Ralf Lottmann, Rüdiger Lautmann et al. (Hrsg.): Homosexualität_en und Alter(n)
Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 27.12.2016

Ralf Lottmann, Rüdiger Lautmann, María do Mar Castro Varela (Hrsg.): Homosexualität_en und Alter(n). Ergebnisse aus Forschung und Praxis. Springer VS (Wiesbaden) 2016. 235 Seiten. ISBN 978-3-658-14007-6. D: 39,99 EUR, A: 41,11 EUR, CH: 41,50 sFr.
Thema und Entstehungshintergrund
Simone de Beauvoirs Werk „Das andere Geschlecht“ wurde queer-feministischerseits beachtet; ihre ebenso umfassende und lesenswerte Studie „Das Alter“ wurde es nicht in gleichem Maß. Dabei geht sie in „Das Alter“ minutiös den gesellschaftlichen Prozessen nach, mit denen Menschen als defizitär beschrieben und als „unbrauchbar“ entwertet werden. Alter ist in der deutschen Gesellschaft als Thema noch kaum mehrheitsfähig, es sei denn, dass von einem „aktiven Älterwerden“ die Rede ist – dass sich Menschen also auch im Alter fit erhalten und „jung bleiben“ sollen. Oder dass ab und an von unhaltbaren Zuständen in Pflegeeinrichtungen die Rede ist, ohne dass auch nur grundlegend auf weiterreichende – z.B. sexuelle – Bedürfnisse der gepflegten Menschen gesehen würde. Schon von der Situation ökonomisch schlechter gestellter Menschen ist in den Diskussionen kaum die Rede; diese Menschen sind durch harte Erwerbsarbeit deutlich häufiger und schwerer von Erkrankungen betroffen als Personen der Mittelschicht, so dass die Aufrufe, agil zu bleiben, weniger oder nicht erfüllt werden können; Pflegeeinrichtungen können sie sich oft nicht oder nur als Minimalangebot leisten. So oder so: Altern in einem Sinne, nicht mehr so gut „zu funktionieren“, ist gesellschaftlich nicht Thema.
Diese Nicht-Thematisierung betrifft in noch größerem Maße gesellschaftlich marginalisierte Gruppen. Auf die Leerstelle in Bezug auf sich als lesbisch, schwul, bi, trans*, inter* und/oder queer (LSBTIQ*) definierende Personen weist der von Ralf Lottmann, Rüdiger Lautmann und María do Mar Castro Varela herausgegebene Sammelband „Homosexualität_en und Alter(n): Ergebnisse aus Forschung und Praxis“ hin, der im Herbst 2016 bei SpringerVS erschienen ist. Dabei liegt der Fokus auf LSBT* (zu Inter* und Queer finden sich keine Ausführungen). Der Band schließt dabei an das Forschungsvorhaben „Gleichgeschlechtliche Lebensweisen und Selbstbestimmung im Alter“ (GLESA) an, das in Kooperation der Alice Salomon Hochschule und der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin durchgeführt wurde. Gleichwohl wurden für den Band auch weitere Beitragende gewonnen.
Überblick über den Band
Zentral orientiert der Band darauf, wie LSBTI*-Personen respektvoll altern können und dabei ihre sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität nicht verstecken müssen. Diagnostiziert wird, dass die herkömmlichen Einrichtungen für alternde Menschen die Situation von LSBTI*-Personen in der Regel nicht reflektieren und diese Personengruppe gewollt oder unbedacht diskriminieren. Bei den Betrachtungen fokussiert der Sammelband auf Mehrgenerationenhäuser und Pflegeeinrichtungen spezifisch für LSBT*, wie das Berliner Wohnprojekt „Lebensort Vielfalt“ (LoV). Solche Einrichtungen kommen erst ganz vereinzelt und zögerlich in Deutschland auf.
Im Band sind Beiträge versammelt, die auf Erfahrungen aus der Praxis fokussieren (Kapitel 2); sie sind verzahnt mit vornehmlich forschungsorientierten theoretischen Beiträgen (Kapitel 1). Erfahrungen aus der Bundesrepublik Deutschland werden mit internationalen Einblicken kontextualisiert (Kapitel 3).
