Wilhelm Schröder: Schlüsselgewalt. (...) Gespräche mit Justizvollzugsbeamten
Rezensiert von Dr. Susann Prätor, 30.05.2017

Wilhelm Schröder: Schlüsselgewalt. Aus dem Innenleben einer geschlossenen Welt. 18 Gespräche mit Justizvollzugsbeamten. Vier JahreszeitenHaus Verlag im Münsterland (Münster) 2015. 182 Seiten. ISBN 978-3-86999-316-4. D: 16,50 EUR, A: 17,00 EUR, CH: 23,90 sFr.
Autor
Wilhelm Schröder, geb. 1943, studierte Pädagogik und Sonderpädagogik und war über zwanzig Jahre im Ruhrgebiet als Schulleiter tätig. Seit 2008 ist er im Ruhestand und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht (u.a. zu Depressionen und Parkinson und zum Alltag in Sonderschulen).
Entstehungshintergrund und Thema
Mit diesem Buch erhält der Leser/die Leserin Einblicke in die Welt des Justizvollzuges aus Sicht von Bediensteten, also den Trägern der „Schlüsselgewalt“. Durch Interviews mit Justizvollzugsbediensteten werden u.a. folgende Themen beleuchtet: Welche Schlüsselqualifikationen benötigen Bedienstete im Justizvollzug? Welches Menschenbild haben Bedienstete? Wie schätzen sie ihren Einfluss auf Gefangene ein? Welche spezifischen Belastungen bringt diese Tätigkeit mit sich?
Die Idee, das System Justizvollzug aus der Perspektive von Bediensteten zu beleuchten, kam dabei sozusagen von den Befragten selbst. Im Rahmen von Interviews mit inhaftierten jungen Menschen, die der Autor einige Jahre zuvor in der JVA Wuppertal-Ronsdorf durchführte, wurde dieser von Justizvollzugsbediensteten gefragt, warum man nicht auch mit ihnen Interviews führte, um ihre Wahrnehmungen und Einschätzungen zum System Justizvollzug zu erfahren.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich in mehrere Abschnitte, wobei den Schwerpunkt des Buches die Gespräche mit Bediensteten verschiedener Justizvollzugsanstalten in Nordrhein-Westfalen bilden.
Im Vorwort des Autors (S. 9-14) wird dargestellt, wie die Idee zu diesem Buch entstanden ist und welches Ziel („tiefe Einblicke in den Kosmos einer verschlossenen Welt“, S. 9; „dem interessierten Laien […] einen Einblick in das Knastgeschehen zu geben“, S.11) das Buch verfolgt.
In einer sehr ausführlichen Einführung (S. 15-61) erörtert Rupert Koch, Anstaltsleiter der JVA Wuppertal-Ronsdorf, zunächst einige zentrale Kennzahlen des Justizvollzuges in Nordrhein-Westfalen (z.B. Zahl der Haftplätze, Belegungsquote im Erwachsenen- und Jugendvollzug, Häufigkeit verschiedener Gefangenengruppen wie Untersuchungs-, Jugendstrafgefangene, inhaftierte Frauen etc.). Es folgt eine Beschreibung der gesetzlichen Rahmenbedingungen, insbesondere der Ziele des Strafvollzuges. Detailliert werden die Prozesse (Behandlungsuntersuchung und Erstellung des Vollzugsplans) dargestellt, wie man im Vollzug zu einer fundierten Einschätzung des Gefangenen kommt und welche Möglichkeiten zur Verfügung stehen, um das Vollzugsziel (Ein Leben ohne Straftaten führen bzw. Schutz der Allgemeinheit) zu erreichen. Thematisiert werden auch Schwierigkeiten beim Übergang vom Vollzug in Freiheit und die Bedeutung einer guten Entlassungsvorbereitung. Schließlich werden Zahlen zur Struktur des Personals im nordrhein-westfälischen Justizvollzug sowie die Aufgaben der im Fokus des vorliegenden Buches stehenden Bediensteten des allgemeinen Vollzugsdienstes berichtet. Auf Basis von Daten der bundesweiten Rückfalluntersuchung wird der Erfolg der Arbeit des Strafvollzuges diskutiert. Abschließend wird die mediale Darstellung des Vollzuges im Allgemeinen und im Falle von besonderen Vorkommnissen kritisch beleuchtet, durch die in der Regel eher geringe Wertschätzung dem Vollzug gegenüber und der dort Tätigen zum Ausdruck kommt. Umso wichtiger erscheint Rupert Koch, dass in diesem Buch die Bediensteten und deren Sichtweise im Vordergrund stehen.
