Gisela Thiele: Soziale Arbeit mit alten Menschen
Rezensiert von Prof. Dr. Harro Kähler, 18.06.2002
Gisela Thiele: Soziale Arbeit mit alten Menschen. Grundlagenwissen für Studium und Praxis. Fortis Verlag (Troisdorf) 2001. 188 Seiten. ISBN 978-3-933430-74-8. 15,80 EUR.
Zielsetzung und Zielgruppen
Handlungsorientiertes Grundwissen für Studium und Praxis ist im Bereich der Sozialen Arbeit mit alten Menschen angesichts der nachweisbaren demografischen Veränderungen mit Sicherheit von zunehmender Bedeutung. Gisela Thiele, Professorin für Jugendsoziologie und Gerontologie an der Fachhochschule Zittau/Görlitz, hat deshalb dem Buch das Ziel vorgegeben, "allen Studierenden und Fachkräften der Sozialen Arbeit als Anleitung, Wissensspeicher und Ratgeber (zu) dienen".
Aufbau und Übersicht über die behandelten Themen
Die Autorin hat ihren Stoff in vier Kapitel aufgeteilt. Im ersten Kapitel behandelt sie "Alter, Altern und Altsein". Dabei geht sie insbesondere auf die Differenzierung der Alterspopulation in verschiedene Altersgruppen ein und beschäftigt sich mit der demographischen Entwicklung sowie ihren Ursachen und Auswirkungen. Das zweite Kapitel ist der "Sozialen Arbeit mit alten Menschen" gewidmet. Diese Kapitelüberschrift ist identisch mit dem Titel des Buchs und beschäftigt sich überwiegend - von kurzen Ausführungen zu den Grundrechten zum Schutz älterer Menschen abgesehen - mit den sozialen Netzwerken alter Menschen sowie sozialpädagogischen Ansätzen zur Unterstützung sozialer Netzwerke. Hier stutze ich als Leser - das kürzeste der vier Kapitel dieses Lehrbuchs, das zudem den gleichen Titel wie das Lehrbuch selbst trägt, reduziert Soziale Arbeit mit alten Menschen auf Netzwerkarbeit. Diese ist zwar ohne Frage ein besonders wichtiger Ansatz in der sozialen Altenarbeit, sie aber darauf weitgehend zu reduzieren erscheint zumindest unglücklich. Das dritte Kapitel mit der Überschrift "Sozialpädagogische Arbeitsfelder" öffnet denn auch wieder den Horizont beruflicher Betätigungsmögichkeiten. Allerdings erweist sich, dass die Autorin unter dieser Überschrift die klassische Einteilung in aufsuchende, ambulante, teilstationäre und stationäre Hilfen meint und überwiegend beschreibend die verschiedenen Angebotsformen sozialer Altenarbeit vorstellt. Im vierten Kapitel ("Problemfelder im Alter") geht es um Partnerschaft und Sexualität im Alter, um Krankheitsbilder im Alter und ihre sozialen Folgen sowie um Sterben und Tod im Alter. Als Leser frage ich mich, wie es zu dieser Auswahl gekommen ist. Armut im Alter oder Probleme der Neuorientierung nach der Berufsaufgabe als (unter vielen anderen Kandidaten) andere wichtige Problemfelder fehlen beispielsweise. In einem Anhang werden verschiedene Testverfahren zur Feststellung der Demenz vorgestellt. - Hilfreich ist ein Stichwortverzeichnis, das es erleichtert, gezielt bestimmte Ausführungen zu bestimmten Themen nachlesen zu können.
Die Beschäftigung mit dem Inhaltsverzeichnis hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck: einerseits werden differenzierte Informationen insbesondere zu den Arbeits- und Problemfeldern angeboten und machen neugierig. Andererseits fällt es schwer, die Auswahl der behandelten Themen und die Reihenfolge ihrer Behandlung nachzuvollziehen: Wenn beispielsweise wichtige Problemfelder im Alter im letzten Kapitel behandelt werden, Ansätze zur sozialpädagogischen Bearbeitung aber vorher vorgestellt werden, frage ich mich, ob dies besonders sinnvoll ist, wo doch die Sinnhaftigkeit von Problembearbeitungen erst vor dem Hintergrund der Kenntnis der Problemlagen beurteilt werden kann.
Inhalte
Die Lektüre des Lehrbuchs verstärkt den zwiespältigen Eindruck, den das Inhaltsverzeichnis auslöst. Zunächst kann festgehalten werden, daß die Autorin verständlich und klar zu formulieren versteht. Der im Vorwort festgehaltene Anspruch, "dass Interessenten mit unterschiedlichen Vorkenntnissen und Ansprüchen das Lehrbuch ganz oder auch nur teilweise lesen können", wird voll eingelöst. Über weite Strecken informiert die Autorin differenziert und ertragreich. Ein paar Beispiele:
- Im Kapitel über soziale Netzwerke alter Menschen versteht es die Autorin, auf wenigen Seiten interessante Praxisbeispiele für Unterstützungsnetzwerke als Intergenerationsbeziehungen vorzustellen und damit Anregungen für die eigene Praxis zu geben.
