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Joachim Rock: Störfaktor Armut

Rezensiert von Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt, 26.07.2017

Cover Joachim Rock: Störfaktor Armut ISBN 978-3-89965-719-7

Joachim Rock: Störfaktor Armut. Ausgrenzung und Ungleichheit im neuen Sozialstaat. VSA-Verlag (Hamburg) 2017. 224 Seiten. ISBN 978-3-89965-719-7. D: 19,80 EUR, A: 15,30 EUR.

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Thema

Die Armutsberichterstattung des Paritätischen Gesamtverbandes löst regelmäßig eine Diskussion darüber aus, ob die publizierten Daten und Erkenntnisse die Wirklichkeit der sozialen Verhältnisse in Deutschland treffen. Das Bestreiten des Vorhandenseins von Armut, der wachsenden Unterschiede von Arm und Reich gehört dabei zu dem Grundmuster, mit dem auf die Armutsberichterstattung des Paritätischen los gegangen wird. Joachim Rock ist leitender Mitarbeiter im Paritätischen Gesamtverband und hat sich in vielen Publikationen bereits mit der Thematik auseinandergesetzt. In dem vorliegenden Band unternimmt er den Versuch, sich systematisch und grundlegend mit dem Thema Armut und seiner sozialpolitischen Hintergründe zu befassen.

Aufbau und Inhalt

Nach einem Geleitwort des Geschäftsführers des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider, befasst sich das zweite Kapitel mit verschiedenen Diskursen, die sich allesamt dadurch auszeichnen, Armut als gesellschaftlichen Tatbestand zu relativieren. Die konstruierten Armutsbilder sind nach dem Muster gestrickt, dass die Armen – so es sie denn gibt – durch ihr Verhalten und/oder ihre Anlagen selbst zu ihrer Armut beitragen und das diese Sichtweise auch eine sozialpolitische Fundierung erhält. Joachim Rock verweist auf die weitreichenden Folgen, die es hat, wenn der „kleine Mann“ kulturell, politisch und sozial ins gesellschaftliche Abseits gedrängt wird. Dass es keinen gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, was Armut ist und wer als arm zu bezeichnen ist, ist deshalb Gegenstand des

Kapitels 3. Hier setzt sich der Autor detailliert mit der amtlich anerkannten Armut und den gesetzlichen Leistungen für Arme auseinander und weist auf Defizite hin. Dass die staatliche Leistungsgewährung kein Zuckerschlecken für den Leistungsempfänger ist, illustriert Joachim Rock an den Anforderungen und Sanktionen, mit denen (potenzielle) Leistungsempfänger konfrontiert sind und die insgesamt das Bild ergeben, dass eine ohnehin belastete Lebenssituation weiteren Schädigungen ausgesetzt ist, die sich in der sozialen Situation der Armen geltend machen.

Im vierten Kapitel wendet sich der Autor gegen eine Sichtweise, die Armut und Reichtum als Diskussion über Ungleichheit führt. Er sieht darin eine Verharmlosung, weil sie das Ausmaß individueller Not drastisch unterschätzt. Nach einer detaillierten Schilderung der Leistungen der Grundsicherung setzt er sich mit Kritiken des ehemaligen Generalsekretärs des Deutschen Caritasverbandes auseinander, der den relativen Armutsbegriff in den Armutsberichten des Paritätischen als tauglichen Indikator für Armut bezweifelt hat. Joachim Rock referiert unterschiedliche einkommensbezogene Armutsbegriffe und kommt zu dem Ergebnis, dass die Abbildung der Unterschiede zwischen Arm und Reich erfordern, das „gesamte Ausmaß des Reichtums in die Waagschale zu geben“ (S. 62). Auch die Auseinandersetzung mit Armutsdefinitionen jenseits des Einkommens (Blick auf die individuelle Lage) sind nach seiner Auffassung nicht geeignet, die Kritik am relativen Armutsbegriff in den Armutsberichten des Paritätischen zu fundieren. Der Autor argumentiert gegen die Kritik der Gleichsetzung von Armutsrisiko und Armut und plädiert dafür, gerade wegen der sozialen Lage der Betroffenen den Begriff der Armut für angemessen zu halten – auch dann, wenn bestimmte Armutsphasen nur vorübergehend sein mögen.

