Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Lutz Goldbeck, Annika Münzer et al.: Ratgeber Sexueller Missbrauch

Rezensiert von Dr. Miriam Damrow, 10.05.2017

Cover Lutz Goldbeck, Annika Münzer et al.: Ratgeber Sexueller Missbrauch ISBN 978-3-8017-1681-3

Lutz Goldbeck, Annika Münzer, Miriam Rassenhofer, Jörg M. Fegert, Marc Allroggen: Ratgeber Sexueller Missbrauch. Informationen für Eltern, Lehrer und Erzieher. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG (Göttingen) 2017. 60 Seiten. ISBN 978-3-8017-1681-3. D: 8,95 EUR, A: 9,30 EUR, CH: 11,90 sFr.
Ratgeber Kinder- und Jugendpsychotherapie, Band 21.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Entstehungshintergrund und Thema

Der vorliegende Band ist als Ratgeber konzipiert für die im Untertitel bereits angesprochenen Klientelgruppen. Gefördert wurde die Publikation aus Mitteln des BMBF.

Aufbau

Die Autor*innen geben in sieben Kapiteln kompakt Informationen zum Thema. Alle Kapitel sind als Fragen formuliert, deren Antworten dann im entsprechenden Kapitel gegeben werden. Kapitel 1 beantwortet die Frage, was sexueller Missbrauch ist. Im 2. Kapitel werden Informationen dargeboten, wie Kinder und Jugendliche vor Missbrauch geschützt werden können. Kapitel 3-7 mit jeweils einigen Unterkapiteln gehen folgenden Fragen nach: Was sind Hinweise darauf, dass Kinder / Jugendliche möglicherweise missbraucht wurden? (Kap. 3), Wie geht man mit der Vermutung eines sexuellen Missbrauchs um? (Kap. 4), welche rechtlichen Rahmenbedingungen gibt es? (Kap. 5), Was können Eltern, Erzieher und Lehrer tun, wenn ein sexueller Missbrauch stattgefunden hat? (Kap. 6), Was kann man tun, wenn der Missbrauch innerhalb der Familie stattfindet? (Kap. 7). Im Anhang werden weiterführende Literatur und wichtige Adressen und Anlaufstellen aufgeführt.

Inhalt

Im ersten Kapitel werden auf anderthalb Seiten (S. 9-10) knappe Informationen gegeben, was sexueller Missbrauch ist. Differenziert werden hier Formen (mit oder ohne Körperkontakt), Machtgefälle, informed consent, Grooming-Prozesse aufgeführt. Zudem wird darauf verwiesen, dass genaue Angaben über die Häufigkeit nicht fundiert zu treffen sind (Dunkelfeldhäufigkeit). Ebenso finden sich Angaben dazu, dass Familien weitaus häufiger als Tatorte aufzufinden sind als Missbrauch durch dem Kind unbekannte Personen.

Das zweite Kapitel rekurriert auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellem Missbrauch. So wird zum einen auf die (im Übrigen gesetzlich verankerte) Pflicht der Erwachsenen, Kinder und Jugendliche zu schützen, verwiesen. Andererseits wird deutlich darauf hingewiesen, dass kein 100%iger Schutz gewährleistet werden kann. Deshalb wird knapp skizziert, welche Handlungsoptionen erwachsenen Bezugs- und Betreuungs- und Bildungspersonen allgemein-präventiv offenstehen. Dazu zählen Informationen für die Kinder (Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper, das Recht auf Nein-Sagen, die Differenzierung von Hilfe-holen und Petzen, Internetnutzung). Allgemeiner wird ebenfalls darauf hingewiesen, dass „weitere Ziele, die Eltern und Bezugspersonen bei der Erziehung ihrer Kinder anstreben sollten, um sie vor übergriffigem Verhalten anderer zu schützen, … die Förderung von Selbstvertrauen und Selbstbestimmung sowie einer positiven Einstellung zum eigenen Körper [sind]“ (S. 12).

