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Peter Wißmann (Hrsg.): Werkstatt Demenz

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 19.04.2005

Cover Peter Wißmann (Hrsg.): Werkstatt Demenz ISBN 978-3-87870-102-6

Peter Wißmann (Hrsg.): Werkstatt Demenz. Vincentz Network (Hannover) 2004. 256 Seiten. ISBN 978-3-87870-102-6. 24,80 EUR.

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Zur Thematik des Buches

Die Demenzen werden seit einigen Jahren je nach Einstellung oder Festlegung unterschiedlich betrachtet: Für viele Pflegekräfte sind es hirnorganische Erkrankungen, andere sehen in der Demenz bloße "Aufarbeitungsphasen" und Ähnliches. Die Konfusion ist groß und wird immer größer, denn mittlerweile herrscht geradezu ein "Krieg der Pflegekulturen", der sich in Pflegeleitbildern der Einrichtungen, strikten Abgrenzung und Verboten des Einsatzes bestimmter Ablenkungsstrategien ausdrückt. Die so genannten "personenzentrierten" Ansätze der Demenzpflege (Validation, Mäeutik, Kitwood'scher Ansatz u. a.) versuchen sich zunehmend in vielen Einrichtungen der Altenhilfe mit dem Anspruch einer "Neuen Kultur" in der Demenzpflege zu etablieren. Der vorliegende Sammelband enthält überwiegend Beiträge von Vertretern dieser "Neuen Kultur".

Inhalt

Das Buch ist in zwei Teile untergliedert: Buch 1 ("Neue Kultur in der Begleitung") und Buch 2 ("Bilder aus der Praxis") mit jeweils sieben bzw. sechs Beiträgen.

  • Im Einführungskapitel 1 ("Die Begleitkultur") erläutert Peter Wißmann die Grundzüge des Kitwood'schen Ansatzes: der "alten Kultur" der Demenzpflege (Defizitmodell, "einseitig biologisch-medizinische Sichtweise", unaufhaltbarer kontinuierlicher Abbauprozess) wird die "Neue Kultur" jenseits aller biologisch-medizinischen Erkenntnisse entgegen gehalten. Sie ist in der Lage, "einige bereits verlorengegangene Fähigkeiten wieder zurückgewinnen zu können" (Seite 19). Diese Rückbildung bezeichnet Kitwood als "Remenz", die durch die Formen eines angemessenen Umganges hervorgerufen werden kann.
  • Im Kapitel 2 ("Personenzentrierte Betreuung") beschreibt derselbe Autor seine Vorstellungen über die Kompetenzen der Mitarbeiter im Umgang mit den Demenzkranken. Da eine "Pathologisierung der Demenz" strikt abgelehnt wird, gilt es vorrangig, die Person bzw. "das Menschsein" in den Vordergrund zu stellen (Seite 45). In diesem Zusammenhang werden u. a. die "positiven Interaktionen" nach Kitwood wie u. a. "Anerkennen", "Spielerisch sein (Spielen)", "Stimulieren (Timalition)" und "Validation" angeführt (Seite 46). Die Formen der Tagesstrukturierung werden in diesem Modell kritisch hinterfragt. Das "Herummanschen" mit Kaffee und Kuchen und das Zerreißen von Papier können hingegen als "kreativer Ausdruck eines Menschen gewertet werden." Demnach "müssten Pflegekräfte, die mit ihren Bewohnern genüsslich Lebensmittel auf dem Tisch verschmieren oder Zeitungen zerreißen, durchaus keine Einzelerscheinung bleiben" (Seite 52 und 53).
  • Im Kapitel 3 ("Lernbegleitung statt Fortbilden") entwickelt wiederum Peter Wißmann Ideen für Fortbildungsinhalte und -vorgehensweisen: Praxisqualifizierung im modularen System mit den Elementen Demenita Care Mapping, Praxisseminare und -beratung, Assessment und Supervision.
  • Kapitel 4 ("Die Präsenzkraft in der Betreuung") enthält einen Bericht von Michaela Helmrich, Brigitte Duwe-Wähler, Sabine Felder und Daniela Oertel über das Projekt SEPIA ("Sektorale Entwicklungspartnerschaft in der Altenhilfe") in Mecklenburg-Vorpommern. Bei diesem Projekt ging es um eine Qualifizierungsmaßnahme zur Präsenzkraft, die vom Arbeitsamt getragen wurde.
  • In Kapitel 5 ("Wohngruppenhaus: Ein Praxisbericht") werden von Elke Morgenroth Erfahrungen mit dem Wohngruppen-Modell im Seniorenzentrum "Clara Zeptkin" in der Stadt Brandenburg an der Havel dargelegt. Das Projekt wird vom "Präsenzkräftemodell" getragen, so stehen die Hauswirtschaft, Biografiearbeit, Angehörigenarbeit und die so genannte "Integrative Validation" im Mittelpunkt des Berichtes.
  • Kapitel 6 ("Multiperspektivische Fallarbeit") von André Hennig enthält ein mehrschichtiges Konzept zur Anamnese, Diagnose, Intervention und Evaluation im Kontext der Pflege und Betreuung Demenzkranker.
  • In Kapitel 7 ("Interventions- und Kommunikationsformen") entwickeln Dorothea Muthesius und Michael Ganß Ideen und Konzepte für den Umgang mit Demenzkranken. Im Mittelpunkt hierbei steht der "Sonderraum für kreative Therapien" (Malen, Musik u. a.), der den Demenzkranken verschiedene Möglichkeiten der Selbstentfaltung und künstlerischen Betätigung bietet. Die Autoren problematisieren hierbei das Konzept der Tagesstruktur für Demenzkranke, das ihrer Meinung nach Elemente einer organisatorischen Fremdbestimmung ohne Nutzen für die Betroffenen enthält. Kreative Beschäftigungen böten hingegen die Chance, die Persönlichkeit der Demenzkranken weiter zu entwickeln. Demenz wird in diesem Zusammenhang als Befreiung von außen geprägten Verhaltensweisen aufgefasst (Seite 142).

