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Robert Siegler, Nancy Eisenberg u.a.: Entwicklungs­psychologie im Kindes- und Jugendalter

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 21.06.2017

Cover Robert Siegler, Nancy Eisenberg u.a.: Entwicklungs­psychologie im Kindes- und Jugendalter ISBN 978-3-662-47027-5

Robert Siegler, Nancy Eisenberg, Judy Deloache, Jenny Saffran: Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Springer (Berlin) 2016. 4. Auflage. 688 Seiten. ISBN 978-3-662-47027-5. D: 59,99 EUR, A: 61,67 EUR, CH: 75,00 sFr.

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Thema

Entwicklungspsychologie ist ein etabliertes Fachgebiet im großen Feld der verschiedenen Zweige der Psychologie. In den letzten Jahrzehnten erweiterte sich das Wissensgebiet, denn die Phasen des Erwachsenenalters einschließlich der Alterungsprozesse kamen hinzu. Parallel hierzu konnte eine zunehmende Entwicklung in Richtung Genetik, Physiologie und weiterer biologischer Aspekte wie der Hirnreifung konstatiert werden. Das vorliegende Lehrbuch trägt in seiner vierten Auflage diesem Trend angemessen Rechnung. So wird zum Beispiel im Vorwort zur amerikanischen Auflage hervorgehoben, dass der Rahmen der Ausführungen u. a. um die Wissenszweige Epigenetik, Hirnreifung einschließlich Methylierung und spezifische Genvarianten bei bestimmten Verhaltensweisen erweitert wurde. Die deutsche Herausgeberin Sabina Pauen betont im Vorwort zur deutschen Auflage, dass sich das vorliegende Lehrbuch als „Einstiegslektüre zur Prüfungsvorbereitung für das Vordiplom oder für das Bachelor-Studium“ eigne.

Autoren und Herausgeberin

  • Robert Siegler, Professor für Kognitive Psychologie an der Carnegie Mellon Universität (USA),
  • Judy DeLoache, Professorin für Psychologie an der Staatsuniversität von Virginia (USA),
  • Nancy Eisenberg, Professorin für Psychologie an der Staatsuniversität von Arizona (USA),
  • Jenny R. Saffran, Professorin für Psychologie an der Universität von Wisconsin-Madison (USA) und als Herausgeberin
  • Sabina Pauen, Professorin für Entwicklungs- und Biologische Psychologie an der Universität Heidelberg.

Aufbau und Inhalt

Das Lehrbuch ist in 16 Kapitel unterteilt.

In Kapitel 1 (Die Entwicklung von Kindern: Eine Einführung: Seite 1 – 35) werden neben knappen historischen und methodischen Hinweisen die für die Autoren wichtigen Leitfragen für die Kindesentwicklung angeführt: das Zusammenspiel von Anlage und Umwelt, Kinder als aktive Produzenten ihrer Entwicklung, Kontinuität vs. Diskontinuität der Entwicklung, das Entstehen von Veränderungen, der Einfluss des sozio-kulturellen Kontextes auf die Entwicklung, interindividuelle Unterschiede zwischen Kindern und die praktische Relevanz der Forschungen für das Kindeswohl.

Kapitel 2 (Pränatale Entwicklung, Geburt und das Neugeborene: Seite 37 – 76) beinhaltet überwiegend biologische Aspekte der pränatalen Entwicklung wie Befruchtung, Entwicklungsprozesse, das Verhalten, Erleben und Lernen des Fetus. Auch auf die Risiken der pränatalen Entwicklung mittels Gebrauch legaler Drogen (Medikamente, Nikotin und Alkohol) wird eingehend eingegangen. Des Weiteren werden Fakten über die Geburt, die unterschiedlichen Geburtspraktiken und die Aktivierungszustände des Neugeborenen angeführt.

Auch in Kapitel 3 (Biologie und Verhalten: Seite 77 – 116) geht es vorrangig um biologische Prozesse. Zu Beginn wird das Verhältnis von Anlage und Umwelt u. a. anhand der Mendel´schen Vererbungslehre und den Erkenntnissen der Zwillingsforschung erläutert. Es folgen Ausführungen über die Entwicklung des Gehirns (Neurophysiologie, Plastizität und sensible Phasen u. a.) und über das Wachstum und die Entwicklung des Körpers, wobei ausführlich das Ernährungsverhalten bezüglich Übergewicht und Unterernährung als eine Einflussgröße thematisiert wird.

Kapitel 4 (Theorien der kognitiven Entwicklung: Seite 117 – 154) enthält die klassischen Themen der Entwicklungspsychologie in Gestalt der unterschiedlichen Ansätze der geistigen Reifung. Zu Beginn werden die Konzepte der Theorie von Jean Piaget u. a. anhand des Models der vier Stadien der geistigen Entwicklung: das sensomotorische Stadium (Geburt bis zwei Jahre), das präoperationale Stadium (zwei bis sieben Jahre), das konkret-operationale Stadium (sieben bis zwölf Jahre) und das formal-operationale Stadium (zwölf Jahre und älter). Anschließend werden weitere Theorien der geistigen Reifung vorgestellt: Theorien der Informationsverarbeitung (das aktiv lernende und problemlösende Kind), soziokulturelle Theorien (u. a. das Konzept von Wygotski) und Theorien dynamischer Systeme (Betonung der Selbstorganisation des Kindes bei der kognitiven und praktischen Tätigkeit).