- Die Randüberschriften erleichtern es, den Argumentationsgang nachzuvollziehen und die Kernaussagen zu erkennen.
- Interessant sind auch die an verschiedenen Stellen vorgenommenen Aussagen über unterschiedliche Zustände und Entwicklungen in Ost- und Westdeutschland.
- An verschiedenen Stellen werden Adressen in Fußnoten benannt, die es Interessenten ermöglichen, sich zusätzliche Informationen zu beschaffen.
- Übersichten erleichtern das Festmachen besonders wichtiger Kernaussagen (Beispiele: zu- und abnehmende Fähigkeiten im Alter; Überblick über die Leistungen der Pflegeversicherung)
- Hilfreich erscheinen auch die Fallbeispiele zur Berechnung von Pflegegeld oder von Sozialhilfe.
Unter den mir bekannten Lehrbüchern der sozialen Altenarbeit kenne ich keines, das so viele hilfreiche Informationen konkret und praxisnah zusammengetragen hat. Insofern - das kann als Zwischenbilanz festgehalten werden - lohnt die Lektüre dieses Lehrbuchs und kann als wertvolle Grundlage für Studium und Praxis sozialer Altenhilfe angesehen werden.
Dem entgegen stehen nun allerdings Eindrücke, die den Wert des Buchs unnötig herabsetzen. Hiermit meine ich vor allem folgende Punkte:
- Die Autorin hat sich selbst das Ziel gesetzt, den Text "leicht verständlich ... und frei von unnötigen Zitaten" zu schreiben. Während das erstere gelungen ist, kann das letztere doch nicht bedeuten, daß über weite Strecken offen bleibt, auf welchen Quellen die getroffenen Aussagen beruhen. Aussagen wie "Studien zufolge ..." (S.97) oder Hinweise auf eine "eigene Studie" (S.69), die nur über eine nicht veröffentlichte Quelle nachzulesen ist, sind für ein Lehrbuch nicht akzeptabel, zumal Studierende über derartige Texte ja auch lernen sollen, eigene Aussagen angemessen durch Quellenhinweise zu belegen. Stattdessen wird dann beispielsweise auf einen Text in einer nicht leicht erreichbaren Wochenzeitung verwiesen (S.97), obwohl der Inhalt dieser Aussage durchaus über andere, leichter zugängliche Quellen hätte belegt werden können. Oder es werden im Text Quellen zitiert, die nicht im Literaturverzeichnis aufgeführt sind.
- Die Auswahl der Inhalte und ihre Gewichtung ist für mich als Leser nicht nachvollziehbar. Ein einführendes Lehrbuch wird immer vor dem Problem stehen, manche Bereiche stärker als andere zu gewichten, manches sogar ganz unberücksichtigt zu lassen. Den LeserInnen sollte aber deutlich gemacht werden, nach welchen Auswahlprinzipien vorgegangen wurde. Dies ist hier nicht der Fall. So sind die Krankheitsbilder im Alter und Partnerschaft und Sexualität im Alter relativ ausführlich dargestellt worden. Die im Anhang wiedergegebenen Tests zur Feststellung von Demenz haben nach meine Dafürhalten in einem Einführungstext nichts verloren. Problemfelder wie Armut im Alter fehlen ganz, Gewalt im Alter wird sehr kurz dargestellt. Interessante sozialpädagogische Arbeitsansätze wie die Biographiearbeit sind ebenfalls nicht berücksichtigt. Wie gesagt - nicht das Weglassen oder Knapphalten von Inhalten scheint mir problematisch. Aber eine plausible Begründung für die wie immer getroffene Auswahl wäre hilfreich gewesen.
- Auf das Problem des Aufbaus der Kapitelfolge wurde oben schon eingegangen.
Fazit
Dieses Lehrbuch wird seinem Anspruch gerecht, Grundlagenwissen für Studium und Praxis der sozialen Altenarbeit anschaulich und verständlich darzustellen. Bei den behandelten Themen vermittelt die Autorin die wichtigsten Informationen und regt zu sinnvollen sozialpädagogischen Arbeitsansätzen an. Für Neuauflagen ist dem Buch eine Überarbeitung zu wünschen, in der die herangezogenen Quellen sorgfältiger dokumentiert sind, die Auswahl der behandelten Themen besser begründet ist und der Aufbau der Inhalte transparenter gemacht wird.
Rezension von
Prof. Dr. Harro Kähler
Bis zur Emiritierung Fachhochschullehrer an den Hochschulen Hagen, Dortmund und Düsseldorf. Bis 2019 Redakteur der socialnet Rezensionen, Mitarbeiter in der Redaktion des socialnet Lexikons.
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