In Kapitel 5 wird der Frage nachgegangen, wie man eigentlich reich wird. Joachim Rock befasst sich hier allerdings nicht mit der Frage, wie die kapitalistische Produktionsweise dazu beiträgt, Reichtum zu akkumulieren, sondern wie dieser Tatbestand politisch unterstützt und positiv sanktioniert wird. Die Kehrseite des Reichtums ist die Verschuldung, die insbesondere auf arme alte Menschen in wachsendem Maße zutrifft. Der Autor referiert anhand verschiedener Beispiele (z.B. der Beitragsschulden) das Ausmaß, in dem der Tatbestand der Verschuldung verschiedene Bevölkerungsgruppen betrifft und resümiert die „verheerenden“ Konsequenzen für die Betroffenen. Auch hier ist das staatliche Recht auf die Durchsetzung der Rechte der Gläubiger und nicht auf die Korrektur der sozialen Situation des Schuldners gerichtet.

Kapitel 6 befasst sich mit Armut und Armutsbildern in Deutschland, beginnend mit der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ des Soziologen Helmut Schelsky in den 1950er Jahren. Noch in den 1960er und 1070er Jahren wurde nicht materielle Armut, sondern immaterielle Defizite von „Randgruppen“ als sozialpolitische Herausforderung angesehen. Die Rede war von horizontalen Disparitäten und sie verband sich mit der Überzeugung, dass Klassenproblem des Kapitalismus durch eine aktive Lebenslaufpolitik überwinden zu können. Die Daten zeigen das Gegenteil. Im Jahre 1989 veröffentlichte der Paritätische den ersten bundesweiten, aus der Zivilgesellschaft kommenden Armutsbericht und Joachim Rock weist darauf hin, wie zögerlich und zum Teil widerständig die anderen Wohlfahrtsverbände hierauf reagierten. Es blieb allerdings nicht bei der regierungsunabhängigen Berichterstattung, denn unter dem Titel „Lebenslagen in Deutschland“ begann unter der rot-grünen Bundesregierung 2001 die

Im Kapitel 7 beschriebene Verstaatlichung der Armuts- und Reichtumsberichterstattung. Anhand der verschiedenen Armuts- und Reichtumsberichte zeigt der Autor den Umgang der Ministerien mit den Berichten, weist auf Defizite hin und ist der Meinung, dass der Umgang mit dem Thema Reichtum in diesen Berichten „ganz und gar unbefriedigend ist“ (S. 103).

Kapitel 8 setzt sich mit Verteilungsfragen auseinander. Ausgehend von dem „kurzen Sommer“ der Armutsbekämpfung in den USA und der Regierung von Lyndon B. Johnson werden die Konsequenzen der Liberalisierung des Finanzsektors besprochen und schließlich auf die Konzeption und Folgewirkungen der Hartz-Gesetzgebung eingegangen. Joachim Rocks Urteil ist eindeutig: „Damit wurden die Grundlagen gelegt, um Sozialpolitik zunehmend als marktkorrigierende Politik zu beseitigen“ (S. 108). Der Autor zeigt, wie die wissenschaftliche Debatte über Armut sich weiter ausdifferenzierte und der Begriff der Exklusion Bedeutung für die Armutsdiskussion gewann. Er merkt kritisch an, dass mit dem Exklusionsbegriff gesellschaftlicher Ausschluss unabhängig von gesellschaftlichen Verteilungsfragen konstruiert werden kann und dass diese Debatte eng mit der Diskussion um die Unterschicht verbunden ist. Auch auf europäischer Ebene ist die Konstruktion von Inklusion ein Beispiel dafür, wie statt struktureller Reformen Reformnotwendigkeiten bei den Betroffenen in den Vordergrund rücken.

Kapitel 9 befasst sich mit der Refeudalisierung sozialer Verhältnisse. Die Verfestigung von Armut (z.B. bei Kindern und Jugendlichen) ist hierfür ebenso ein Beispiel wie die Bildung, in der Menschen mit „niedriger Bildungsherkunft“ systematisch auch diejenigen sind, die ihr Leben am Rande der Prekarität verbringen müssen.