Im dritten Kapitel stehen Antworten auf die Frage: „Was sind Hinweise darauf, dass Kinder/Jugendliche möglicherweise missbraucht wurden?“ Im Mittelpunkt. In drei Unterkapiteln werden Äußerungen der Kinder und Jugendlichen, körperliche Symptome, psychische Symptome und Verhaltensauffälligkeiten adressiert. Die Autor*innen verweisen darauf, dass nicht alle betroffenen Kinder / Jugendlichen sofort / überhaupt Symptome zeigen bzw. längere Zeit zwischen den erlittenen Erfahrungen und dem Auftreten von Symptomen liegen kann.

Der Umgang mit dem Verdacht eines sexuellen Missbrauchs wird im vierten Kapitel fokussiert. Hier werden Ratschläge zum Erstumgang mit der Vermutung / dem Verdacht gegeben (Ruhe bewahren, Notizen machen, Verletzungen durch spezialisierte Ärzte abklären lassen, evtl. Anzeige bei der Polizei (genauer: der Kriminalpolizei) gegeben, die sich vorrangig an Eltern richten, deren Kind davon betroffen ist. Im darauffolgenden Abschnitt werden Ratschläge für Eltern skizziert (Hinzuziehen einer erfahrenen Fachkraft), deren Kind nicht unmittelbar betroffen ist, sondern davon berichtet, dass andere, ihm bekannte Kinder sich anvertraut hatten.

Das fünfte Kapitel thematisiert rechtliche Rahmenbedingungen. In mehreren Unterkapiteln werden Strafrecht, das System der Kinder- und Jugendhilfe und familiengerichtliche Verfahren vorgestellt. Dabei wird insbesondere auf sexuellen Missbrauch als Offizialdelikt, auf die Anzeigenpflicht (die für einige Berufsgruppen nicht gilt) verwiesen.

Im sechsten Kapitel wird die Frage beantwortet, was Eltern, Erzieher und Lehrer tun können, wenn sexueller Missbrauch stattfand. Zu Beginn werden sieben allgemeine Ratschläge aufgeführt. In einzelnen Unterkapiteln werden Fragen gesondert beantwortet. So widmet sich Kap. 6.1 der Frage, was Eltern tun können. Unter der Annahme außerfamilialen Missbrauchs wird darauf hingewiesen, welchen möglichen Unterstützungsbedarf betroffene Kinder aufweisen können und wie er gut abgedeckt werden kann. In Unterkapitel 6.2 erhalten Lehrer und Erzieher Auskunft, was sie tun können (vorrangig Rücksicht üben). In Unterkapitel 6.3 wird die Frage beantwortet, was Ärzte und Psychotherapeuten tun können. In Unterkapitel 6.4 werden weitere Hilfemöglichkeiten aufgeführt. Unterkapitel 6.5 adressiert überflüssige / schädigende Angebote.

Die Frage, was bei innerfamilialem Missbrauch getan werden kann, beantwortet das siebte Kapitel. Dabei wird nach Missbrauch unter Geschwistern und Missbrauch durch Eltern differenziert. Weitere Familienangehörige werden nicht aufgeführt.

Diskussion

Die im ersten Kapitel vermittelten Informationen skizzieren sehr knapp grundlegende Fakten zum sexuellen Missbrauch. Positiv hervorzuheben ist die deutliche Abgrenzung zu den üblichen Mythen und die teilweise detaillierten Informationen. Allerdings fällt auf, dass die Manipulationsstrategien der tatbegehenden einseitig auf die Opfer fokussieren, nicht aber die Manipulationsstrategien der tatbegehenden in Bezug auf das Umfeld. Diese Ergänzung wäre hier wünschenswert, notwendig und nützlich gewesen. Es erscheint an dieser Stelle nicht nachvollziehbar, warum diese Informationen nicht aufgeführt wurden.

