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Christian Spatscheck, Barbara Thiessen (Hrsg.): Inklusion und Soziale Arbeit

Rezensiert von Prof. Dr. Erich Hollenstein, 06.06.2017

Cover Christian Spatscheck, Barbara Thiessen (Hrsg.): Inklusion und Soziale Arbeit ISBN 978-3-8474-2075-0

Christian Spatscheck, Barbara Thiessen (Hrsg.): Inklusion und Soziale Arbeit. Teilhabe und Vielfalt als gesellschaftliche Gestaltungsfelder. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2017. 280 Seiten. ISBN 978-3-8474-2075-0. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.
Buchreihe Theorie, Forschung und Praxis der sozialen Arbeit, Band 14.

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Hintergrund, Thema und Aufbau

Der Band stellt 23 ausgewählte Tagungsbeiträge der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit (DGSA) vor. Diese Tagung fand am 29. und 30. April 2016 in Düsseldorf statt. Damit sollten unterschiedlichen Inklusionsdebatten in Politik, Praxis und Wissenschaft ein Forum geboten werden. Die Veröffentlichung gliedert sich in drei Teile: Inklusion denken – Inklusion als Konzept und gesellschaftliche Aufgabe, Inklusion gestalten – Zur Realisierung der Inklusion in den Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit, Inklusion erweitern – Wie könnte eine solidarische Gesellschaft gestaltet werden?

Der Herausgeber und die Herausgeberin stellen in ihrem Vorwort die einzelnen Beiträge in gegebener Kürze vor. Die Autorinnen und Autoren haben zumeist als beruflichen Hintergrund eine Tätigkeit in Forschung und Lehre. Einige Fachleute aus der Praxis sind allerdings auch vertreten.

Aufgrund der hohen Beitragsanzahl mit insgesamt 35 Autorinnen und Autoren kann diese Rezension nur einige Einblicke in die stattgefundene Inklusionsdebatte geben.

Zu: Inklusion denken

Micha Brumlik geht in dem ersten Beitrag des Bandes „Integration und Inklusion im Spannungsfeld von Rechts- und Tugendgemeinschaften sowie dem Streben nach völkischer Homogenität“ von dem nicht Frauenhände schütteln wollenden Imam aus. Betroffen war davon die rheinland-pfälzische CDU-Vorsitzende Julia Klöckner. Für Brumlik lässt sich dieser Fall auf gar keinen Fall als fehlende Treue zur Verfassung der Bundesrepublik interpretieren, sondern allenfalls als ein Verstoß gegen eine konventionelle Umgangsform. Über die Erörterung von „dünner“ und von „dichter“ Integration werden sodann die Begriffe Inklusion, Partizipation und Integration analysiert. Inklusion z.B. stärkt die bisher Ausgeschlossenen und führt bei Nicht-Ausgeschlossenen zur Empathie und Duldsamkeit. Gestört werden solche Prozesse aber durch Begriffe wie Leitkultur. Dieser Leitkultur folgen Tugendgemeinschaften mit dichter Integration, aber keine Rechtsgemeinschaften, die auf der Grundlage des Grundgesetzes basieren. „Auf jeden Fall stellen kulturalistisch gedeutete Homogenitätsannahmen nur eine Grundlage des neuen, rechten Denkens dar [.]“ (S. 27). Dieses Denken zielt auf am Völkischen orientierte dichte Integration.

In dem Folgebeitrag „Inklusion?! – Aufgabe und Herausforderung für Soziale Arbeit“ erörtert Michaela Köttig u.a. den Unterschied von Integration und Inklusion. Eine integrative Konzeption geht demnach von einer Normalitätsvorstellung aus, in die integriert wird. In einer inklusiven Konzeption stellt Unterschiedlichkeit (Vielfalt) die Normalität dar. Mit Hilfe dieser Voraussetzung wird den Zusammenhängen von Inklusion und Sozialer Arbeit nachgegangen. Vorgeschlagen wird von der Autorin von einer inklusiven Perspektive auszugehen, dazu gehört auch Exklusionsvermeidung und Inklusionsvermittlung. Für die Soziale Arbeit ist dies mit einer erheblichen Komplexitätserhöhung verbunden. „Fallverstehen und Fallbegleitung werden damit zum zentralen professionellen Anspruch und zur zentralen handlungsleitenden Basis jeder Intervention in inklusiv ausgerichteten Kontexten“ (S.37). Um diesem professionellen Anspruch gerecht zu werden wird für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter auf die u.a. Selbstreflexion herstellenden Konzepte Anti-Bias-Training und Social-Justice-Training aufmerksam gemacht. Eine besondere Schwierigkeit für die Soziale Arbeit besteht darin, dass Differenzkategorien (z.B. ethnische Herkunft, Status, Geschlecht) mit Spezialangeboten belegt werden, die aber zu einer „Besonderung“ führen in zielgruppenspezifischen Lebenswelten und Beratungslandschaften. Diese Situation ist „grundlegend neu zu denken“ (S.39).