In Kapitel 10 wird Alter als neues Armutsrisiko einer näheren Betrachtung unterzogen und der Autor zeigt überzeugend und nachvollziehbar, dass die drohende Altersarmut nicht nur statistisch gut belegbar ist, sondern diese Entwicklung politisch mit der Abkehr vom Ziel der Lebensstandardsicherung in der Gesetzlichen Rentenversicherung einen Schub erhalten hat. Mit Altersarmut geht die wachsende Wohnungsnot einher, die nicht nur in der Wohnungslosenhilfe ihren sichtbaren Ausdruck findet. Joachim Rock argumentiert gegen den Versuch, diese Tatbestände „schön zu rechnen“ und verweist auf das Fiktive an Vermögensrechnungen, die auf Durchschnittszahlen basieren, für den Einzelnen aber ohne Bedeutung sind.

Kapitel 11 befasst sich mit dem Thema, „wie Armut hingenommen wird“. Die Akzeptanz von Armut in der Sozialpolitik, die korrigierende Funktion des Bundesverfassungsgerichts und die diversen sozialstaatlichen Kompensationsprogramm werden hier thematisiert, wobei der Autor auf Absurditäten wie das Bildungs- und Teilhabepaket verweist, „dass seinen Adressaten erst noch finden muss“. Die Überschrift über das Kapitel ist freundlich formuliert, denn eigentlich handelt es davon, wie Armut sozialpolitisch durchgesetzt wird.

Kapitel 12 thematisiert Armut und Ausgrenzung 4.0. Auch in diesem Kapitel wird das „Freiheitsversprechen des technologischen Fortschritts“ primär an seinen sozialpolitischen Wirkungen diskutiert und nicht an dem kapitalistischen Umgang mit Arbeit, der noch aus jedem Produktivitätsfortschritt ein Rationalisierungsinstrument macht. Der Tatbestand, dass Güter und Dienstleistungen, wenn sie schneller und besser produziert werden können, Entlassungen hervorrufen, gilt in den zitierten Studien als ökonomische Selbstverständlichkeit und das Gespenst der Arbeitslosigkeit und prekärer Beschäftigung steht am Ende der Vision von der Wirtschaft 4.0. Joachim Rock kommt schon fast resignierend zu dem Schluss, dass Widerstand gegen neue Technologien auf „lange Sicht nicht erfolgreich ist“ (S. 152), gewinnt aber dann doch eine optimistische Perspektive, wenn er mit Verweis auf den Widerstand gegen TTIP und CETA darauf hinweist, dass die Gelegenheit, mit geringen Mitteln größte Erfolge zu erzielen, nie so günstig war wie heute.

Kapitel 13 ist den „Lebenslügen im Elitediskurs“ gewidmet und setzt sich kritisch mit dem gemeinsamen Nenner der deutschen Politik, dem Bildungsversprechen auseinander. Joachim Rock zeigt, dass das Bildungsversprechen zunehmend weniger eingelöst wird und auch die Berufswahl nur noch bedingt einen höheren sozialen Status garantiert. Das Bildungsversprechen – so sein Fazit – ist heute hohl geworden und auch hier diagnostiziert er eine Abkehr vom „kleinen Mann“, der mit Innovations- und Zukunftsstrategien konfrontiert wird, die wenig bis nichts mit der Korrektur seiner gegenwärtigen sozialen Situation zu tun haben.