Kapitel 5 (Die frühe Kindheit – Sehen, Denken und Tun: Seite 155 – 196) thematisiert die ersten Entwicklungsschritte in den Monaten nach der Geburt in den Bereichen Wahrnehmung, motorische Entwicklung, Lernen und Kognition.

Kapitel 6 (Die Entwicklung des Sprach- und Symbolgebrauchs: Seite 197 – 238) befasst sich mit der Sprachentwicklung: die Komponenten der Sprache, die Voraussetzungen für den Spracherwerb, der Prozess des Spracherwerbs und Theoriefragen der Sprachentwicklung. Es folgen Ausführungen über nichtsprachliche Symbole und das Zeichnen im Verlauf der frühen Entwicklung. So wird u. a. darauf hingewiesen, dass die kritische Phase für den Erwerb einer neuen Sprache die Zeitspanne zwischen dem fünften und zwölften Lebensjahr ist. Kleinkinder bevorzugen auch kindgerechte Sprachstile (Ammensprache, „Babytalk“) gegenüber Erwachsenensprachstilen.

In Kapitel 7 (Die Entwicklung von Konzepten: Seite 239 – 273) wird die allmähliche geistige Erfassung der Umwelt und das eigene Selbst oder Ich im frühen Stadium vermittelt. Die Unterscheidung zwischen Lebenden und nicht Lebenden, zwischen Mensch und Tier und später zwischen Tier und Pflanze und später noch die Unterscheidung bei den Tieren zwischen Hund und Katze – all das sind konkrete Entwicklungsschritte in der Reifung. Hinzu kommen mit ca. 1,5 Jahren die Als-ob-Spiele: die Objektsubstitution, wenn z. B. ein Kleinkind einen Holzstab als eine Trinkflasche verwendet. Die geistige Umwelterfassung findet sich auch in dem Begreifen von Kausalität, Raum, Zeit und Zahl wieder. Zunehmend wird somit Schritt für Schritt die objektive Welt strukturiert und kategorisiert.

Kapitel 8 (Intelligenz und schulische Leistungen: Seite 275 – 311) thematisiert das zunehmende geistige Leistungsvermögen der Kinder. Die Frage nach der Intelligenz, die Modalitäten der Intelligenzmessung und die Bedeutung der IQ-Werte für den Lebenserfolg werden neben den Aspekten Gene, Umwelt und Intelligenzentwicklung dargestellt. Es folgen Wissensstände über den Erwerb schulischer Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen.

Kapitel 9 (Theorien der sozialen Entwicklung: Seite 313 – 352) beschreibt die gängigen überwiegend historischen Erklärungsansätze der menschlichen Reifung: psychoanalytische Konzepte (Freud und Erikson), Lerntheorien (Behaviorismus nach Watson, operante Konditionierung von Skinner und die Theorie der sozialen Lernens nach Bandura), Theorien des sozialen Lernens (Stufentheorie der Perspektivenübernahme von Selman, Informationsverarbeitungstheorie des sozialen Problemlösens von Dodges und die Theorie der Selbstattribution von Dweck) und ökologische Entwicklungstheorien (Ethologische und evolutionsbiologische Theorien u. a. nach Lorenz und das bioökologische Modell von Bronfenbrenner).

Kapitel 10 (Emotionale Entwicklung: Seite 353 – 396) beinhaltet den Themenkomplex der Entwicklung der Modulierung der Gefühlsebenen vom ersten Schreien und Lächeln bis zu späteren differenzierteren Gefühlsäußerungen. Auch die sozialen Gefühle wie Verlegenheit, Stolz, Scham und Schuld werden eingehend dargestellt. Des Weiteren werden Formen der zunehmend emotionalen Selbstregulierung beschrieben. Zum Abschluss des Kapitels wird der bedeutsame Einfluss von Familie und Kultur auf die emotionale Entwicklung herausgearbeitet.

In Kapitel 11 (Bindung und Entwicklung des Selbst: Seite 397 – 438) konzentriert sich die inhaltliche Darstellung auf das Bindungsverhalten im Kontext des Entwicklungsprozesses, wobei zu Beginn eingehend auf Bowlby und seine Bindungstheorie nebst den Forschungen von Ainsworth eingegangen wird. Es schließen sich Ausführungen über die Entwicklung der Identität im Rahmen des Heranwachsens an. Das Selbstbild wird mit zunehmendem Alter stärker von den sozialen Kontakten der unmittelbaren Umwelt beeinflusst. Auch die ethnische Identität in Kindheit und Jugend wird u. a. nebst der Entwicklung des Selbstwertgefühls erklärt.