Vorzüge eines eigenen LSBTI*-Wohnens
Ausgehend von der im Band vorgestellten internationalen Untersuchung – von Kathleen M. Sullivan zu „Erfahrungen mit Wohnanlagen für LSBT-Ältere in den USA“ – lassen sich einige zentrale Vorzüge dieser Wohnform herausarbeiten. Eigenes LSBT-Wohnen kann zu Gemeinschaft und Wohlbefinden der dort lebenden LSBT* beitragen. Die „Bewohner_innen fühlen sich in ihrer Umgebung gut aufgehoben, weil sie als diejenigen akzeptiert werden, die sie sind.“ (S. 218) Gleichzeitig werden gemeinsame Unternehmungen und neue Kontakte möglich.
Das zeigt sich auch in den Beiträgen, die Studien zur Wohnzufriedenheit in entsprechenden Einrichtungen in Deutschland präsentieren. So stellt Ralf Lottmann das Hausprojekt LoV in Berlin vor, das sich vornehmlich an schwule Männer, aber auch an Lesben und Heterosexuelle richtet. Heiko Gerlach und Christian Szillat erläutern die „Kontaktgestaltung und Wohnformen im Alter. Schwule und bisexuelle Männer in Hamburg“. In beiden Beiträgen, denen jeweils eine soziologische Untersuchung zu Grunde liegt, zeigt sich, dass sich in expliziten LSBT*-Wohneinrichtungen bei den Bewohner_innen ein gutes gemeinschaftliches Gefühl ausbildet und dass insbesondere die Nähe und der gemeinsame Kontakt unter den – meist – Schwulen geschätzt wird. Weitere Beitragende – u. a. Rüdiger Lautmann im Aufsatz „Die soziokulturelle Lebensqualität von Schwulen und Lesben im Alter“ – verweisen auf die Notwendigkeit solcher explizit auf LSBT* fokussierten Einrichtungen, da die herkömmlichen Einrichtungen im Alters- und Pflegebereich nicht auf LSBT* eingestellt seien.
Gleichzeitig bestätigen sich in den Untersuchungen einige Vorannahmen über LSBT* im Alter nicht: LSBT*-Personen sind im Alter nicht überproportional allein, sondern sie haben i. d. R. mindestens drei enge Bezugspersonen, denen sie auch ernstere Dinge anvertrauen können. Zudem ergeben sich aus dem oft jahrzehntelangen Identitäts- und Stigma-Management in Bezug auf sexuelle Orientierung und/oder geschlechtliche Identität im Alter auch Ressourcen, um a) mit Diskriminierungen umzugehen und b) (wohltuende) Kontakte zu knüpfen. Die Erfahrung von LSBT*-Personen kann also auch als Ressource für das Altern gedacht werden, mit der sich auch Alterungsprozesse gestalten lassen und gesellschaftliche Stigmatisierungen von Alter verarbeitet werden können.
María do Mar Castro Varela erweitert in ihrem Aufsatz „Altern Andere anders? Queere Reflexion“ das Themenfeld in Richtung Intersektionalität. Insbesondere nimmt sie die Dimension der Rassismuserfahrungen hinzu. Nachdem Castro Varela positiv festgehalten hat, dass etwa geteilte Erfahrungen auch dazu verwendet werden können, um das eigene Leben zu reflektieren, weist sie darauf hin, dass sich Menschen nicht in einzelne Identitäten aufspalten lassen – eine Person könne nicht einmal in eine Wohnform für Menschen gehen, die etwa Sexismus und Transfeindlichkeit erfahren haben, und ein anderes Mal in eine Wohnform für Rassismuserfahrene. Daher fordert sie ein, dass auch in Bezug auf Altern(n) der Intersektionalitätsansatz von Kimberlé Crenshaw zu Grunde gelegt wird: Es „sprechen immer noch zu viele Studien von ‚Alter(n)‘, ohne die Intersektionen zu beleuchten. Manches Mal erscheint es mir, als könnten wir von einer Renaissance klassisch monokausaler Diskriminierungsvorstellungen ausgehen. Im deutschsprachigen Raum wird immer noch darum gekämpft, dass Rassismus und Migration tatsächlich ernst genommen werden und etwa Trans*Studien oder auch Disability Studies genauso berücksichtigt werden wie andere sozialwissenschaftliche Fokussierungen.“ (S. 63)
Diskussion