Der zweite Teil des Buches ("Bilder aus der Praxis") enthält Praxisberichte zu folgenden Interventionsformen:

  • Ausführungen zu einem Malatelier in einem Pflegeheim für Demenzkranke (Kapitel 8 "Das offene Atelier" von Michael Ganß)
  • Beschreibung eines Clowns über sein Wirken im Heim (Kapitel 9 "Ein Clown im Einsatz bei Menschen mit Demenz" von Maike Jansen)
  • Bericht über den Einsatz von Eurythmie (Kapitel 10 "Eurythmie im Seniorenheim" von Kontanze Gundudis)
  • Verwendung von anthroposophischer Medizin (Kapitel 11 "Prophylaxe und Therapie durch Heileurythmie" von Albrecht Warning)
  • Beschreibung verschiedener Interaktions- und Aktivierungsformen (Kapitel 12 "Integrative Therapie" von Wolf Stein)
  • Ausführungen über die Bedeutung des Humors (Kapitel 13 "Humor in der Betreuung" von Susanne Hausmann)

Den Abschluss des Buches bildet die "Erklärung für eine "Neue Kultur" in der Begleitung von Menschen mit Demenz", die das Konzept von Kitwood bezüglich einer Pflege und Betreuung im sozialpsychologischen Umfeld ohne Abbau, Krankheit und Leiden enthält.