Der Aufsatz „Inklusion und Sozialraumforschung. Theoretische Zugänge und empirische Bezüge sozialräumlicher Inklusion“ von Christian Bleck, Anne van Rießen und Ulrich Deinet beschreibt als relevant für Inklusion Ausgrenzungs-, Aneignungs- und Partizipationsprozesse. Das Aneignungskonzept wird erläutert an Beispiel des Umgangs Jugendlicher mit Shopping Malls. Die Raumaneignung dieser Architektur gelingt dieser Altersgruppe u.a. durch Umwidmung des Raumes, Veränderungen in der Nutzung und durch die Verknüpfung mit anderen Räumen. Somit entsteht eine Teilhabeperspektive für die Jugendlichen. Partizipation als Voraussetzung für inklusive Sozialräume wird anhand des Forschungsprojektes „Lebenswerte und umweltgerechte Stadt“ (LUST) beschrieben. Bewohnerinnen und Bewohner werden in einem ersten Schritt in die Analyse des Sozialraumes einbezogen. In einem zweiten Schritt werden mit Hilfe von Workshops Projektideen entwickelt, die in einem dritten Schritt zur Beteiligung an der Umsetzung von Projektideen führte. Bewohnerinnen und Bewohner hatten somit die Möglichkeit ihre eigene Wirksamkeit zu erleben – ein Inklusion förderndes und Ausgrenzung vermeidendes Erleben.

Zu: Inklusion gestalten

Der erste Aufsatz in diesem Buchteil „Inklusion: ein Beitrag zu mehr Gerechtigkeit? – diskutiert am Beispiel der Jugendberufshilfe“ von Ruth Enggruber bezieht sich auf das inklusive Bildungsverständnis der UNESCO (Deutsche UNESCO-Kommission 2014). Dieses Verständnis schließt alle Behinderungen an Bildungsteilhabe ein unter dem Ausschluss jedweder Ausgrenzung. Für die Jugendberufshilfe mit ihren Sonderregelungen und Sonderförderungen ist dieses Verständnis nicht kompatibel, weil z.B. eine Ausgrenzung von der marktgesteuerten betrieblichen Ausbildung stattfindet. Mit Hilfe der Gerechtigkeitstheorie von Nancy Frazer entwickelt Enggruber dann Reformen zur inklusiven Gestaltung der dualen Berufsausbildung. Dazu gehört u.a. die Abschaffung sogenannter Behindertenberufe, eine Berufsausbildung im Wunschberuf, individualisierte Ausbildungsarrangements, curriculare Flexibilität, Pluralität gleichberechtigter Lernorte und ggf. Verlängerung der Ausbildungszeit. Es handelt sich somit um eine De-Kategorisierung in dem angesprochenen Lern- und Ausbildungsfeld. Zum Schluss des Beitrages kommt Enggruber allerdings zu der Auffassung, dass eine solche Reform gegenwärtig keine Durchsetzungschance habe. Deshalb betrachte sie ihre Überlegungen als kritische Sonde, um Ausgrenzungsmechanismen herauszuarbeiten.

In ihrem Beitrag „Pendelmigration – keine Inklusion? Inklusion im Kontext von Migration und Transnationalität“ erörtert Nausikaa Schirilla ihre Interpretation einer inklusiven Gesellschaft: „Ein so verstandenes Inklusionskonzept beinhaltet, dass alle Einwanderungsgenerationen nicht außerhalb der Gesellschaft stehend verstanden werden, sondern als Bestandteil der Gesellschaft und nicht extra in diese integriert werden müssen“ (S. 156). Aber was ist mit transnationalen Familien oder Personen, die bilokale Lebensformen ausbilden? Diese Frage beantwortet die Autorin mittels des gerechtigkeitstheoretischen Modells von Nancy Frazer, weil sich von dorther mehrfache Zugehörigkeiten als gleichwertige Lebensweisen ableiten lassen. Als Beispiel dienen Pendelmigrantinnen, die in Privathaushalten pflegebedürftige ältere Menschen betreuen. Dazu wird auf ein Forschungsprojekt der Katholischen Hochschule Freiburg verwiesen und anhand dort dokumentierter Interviewpassagen die Situation der Pendelmigrantinnen und ggf. Pendelmigranten analysiert. So sind häufig mangelnde Anerkennung und Ausbeutung miteinander verbunden. Unter Bezug auf Frazer wird festgestellt, das prekäre Lebensformen anzuerkennen und Ausbeutung zu kritisieren sind. Der Beitrag schließt mit einem Fragekomplex insbesondere zu internationalen Ungleichheits – und Machtverhältnissen. Inklusion kann kein nationales Projekt bleiben.

