niemandem gedient. Eine ausgewogene, im ursprünglichen Wortsinne „vor-urteilsfreie“ Debatte über die Chancen, aber auch Grenzen des Inklusionsparadigmas wäre dringend geboten, zumal hierfür erhebliche Ressourcen gebunden werden würden.
Fazit
Der Band zieht zehn Jahre nach Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention, die den gesellschaftlichen Aktionsradius des internationalen Menschenrechtsregimes deutlich ausgeweitet hat, eine erste Zwischenbilanz: Was hat sich mit dem neuen Inklusionsparadigma verändert? Der Veränderungsdruck auf die verschiedenen sozialen Dienste und diakonischen Handlungsfelder wird anschaulich deutlich. Allerdings wird die Debatte ausschließlich affirmativ geführt. Die Frage nach den Grenzen einer inklusiven Umsteuerung der Sozial- und Gesellschaftspolitik wird nicht gestellt.
Rezension von
Dr. Axel Bernd Kunze
Privatdozent für Erziehungswissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
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Zitiervorschlag
Axel Bernd Kunze. Rezension vom 12.09.2017 zu:
Theresia Degener, Klaus Eberl, Sigrid Graumann, Olaf Maas, Gerhard K. Schäfer (Hrsg.): Menschenrecht Inklusion. 10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention - Bestandsaufnahme und Perspektiven zur Umsetzung in sozialen Diensten und diakonischen Handlungsfeldern. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2016.
ISBN 978-3-7887-3080-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22093.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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