Kritische Würdigung

Die vorliegende Veröffentlichung besitzt implizit den programmatischen Anspruch, einen neuen Weg in der Pflege und Betreuung Demenzkranker gefunden zu haben: die "Neue Kultur". Neue Wege, wenn sie nicht auf kollektiven oder wissenschaftlich fundierten Erfahrungen beruhen, legitimieren sich oft durch Überhöhung des eigenen Standpunktes und Verzerrung und Entwertung der Gegenposition. So liegen Dogmatisierung und Ideologisierung hierbei dicht beieinander, wie an folgenden Argumentationsweisen belegt werden kann:

  • Der Alleinvertretungsanspruch. In vielen Beiträgen des Buches werden äußerst demenzsensible Umgangsweisen und Kommunikationsformen beschrieben, die auf Einfühlungsvermögen, Sensibilität und Geduld beruhen. Problematisch wird es jedoch, wenn dieses Verhalten als prototypisch für die "Neue Kultur" der Demenzpflege bezeichnet wird, denn es handelt sich um Interaktionsweisen, die auf angeborene Dispositionen menschlichen Verhaltens beruhen und sich meist im intuitiven Verhalten zeigen. Diese biologischen Verhaltensmuster als Eigenleistung der "Neuen Kultur" und damit gleichzeitig als Unterscheidungskriterium gegenüber der "biologisch-medizinischen Sichtweise" zu deklarieren, ist nicht nur unredlich, sondern zugleich auch Ausdruck mangelnder Kenntnisse über das menschliche Verhalten selbst.
  • Die Entpathologisierung der Demenz. Ein wichtiger Baustein der so genannten "personenzentrierten" Ansätze besteht in der Einstellung oder Festlegung, dass es sich bei den Demenzen nicht um Krankheiten, sondern eher um Aufarbeitungs- oder Entwicklungsphasen handelt, die ihre Eigengesetzlichkeiten jenseits von ständigem Abbau, Defiziten und Leidensprozessen besitzen. Konsequenterweise werden dann auch in diesem Buch an keiner Stelle demenztypische Stresssymptome wie Unruhe, Unsicherheit, Depressivität und wahnhafte Fehlwahrnehmungen und Halluzinationen angeführt. Verhaltensweisen wie das "Herummanschen mit Kaffee und Kuchen" werden dann auch nicht als verzweifeltes Überforderungsverhalten aufgrund von fortschreitender Apraxie und Agnosie aufgefasst, sondern als "kreativer Ausdruck", an dem die Pflegekräfte möglichst mitwirken sollten (Seite 52 f).
  • Beliebigkeitssyndrom. Einer Demenz als Nicht-Krankheit der "Neuen Kultur" fehlen die Bezugssysteme, die bei der Demenzpflege der "biologisch-medizinischen Sichtweise" in Gestalt von kollektiven Erfahrungen in der Pflege und neurobiologischen Erkenntnissen vorhanden sind. Ohne empirisch fundierten Referenzrahmen verbleibt die "Neue Kultur" jedoch im Zirkelschluss der begrifflichen und damit ideologischen Selbstbezogenheit und fällt damit zugleich in die Sphäre völliger Beliebigkeit hinsichtlich der Vorgehensweisen und deren Bewertung. So kann es dann auch nicht weiter verwundern, dass esoterische Elemente wie Eurythmie als Interventionsformen im Umgang mit Demenzkranken Verwendung finden. In diesem Kontext kann dann auch Demenz getrost als "Befreiung" von gesellschaftlichen Zwängen bezeichnet werden.

Dass diese "Neue Kultur" der Demenzpflege bereits in vielen Einrichtungen der Altenhilfe in Deutschland in Gestalt von Leitbildern oder Pflegestrategien Einzug gehalten hat, lässt auf kein allzu fundiertes Wissen über Demenzen und Demenzpflege schließen.

Fazit

Das vorliegende Buch ist in jeder Hinsicht eine Überraschung, werden doch Demenzen ohne Schatten und mit viel Sonnenschein offeriert. Es kann hier jedoch nur darauf hingewiesen werden, dass die bewusste Entsagung von reflektierter Erfahrung im fachlichen Kontext fast automatisch zu eigenweltlichen Ideenkonstrukten mit esoterischen und subkulturellen Inhalten führt.

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 19.04.2005 zu: Peter Wißmann (Hrsg.): Werkstatt Demenz. Vincentz Network (Hannover) 2004. ISBN 978-3-87870-102-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/2212.php, Datum des Zugriffs 10.11.2024.


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