Kapitel 14 knüpft hieran an und behandelt das Thema von Abwehr, Abschottung und Ignoranz im Mainstream. Damit ist die Zurückdrängung des Sozialen im öffentlichen Diskurs ebenso angesprochen wie die beobachtbare Folgewirkung, das Erstarken von Nationalismus gerade bei denen, die sich ausgeschlossen fühlen. Der Autor führt die Beispiele Polen und Türkei an um zu zeigen, dass nationale Politik in ihrer völkischen Perspektive auf das ganze Volk, also auch auf die Armen gerichtet ist und deren soziale Situation in den Blick nimmt. Das macht sie attraktiv für ein enttäuschtes und perspektivloses Wählerklientel. Dass diejenige, die sich sozial ausgeschlossen fühlen ausgerechnet diejenigen zum Feind erklären, die als Flüchtlinge und Migranten eine Perspektive für sich suchen, ist allerdings keine Folge ihrer sozialen Lage. Hierzu bedarf es schon des Umwegs über die Hoffnung, dass eine starke Nation auch ein Garant der Einlösung materieller Bedürfnisse sein wird. Joachim Rock polemisiert gegen Marketingstrategien, die an die Stelle institutionalisierter Kanäle demokratischer Willensbildung treten und kritisiert auch linke Strategien, denen er eine „Abstraktion von antagonistischen Interessen“ vorwirft (S. 176).

Im abschließenden analytischen Kapitel des Buches, Kapitel 15 werden die Gefahren für Demokratie und Zusammenhalt aufgegriffen und die Zuschreibung, dass die Ausgegrenzten „rechts“ wählen, einer näheren Prüfung unterzogen. Dabei sind es keineswegs die Einkommensschwächsten, die Parteien wie der AfD ihre Stimme geben und er vertritt im Folgenden die These, dass ökonomistische Werthaltungen gerade bei denen am stärksten verbreitet sind, die sich selbst den unteren Schichten zurechnen. Die Abkehr der etablierten Parteien vom sozialpolitischen Solidaritätsmodell erzeugt Wirkungen in der Bevölkerung, die es geraten erscheinen lassen, „soziale Unverwundbarkeit als politisches Ziel in den Blick zu nehmen und Wege zu beschreiten, diese zu erreichen“ (S. 187).

Kapitel 16 liefert „Soziale Antworten auf soziale Fragen“ und zeigt an verschiedenen Beispielen (Fort- und Weiterbildung; Stärkung der Rentenversicherung; Konzipierung der Sozialpolitik als Infrastrukturpolitik) welche Wege eine Sozialpolitik im Sinne der Stärkung von Solidaritätspotenzialen beschreiten müsste.

Diskussion und Fazit

Joachim Rock hat ein informiertes, gut lesbares und zur Diskussion herausforderndes Buch über Armut vorgelegt, dem eine weite Verbreitung zu wünschen ist. Es räumt mit Mythen über gängige Armutsverständnisse ebenso auf, wie es begründete Urteile zum sozialpolitischen Umgang mit Armut und deren Konsequenzen liefert. Womit sich das Buch nicht befasst – und dies ist vermutlich eine bewusste Entscheidung des Autors – sind die ökonomischen Grundlagen der Produktion von Armut, die ja erst zu den (kritisierten) sozialpolitischen Reaktionen und Kompensationen heraus fordern. Der Autor glaubt offenbar fest darin, dass Sozialpolitik in der Lage ist, die Folgen der unterschiedlichen Verwertungstechniken der Ware Arbeitskraft nachhaltig zu korrigieren und die gesellschaftlichen Verhältnisse armutsfest zu gestalten.

Hierüber ist zu diskutieren und das Buch von Joachim Rock bietet für diese Auseinandersetzung eine – mit Blick auf Sozialpolitik – argumentativ schlüssige Gesamtschau, die es für Wissenschaftler und Praktiker gleichermaßen empfehlenswert macht.

Nachdrücklich zu empfehlen ist die Lektüre auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in sozialen Diensten, die täglich mit dem „Störfaktor“ Armut konfrontiert sind und nach dem Studium des Buches wohl besser verstehen werden, welche sozialpolitischen Gründe dies hat.

Rezension von
Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt
Professor i.R. für Sozialmanagement, Verwaltung und Organisation am Fachbereich Sozialarbeit der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe Bochum
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Es gibt 42 Rezensionen von Norbert Wohlfahrt.

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Zitiervorschlag
Norbert Wohlfahrt. Rezension vom 26.07.2017 zu: Joachim Rock: Störfaktor Armut. Ausgrenzung und Ungleichheit im neuen Sozialstaat. VSA-Verlag (Hamburg) 2017. ISBN 978-3-89965-719-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22133.php, Datum des Zugriffs 26.03.2023.


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