Zu: Inklusion erweitern

Stefan Borrmann beschäftigt sich mit „Inklusion als Aufgabe institutionelle Akteure. Das Beispiel der Inklusion Studierender mit Fluchterfahrung“. Hingewiesen wird zu Beginn des Beitrags auf den Begriff „Third Mission“ als Sammelbegriff für gesellschaftsbezogene Hochschulaktivitäten. Ein besonderes Problem besteht für Flüchtlinge, die das Potenzial haben in Deutschland zu studieren, aber die formalen Voraussetzungen nicht besitzen. Die Hochschulen haben teilweise vorsichtige Öffnungswege gefunden. So schreibt die Lissabon-Konvention z.B. vor, Eignungsprüfungen vorzunehmen wenn Leistungsdokumente verloren gegangen sind. Unter einer Diversityorientierung müssen nunmehr Hochschulen die Herkunftskulturen berücksichtigen. Unter dem Blickwinkel der Integration werden studierbereite Flüchtlinge zur Zeit dann wohlmeinend in einige Hochschulen aufgenommen. Inklusion hingegen bedeutet, dass es die Grundgesamtheit einer Vielfalt an Studierenden gibt. Diese Sehweise stellt die Zugangskriterien, die ja auf eine Normalität ausgerichtet sind, in Frage. Dieses In-Frage-stellen passiert aber so gut wie gar nicht, so dass Hochschulen eben nicht inklusiv ausgerichtet sind. Eine inklusive Ausrichtung der Hochschulen würde generell den Zutritt zu Hochschulen öffnen, ein Szenario welches Borrmann wohl begrüßen würde.

Im letzten Beitrag der Veröffentlichung mit dem Titel „Soziale Inklusion als Herausforderung für die Soziale Arbeit – kommunale Handlungsebenen und -strategien“ von Claudia Rahnfeld wird zunächst der Inklusionsbegriff im Zusammenhang mit der Theorie funktional differenzierter Systeme (Luhmann) erörtert. Es folgen dann Hinweise auf die Governance-Forschung, die netzwerkartige Formen der Selbststeuerung mit der Einbindung unterschiedlicher Akteure als Steuerungsmodell empfiehlt. Für die kommunale Umsetzung von Inklusionskonzepten muss die kommunale Politikspitze sozusagen den „Startschuss“ geben. Die in der Folge zu entwickelnde strategisch-vernetzende Arbeit im professionellen System, sollte von einem Monitoring begleitet werden. Es geht darum, den „zerlegten Facettenblick institutioneller Ordnung durch das Weitwinkelobjektiv auf komplexe Dinge“ (S. 269) zu ersetzen. Ziel ist dann eine sozialraumorientierte Arbeit, die inklusive Verhältnisse erzeugt und materielle und immaterielle Faktoren einbezieht. Zu den immateriellen Faktoren gehören eben die partizipativ einzubindenden lebensweltlichen Deutungen der Bewohnerinnen und Bewohner in den Sozialräumen. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sind in lokalen Zusammenhängen vor die Herausforderung gestellt, sich in politische Zusammenhänge einzumischen z.B. um exkludierende Normalitätsvorstellungen zu problematisieren.

Diskussion

Der Sammelband enthält eine Fülle von Interpretationen, Ideen und praxisbezogenen Ausführungen.

Er zeigt einerseits eine irritierende Vielfalt und andererseits einen Reflexionsprozess zur Inklusion, der nur zu begrüßen ist. Allerdings muss auch gesehen werden, dass Inklusion nur unter dem Aspekt Sozialer Arbeit zu kurz greifen könnte. Nur ein Beispiel hierzu ist die Schulsozialarbeit, die wirksame Inklusion nur dann umsetzen kann, wenn multiprofessionell kooperiert wird.

Ein ungelöstes Problem ist die „Besonderung“ von Personen und Personengruppen, die eine grundlegende Eigenschaft der Praxis Sozialer Arbeit und Sozialpädagogik ist. Michaela Kötting macht in ihrem Aufsatz auf diesen Sachverhalt aufmerksam und fordert einen neuen Denkvorgang an. Dies gilt auch für die gesamte Veröffentlichung zu einer im Anfang begriffenen Debatte, in der sich zum Glück keine Rezepturen befinden.

Fazit

Dieser Tagungsbericht der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit zum Thema Inklusion in der Sozialen Arbeit stellt den aktuellen Diskussionsstand dar. Wie kann Inklusion gedacht werden? Wie kann Inklusion gestaltet werden? Wie kann Inklusion erweitert werden? Das sind die leitenden Fragen an denen sich die 23 Beiträge ausrichten.

Rezension von
Prof. Dr. Erich Hollenstein
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Es gibt 99 Rezensionen von Erich Hollenstein.

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ISSN 2190-9245