Kapitel 12 (Die Familie: Seite 439 – 482) enthält themenorientiert Informationen über die Familie, wobei besonders der Einfluss der elterlichen Sozialisation u. a. in Gestalt der Erziehungsstile und die sozioökonomischen Einflüsse dargestellt werden. Weitere Themen diesbezüglich sind Veränderungen der familiären Konstellationen u. a. in Form von Scheidungen und Stiefelternschaft. Ein Abschnitt widmet sich der Berufstätigkeit der Mütter und den Auswirkungen der Kinderfremdbetreuung.

Kapitel 13 (Beziehungen zu Gleichaltrigen: Seite 483 – 527): Zu Beginn wird das Spektrum Freundschaften mit seinen Veränderungen und auch Auswirkungen im Laufe der Kindheits- und Jugendentwicklung aufgezeigt. Die Bedeutung von Cliquen und sozialen Netzen bei älteren Kindern und Jugendlichen und der Stellenwert des Status in den Gruppen der Gleichaltrigen werden vertiefend herausgearbeitet.

Kapitel 14 (Moralentwicklung: Seite 529 – 573): Am Anfang steht die Darstellung der Theorien über die moralische Entwicklung von Piaget und Kohlberg mit ihren reifungsbedingen Abstufungen. Anschließend werden Aspekte des prosozialen und des antisozialen Verhaltens im Laufe der Kindheits- und Jugendentwicklung expliziert. Besonders aggressive Verhaltensmuster und weitere störende Verhaltensweisen werden hierbei unter verschiedenen Dimensionen wie Herkunft, elterliche Erziehungsstile und soziales Umfeld analysiert.

Kapitel 15 (Die Entwicklung der Geschlechter: Seite 575 – 617). Hier werden anfangs theoretische Perspektiven der Geschlechterentwicklung mit den Schwerpunkten biologische, kognitive, motivationale und kulturelle Einflüsse erläutert. Es folgen „Meilensteine der Geschlechterentwicklung“: frühe Kindheit, Kindergartenzeit, mittlere Kindheit und Adoleszenz. Des Weiteren werden Vergleiche zwischen den Geschlechtern aufgezeigt: u. a. körperliches Wachstum, kognitive Fähigkeiten, Persönlichkeit, Kommunikationsverhalten und aggressive Verhaltensweisen.

In Kapitel 16 (Fazit: Seite 619 – 640) werden alle wesentliche Fakten und Erkenntnisse nochmals zusammengetragen.

Ergänzend bedarf es noch der folgenden Hinweise bezüglichen der Gestaltung der Inhalte des Buches:

  • Zu jedem Kapitel ist eine Zusammenfassung und eine Literaturliste erstellt worden.
  • Das Buch ist reich bebildert mit vielen Hundert Abbildungen und Fotos.
  • Hinzu kommen 500 Farbtabellen in teils unterschiedlichen Formaten.
  • Hervorhebungen wichtiger Inhalte durch Einrahmungen, farbliche Grundierung (u. a. Exkurse) und Veränderungen der Schrifttypen und Schriftgröße.

Diskussion und Fazit

Es liegt hier eine wissenschaftlich fundierte Publikation mit umfangreichen und auch aktuellen Wissensständen aus allen wichtigen Praxisfeldern der Entwicklungspsychologie vor. Deutlich ist das Anliegen der Autoren zu spüren, praxisnahes Wissen aus dem Alltag der Lebenswelt des Kindes in seiner Entwicklung mit all seinen Facetten und auch Problemstellungen allgemeinverständlich zu vermitteln.

Unter der Berücksichtigung, dass dieses Werk als ein Lehrbuch Studierenden der Psychologie Zugang zum Gegenstandsbereich Entwicklungspsychologie mit ihren wesentlichen Erkenntnissen und Wissensständen erschließen soll, bedarf es einiger kritischer Anmerkungen:

  • Es fehlt eine dezimale Gliederung des Textes, die als Ordnungsprinzip die Erfassung der Inhalte wesentlich erleichtert.
  • Es fehlt in der Darstellungsweise eine klare Trennung zwischen dem gegenwärtigen Stand der Forschung und der historischen Entwicklung des Fachgebietes mit letztlich unwissenschaftlichen Vorgehensweisen und den entsprechenden „Erkenntnissen“ in den letzten zwei Jahrhunderten.
  • Vermisst wird auch eine dezidiert hierarchisch reduktionistische Explikation des Sujets u. a. in Gestalt der Darstellung des Reifungsprozesses von der pränatalen Phase bis zur Adoleszenz. Dies wird deutlich, wenn zum Beispiel die Biologie als ein Element und nicht als das Element der Entwicklung dargestellt wird.

Abschließend kann das Fazit gezogen werden, dass hier eine äußerst faktenreiche und leicht lesbare Publikation vorliegt, die für Leser mit Interesse an entwicklungspsychologischen Fragestellungen von großem Nutzen sein kann.

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 21.06.2017 zu: Robert Siegler, Nancy Eisenberg, Judy Deloache, Jenny Saffran: Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Springer (Berlin) 2016. 4. Auflage. ISBN 978-3-662-47027-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22122.php, Datum des Zugriffs 24.09.2023.


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