Sollte es also Alterseinrichtungen für LSBT*-Personen geben; andere Alterseinrichtungen für Menschen mit Migrations- bzw. Rassismus- und Antisemitismuserfahrungen; und dann noch spezifische für People of Color, die schwul, lesbisch, bisexuell, trans* sind? Mit Castro Varela wäre solcher identitären Aufspaltung zu widersprechen. Und auch in den Studien zu den Bewohner_innen der für LSBT*-Personen zeigt sich, dass Vielfalt nur begrenzt erreicht wird. So wohnen dort insbesondere weiße cis-Männer der Mittelschicht; hingegen leben dort wenige Trans*-Personen und lesbische Frauen; Personen mit schlechten finanziellen Möglichkeiten und mit Rassismuserfahrungen werden (fast gar) nicht erreicht. So merkt eine_r der Organisator_innen des „Lebensortes Vielfalt“ in Berlin (vgl. Beitrag von Ralf Lottmann) kritisch an: „Wir hatten aus meiner Sicht eine Trennung in der Zielgruppe. Also Zielgruppe war immer, sage ich mal, schwule Männer und Trans und Menschen mit HIV und Aids. [Die] normale Zielgruppe bei uns waren schwule Männer mit Beratungsbedarf, und ´n Großteil davon waren Leute mit Hartz IV. Die Leute, die hier aber wohnen und hier wohnen wollten, waren ´ne Zielgruppe, die eigentlich etwas besser situiert war als die anderen, die wir normalerweise betreuen. [… Die] Bewohner waren Leute, die alle redegewandt genug waren oder selbstbewusst genug, um zu sagen, ich will so ´nen Ort zum Wohnen.“ (S.93) Auch in der Untersuchung zu den USA zeigte sich, dass die Vielfalt der Bewohner_innen – etwa in Bezug auf Herkunft – beschränkt war (vgl. Beitrag von Kathleen M. Sullivan, S. 217).
Auch auf diese Herausforderung gibt es im Band eine angedeutete praktikable Antwort, die zumindest den verschiedenen Diskriminierungserfahrungen weitgehend Rechnung trägt, dennoch das ökonomische Grunddilemma nicht auflösen kann. So wird im Aufsatz „‚The Pink Passkey®‘ – ein Zertifikat für die Verbesserung der Akzeptanz von LSBT*I-Pflegebedürftigen in Pflegeeinrichtungen“ (verfasst von Manon Linschoten, Ralf Lottmann und Frédéric Lauscher), der den Band abschließt, ein Zertifikat vorgestellt, mit dem sich Alters- und Pflegeeinrichtungen als LSBTI*-freundlich und LSBTI*-sensibel ausweisen können. Im Band nur für LSBTI*-Einrichtungen ausgeführt, könnte das ein Weg sein, von der Konzeption und praktischen Umsetzung her diskriminierungsarme oder -freie Einrichtungen – also solche, die spezielle Angebote für die Wohnenden, Richtlinien für die Einrichtungskultur und Schulungen für das Personal umsetzen – mit einer Art „Gütesiegel“ besonders auszuweisen. Solch ein Zertifikat könnte intersektional ausgerichtet sein. Wenn nach und nach alle Einrichtungen – oder zumindest ein größerer Anteil – so zertifiziert würden, könnten zunehmend auch Menschen und Personengruppen mit verschiedenen Diskriminierungserfahrungen, und zwar auch, wenn sie weniger Geld und weniger geschliffene Ausdrucksmöglichkeiten haben, von den diskriminierungsärmeren und sexualitätsfreundlicheren Angeboten profitieren.
Allerdings bricht sich ein solcher Ansatz mit Forderungen einiger der befragten Schwulen, die angaben, es als positiv zu empfinden, nun endlich einmal in der Mehrheit zu sein, und nicht in die LSBT*-Wohneinrichtung eingezogen wären, wenn etwa mehr Lesben oder Heterosexuelle dort leben würden. Hier deutet sich weiterer Aushandlungsbedarf an.
Fazit
Bei „Homosexualität_en und Alter(n)“ handelt es sich um einen sehr lesenswerten und facettenreichen Band, in dem verschiedene Sichtweisen miteinander in Aushandlung treten. Damit gelingt es vorzüglich, das Themenfeld „Alter(n)“ im Hinblick auf sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität zu eröffnen und – praktikabel – konkrete Ansätze für diskriminierungsarme Wohnformen zu geben. Es ist zu hoffen, dass sich weitere Arbeiten und insbesondere weitere praktische Umsetzungen anschließen.
Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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