Im zweiten Kapitel wird zu Beginn auf die Pflicht von Erwachsenen verwiesen, Kinder und Jugendliche aktiv zu schützen. Diese Pflicht ist sowohl grundgesetzlich (für die Eltern) als auch differenziert im SGB VIII festgehalten. Umso unverständlicher, dass diese gesetzlichen Grundlagen hier weder aufgeführt werden noch überhaupt erwähnt. Andererseits wird auch deutlich darauf hingewiesen, dass kein 100iger Schutz gewährleistet werden kann. Nach diesem Hinweis folgt abrupt der Hinweis (der sich im Übrigen weder logisch aus dem Vorigen ergibt noch einer erkennbaren deduktiven Logik folgt), dass es wichtig ist, mit Mädchen und Jungen über sexuellen Missbrauch zu sprechen. Warum es wichtig ist, wird nicht erwähnt. Auch der aufgeführte Hinweis, die (nachfolgend aufgeführten) Informationen sollten altersgerecht vermittelt werden, ist stark vereinfachend gehalten: weder wird erläutert, wann die Informationen denn altersgerecht sind, noch wie altersgerechte Informationen denn detailliert aussehen noch, wie eine altersgerechte Vermittlung denn aussehen könnte: Eltern, Lehrer und Erzieher verfügen offenbar von Natur aus über das nötige didaktische Wissen – so erscheint es zumindest. Inhaltlich sind die Informationen problematisch: das betrifft zum einen das angesprochene Recht der Kinder, selbst darüber zu bestimmen, wer sie wie wann anfasst.

Pauschal ist dagegen nichts einzuwenden, im Einzelfall erscheint es hingegen hochgradig problematisch: So wird im Band ausgesagt, Kinder können darüber informiert werden, dass es notwendige Formen des Körperkontaktes gibt. Hier wären weitere Informationen unbedingt nötig gewesen.

  • Was stellen notwendige Formen des Körperkontaktes dar?
  • Wer entscheidet über die Notwendigkeit?
  • Wie können Kinder so informiert werden, dass sie die Notwendigkeit einsehen?
  • Was ist in den Fällen, in denen die Kinder das nicht einsehen?
  • Was ist mit den Manipulationsstrategien von Tatbegehenden, die auf der Notwendigkeit des (missbrauchenden) Körperkontaktes bestehen?

Analoge Kritik muss auch an den Punkt des „Nein-Sagens“ herangetragen werden: Offenbar wird hier erwartet, dass Kinder genau dann Nein sagen, wenn sich Erwachsene falsch, nämlich missbrauchend, verhalten. Und woher wissen die Kinder also, dass sich diese Erwachsenen falsch verhalten? Anzunehmen, dass sich diese falschen Berührungen ausschließlich auf Penis oder Scheide beziehen ist so gefährlich wie naiv: dieser simplifizierende Zugang missachtet alle anderen Formen sexuell missbrauchender älterer Personen (z.B. Manipulationen der Brustwarzen). Außerdem gehört implizit zum Nein-Sagen auch, dass das Nein gehört und geachtet wird (was nicht automatisch voraussetzbar ist). Und unangenehme Formen der Berührungen können auch von medizinischem Fachpersonal kommen, die gerade Spritzen setzen. Wie wäre Kindern hier also zu vermitteln, dass ihr Nein hier nicht gilt, obwohl ihnen die Berührung unangenehm ist? Diese Frage wird jedoch von den Autor*innen weder gestellt noch beantwortet.

Der im Text als nächstes angesprochene Punkt der Differenzierung betrifft die Weitergabe der Information. Kurz und bündig wird darüber in Kenntnis gesetzt, dass Kinder darüber informiert werden können, über erlittene sexuelle Gewalterfahrungen mit Erwachsenen reden zu können. Hier wäre von einem Ratgeber deutlich mehr zu erwarten gewesen: es folgen weder praktische Informationen, wie denn Kinder darüber informiert werden können, noch folgen Informationen über den Umgang mit der Aufdeckung. Extrem problematisch erscheint zusätzlich folgende Aussage: „sich bei Erwachsenen Hilfe zu holen ist kein Petzen“ (S. 11). Nicht alle Erwachsenen sind hilfreich, noch können alle Erwachsenen Hilfe bieten. In dieser globalen und pauschalen Aussage wird ein komplexes Problemfeld unzureichend verkürzt. Und wie Kindern der Unterschied vermittelt werden könnte, warum Hilfeholen kein Petzen sei, schweigt sich dieser Ratgeber völlig aus. Ähnliches gilt für den letzten im Ratgeber an dieser Stelle angesprochenen Punkt der Internetnutzung. Diese Ratschläge gelten zwar allgemein (Reden über Internetnutzung, Vereinbarungen über Nutzungszeiten und Vereinbarungen über Informationsweitergaben), gehen am Problem weitgehend vorbei: Schon wenn Telefonnummern (konkreter: Whatsapp, Snapchat etc.) ausgetauscht werden, ist das formal nur bedingt Online-Weitergabe von Informationen, ganz abgesehen davon, dass sich Internetgrooming dadurch kaum eindämmen und/oder verhindern ließe.