Das diesem Abschnitt folgende kurze Geleitwort von Volker Mitterbauer (S. 62-63), dem Leiter des Allgemeinen Vollzugsdienstes der JVA Remscheid, greift diesen Gedanken auf und verweist auf die „starke Emotionalität“ des Themas Strafvollzug. Mit diesem Buch verbindet er die Hoffnung, dass dieses zu einem „vorurteilsfreien Umgang mit dem Thema Knast beiträgt“ (S. 63).
Die nunmehr auf den Seiten 64 bis 171 folgenden Darstellungen der Interviews, die der Autor mit den Bediensteten geführt hat, nehmen den größten Teil des Werkes ein. Diese sind mit der Angabe, ob es sich bei dem Interviewten um einen Mann oder eine Frau handelte, jeweils alphabetisch „durchnummeriert“ und mit einem prägnanten Zitat des Interviewten betitelt (z.B. „Frau A: Ohne mein Wissen“, „Herr B: Alles anders“, „Herr C: Wie man in den Wald hineinruft“, „Herr D: Ich war zu jung“ usw.). Auf jeweils drei bis acht Seiten sind die Angaben der Bediensteten nachzulesen, wobei die Antworten nicht bezogen auf einzelne Fragen, sondern summarisch dargestellt werden. Dabei wird deutlich, dass die Bediensteten im Hinblick auf die erfragten Themen jeweils unterschiedliche Schwerpunktsetzungen vorgenommen haben.
Im Abschnitt Nachtrag: Nichts Neues (S. 172) macht Wilhelm Schröder deutlich, dass Veränderungen im System Strafvollzug „einzig und allein“ (S. 172) vom Staat vorgenommen werden können, da nur er per Gesetz Strukturen ändern kann. Im Abschnitt Aspekte der Gespräche (S. 173-174) sind die Kernthemen, zu denen die Bediensteten befragt wurden, aufgelistet (u.a. beruflicher Werdegang, Schlüsselqualifikationen, Menschenbild, Rückfallquote, psychische Belastungen, Job-Zufriedenheit, Frauen im Männerknast). Der Autor verweist darauf, dass diese Themen nicht der Reihe nach abgearbeitet wurden, sondern es sich um offene Gespräche handelte, die protokolliert, aber nicht weiter kommentiert oder interpretiert wurden. Zudem wird sowohl den Interviewten, als auch den Anstaltsleitungen für die Möglichkeit der Durchführung dieser Interviews gedankt.
Das Kapitel Zum Thema Tattoos (JVA Wuppertal-Ronsdorf) (S. 175-178) beschreibt mögliche Bedeutungen der drei bekanntesten Knast-Tattoos (Drei Punkte auf der Hand zwischen Daumen und Zeigefinger, Träne unter dem Auge, Spinnennetz am Ellenbogen) und erläutert, wie Tattoos im Gefängnis entstehen. Eine Abbildung am Ende dieses Abschnitts zeigt weitere Tattoos, auf deren Bedeutung nicht eingegangen wird. Im Abschnitt Zertifikat Nachweis (S. 179) ist beispielhaft ein Zeugnis der Industrie- und Handelskammer abgebildet, welches dem Gefangenen für seine Qualifizierung in Haft (ohne Verweis auf den Vollzug) ausgehändigt wird.
Das Buch endet mit einem Werksverzeichnis von Wilhelm Schröder(S. 180-181).
Diskussion
Vor dem Hintergrund des Buchtitels, der vor allem Interviews mit Vollzugsbediensteten erwarten lässt, ist das umfängliche Vorwort des Anstaltsleiters der JVA Wuppertal-Ronsdorf zunächst überraschend. Die umfassende Darstellung des (nordrhein-westfälischen) Strafvollzuges erleichtert dem Leser/der Leserin jedoch den Zugang zu dieser speziellen Lebenswelt, in dem ein Überblick und somit ein grundlegendes Verständnis für Ziele, Abläufe, Strukturen und Herausforderungen dieses dem interessierten Laien eher verschlossenem System vermittelt wird.
Die Gespräche mit den Bediensteten sind sehr kurzweilig und gut zu lesen und liefern interessante Einblicke in den Strafvollzug aus Sicht der Bediensteten. So wird beispielsweise deutlich, dass es DEN typischen Justizvollzugsbediensteten nicht gibt, sondern sich dahinter vielfältige Berufsgruppen verbergen (z.B. Frau A: Bademeisterin, Frau E: Krankenschwester, Herr K: Bürokaufmann, Herr M: Postangestellter, Herr O: Einzelhandelskaufmann, Herr P: Soldat bei der Bundeswehr, Herr Q: Elektrotechniker). Auch ist zu erkennen, dass die Motive, dieses Berufsfeld zu wählen ebenso unterschiedlich sind (Herr O: „wollte was bewegen und Gutes tun“ S. 146, Herr Q: „wollte etwas Neues haben“, S. 161, Herr R: „eine gewisse Absicherung, die wollte ich behalten“, S. 167). Interessant ist ferner, wie die subjektiven Einschätzungen der Bediensteten mit Blick auf Rückfallquoten oder den Erfolg des Justizvollzuges ausfallen und welche besonderen Probleme und Herausforderungen sie im Hinblick auf ihre Tätigkeit wahrnehmen. Von mehreren Interviewpartnern/Interviewpartnerinnen wird auch die als abwertend empfundene sprachliche Bezeichnung der Bediensteten als „Wärter“ oder „Schließer“ thematisiert (Frau A: „Das beleidigt uns, wir sind weit mehr als das, wir brauchen dringend ein neues Image. Wir brauchen ein besseres Verständnis für unsere Arbeit“, S. 70, Herr L.: „Wir sind nicht die Wärter, auch im Zoo heißen die heute Tierpfleger und sind qualifiziert und gut ausgebildet. Wir leisten gesellschaftlich wichtige Arbeit, und wir sind gut“, S. 133). Leider erschließt sich erst am Ende des Buches im Abschnitt „Aspekte der Gespräche“, welche Fragen den Bediensteten überhaupt gestellt wurden und dass die Befragten nicht zu allen Themen Antworten abgeben mussten, sondern eigene Schwerpunktsetzungen vornehmen konnten. Diese Information zu Struktur und Ablauf der Interviews vor den Interviews zu präsentieren, hätte die Lektüre für den Leser/die Leserin sicher erleichtert. Auch wäre hilfreich gewesen, wenn am Ende der Interviews eine gewisse Systematisierung der Antworten erfolgt wäre. Was sind Herausforderungen, die von mehreren Bediensteten thematisiert werden? Welche Ansatzpunkte zur Optimierung des Vollzuges sehen die Bediensteten? Was sind spezifische Belastungen von Bediensteten? Eine solche Zusammenfassung würde einem Leser/einer Leserin, der/die weniger an der Lektüre von 18 Einzelinterviews interessiert ist, einen schnellen Überblick über wiederkehrende Einschätzungen und Herausforderungen des Justizvollzuges geben.
Schwer einzuordnen ist der Nachtrag des Autors, der sich nicht unmittelbar aus den Ausführungen der Bediensteten ableiten lässt und auch keinen Bezug zu den Interviews herstellt: „Er [der Staat, S.P.] allein hat die Möglichkeit, qua Gesetz Strukturen zu ändern und eine für alle lebenswerte Gesellschaft zu gestalten. Der größte Schlüssel dazu ist Bildung, Bildung, Bildung.“ (S. 172). Unklar sind – wenngleich inhaltlich durchaus interessant – zudem die Darstellungen zum Thema Tattoos, die in keinem Zusammenhang zu den vorherigen Antworten der Bediensteten stehen. Die Grafik zu verschiedenen Tattoos auf S. 178 ist ohne jegliche Erläuterung für den Leser/die Leserin unbrauchbar.
Fazit
Das vorliegende Werk liefert dem Leser/der Leserin einen Einblick in die Welt des Strafvollzuges und trägt somit der anfänglich formulierten Intention des Buches, „dem interessierten Laien […] einen Einblick in das Knastgeschehen zu geben“ (S. 11) zumindest aus einer spezifischen Perspektive – nämlich der von Vollzugsbediensteten – Rechnung. Die Beschreibungen geben dabei eher einen Einblick in den Berufsalltag und weniger in den Gefängnisalltag insgesamt. Der Leser/die Leserin erhält neben den Ausführungen zu Zielen, Strukturen und Grenzen des (nordrhein-westfälischen) Strafvollzuges durch den Anstaltsleiter der JVA Wuppertal-Ronsdorf aber tatsächlich „nur“ eine Dokumentation der 18 im Titel angekündigten Gespräche mit Justizvollzugsbeamten und keine systematische und zusammenfassende Analyse dieser Gespräche. Die ein oder andere Äußerung der Bediensteten mag Akteure aus den Bereichen Medien, Politik oder Öffentlichkeit aber vielleicht zum Nachdenken anregen und so im Sinne des Geleitwortes von Volker Mitterbauer zu einem „vorurteilsfreien Umgang mit dem Thema Knast“ beitragen (S. 63).
Rezension von
Dr. Susann Prätor
Soziologin M.A.
Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kriminologischen Dienst im Bildungsinstitut des niedersächsischen Justizvollzuges
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