Die im dritten Kapitel angesprochenen Hinweise auf Symptome, die bei Kindern und Jugendlichen auftreten können, werden in 3 Unterkapiteln nach Art der Symptome differenziert, nicht aber nach Geschlecht – diese unzureichende und verkürzende Informationsdarbietung ist für einen Ratgeber unangemessen.

Im vierten Kapitel stehen Ratschläge für Eltern im Mittelpunkt, deren Kind vermutlich von sexuellem Missbrauch betroffen ist. Kritisch sind hier pauschale Ratschläge zu sehen wie die folgenden: „Wenn Sie sich zu einer Strafanzeige entschieden haben, sollten Sie darauf achten, dass Ihr Kind unter den bestmöglichen Bedingungen vernommen wird“ (S. 19). Und woher können Eltern diese bestmöglichen Bedingungen kennen und/oder einschätzen? Dies vor allem, wenn hier keine weiteren Hinweise auf „bestmögliche Vernehmungsbedingungen“ gegeben werden. Geradezu fahrlässig erscheint hingegen der Ratschlag, dass Eltern bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch, der nicht ihr eigenes, sondern ein nichtverwandtes Kind betrifft., sich gemäß § 8b SGB VIII ans Jugendamt wenden könnten, um dort eine Beratung einzuholen. Gemäß § 8b SGB VIII steht die erfahrene Fachkraft für professionelle Fachkräfte in Einrichtungen zur Verfügung, nicht aber für Eltern. Dies hätte gerade den Autor*innen bekannt sein müssen – es erscheint an dieser Stelle nicht nachvollziehbar, wie sie eine solche Falsch- und Fehlinformation publizieren konnten.

Im fünften Kapitelwerden rechtliche Rahmenbedingungen thematisiert. Dabei werden Grundlagen des Strafrechts, der Kinder- und Jugendhilfe und familiengerichtlicher Maßnahmen kurz vorgestellt. Problematisch erscheint hier, dass sich fast alle Darstellungen an Eltern richten, der Band aber für Eltern, Lehrer und Erzieher konzipiert ist.

Das sechsten Kapitel beantwortet explizit die Frage, was Eltern, Erzieher und Lehrer tun können, wenn sexueller Missbrauch stattfand. In mehreren Unterkapiteln wird nach Berufsgruppen differenziert. Logisch nicht hergeleitet und begründet erscheint an dieser Stelle, ein Unterkapitel einzufügen, was Ärzte und Psychotherapeuten tun können.

Im siebten Kapitel wird innerfamilialer Missbrauch thematisiert, der jedoch ausschließlich sexuelle Kontakte zwischen Eltern und Kindern oder zwischen älteren Geschwisterkindern und jüngeren Geschwisterkindern beinhaltet. Hier hätte eine gründlichere Bearbeitung des Themas erfolgen können und wohl auch müssen – schließlich missbrauchen auch Großeltern, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen…

Fazit

In der Zusammenschau der Kapitel fällt das Ergebnis ernüchternd aus: zum einen werden an einzelnen Stellen ausreichende und detaillierte Informationen gegeben. An sehr vielen, den weitaus meisten Stellen wird ein simplifizierender Überblick gegeben, der weder hilfreich noch sinnvoll erscheint. Eine kritische Durchsicht hätte vermutlich erheblich gutgetan. Insgesamt erscheint der Band sinnlos: den angesprochenen Bezugsgruppen fehlen wichtige, detaillierte Informationen, für informierte Lesende werden Selbstverständlichkeiten dargeboten, an einzelnen Stellen werden Falschinformationen dargeboten (s. Diskussion Kap. 4). Demgegenüber fallen stilistische Schwächen, kleinere Orthografie- und Grammatikfehler kaum noch ins Gewicht.

Rezension von
Dr. Miriam Damrow
Mailformular

Es gibt 48 Rezensionen von Miriam Damrow.

Zitiervorschlag anzeigen Besprochenes Werk kaufen

Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245