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Sara-Friederike Blumenthal: Scham in der schulischen Sexualaufklärung

Rezensiert von Prof. Dr. Torsten Linke, 07.03.2017

Cover Sara-Friederike Blumenthal: Scham in der schulischen Sexualaufklärung ISBN 978-3-658-06879-0

Sara-Friederike Blumenthal: Scham in der schulischen Sexualaufklärung. Eine pädagogische Ethnographie des Gymnasialunterrichts. Springer VS (Wiesbaden) 2014. 172 Seiten. ISBN 978-3-658-06879-0. D: 34,99 EUR, A: 35,97 EUR, CH: 44,00 sFr.

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Thema

In ihrer ethnografischen Studie beschäftigt sich die Autorin mit der schulischen Sexualaufklärung. Sie untersucht und reflektiert die Funktion und Wirkung von Scham in der Erziehung. Obwohl die Arbeit mit Lob für Erziehende in westlichen Gesellschaften meist das bewusst genutzte Erziehungsmittel sei, würden Scham und die Beschämung von Menschen eine wichtige Rolle im Erziehungsprozess einnehmen. Die Autorin vertritt die These, „dass Beschämung auch ein wiederkehrendes Erziehungsmittel Lehrender in Deutschland ist.“ (S. 14) Dies würde jedoch in der Regel nicht intentional genutzt und wenig reflektiert. Gerade für die Vermittlung sexueller Themen sieht die Autorin hier einen Grund, dass die Kommunikation über Sexualität oft nicht gelingt und Lernziele in der schulischen Sexualaufklärung verfehlt werden.

Autorin und Entstehungshintergrund

Das Werk ist die Dissertation der Autorin an der Freien Universität Berlin. Sara-Friederike Blumenthal hat zu Emotionen in der schulischen Sexualaufklärung im Cluster Languages of Emotion der Freien Universität Berlin und an der University of Hawai´i (USA) promoviert.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in sieben Kapitel aufgeteilt. Der Einleitung folgen vier Hauptgliederungspunkte. Ausblick und Zusammenfassung schließen das Werk ab.

In der Einleitung (S. 11-12) führt Sara-Friederike Blumenthal knapp in das Werk ein. Sie verweist darauf, dass Scham in westlichen Gesellschaften eine sozialregulative Funktion zu komme, dies jedoch eher subtil geschieht und nicht offen thematisiert wird. Darin liege auch ein Grund für die unzureichende pädagogische Reflexion der Wirkung von Scham in der Erziehung. Bezüglich der Aussagekraft der Studie grenzt die Autorin ein, dass die Studie sich auf die Interaktion zwischen Lehrenden und Schüler_innen innerhalb der Unterrichtssituation in der gymnasialen Ausbildung bezieht.

In Kapitel 1. Schamtheorie (S. 13-36) beschäftigt sich Blumenthal mit den theoretischen Ansätzen. Sie nimmt eine Begriffsklärung und Abgrenzung des Schambegriffs vor. Dies sei nötig, da umgangssprachlich nicht klar zwischen Begriffen wie Scham, Beschämung oder Peinlichkeit unterschieden werde. Auch würde Scham selten als solche benannt, sondern von Peinlichkeit oder Verlegenheit gesprochen und zeige sich eher als körperliche Reaktion. Diesen Ansatz verbindet die Autorin mit Theorien aus der Emotionsforschung und setzt diese Überlegungen in Bezug mit Pierre Bourdieus Habitustheorie. Emotionen würden Körperreaktionen hervorrufen, die teils beeinflussbar seien (z.B. Gesichtsausdruck) und zum Teil nicht beeinflussbar (z.B. Gänsehaut). Die Entstehung und die Wirkung von Emotionen unterliegen der subjektiven Beurteilung und seien von der kulturellen Rahmung abhängig. Dies führe zu bewusst und zu, bisher noch unzureichend in der Wissenschaft betrachteten, unbewussten Bewertungen von Ereignissen. Die Verinnerlichung und Gewohnheitsbildung dieser Ereignisse und damit zusammenhängender Emotionen könne zu einer Naturalisierung sozialer Ordnungen führen. Die Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata die im Sozialisationsprozess erworben werden, würden verinnerlicht und in den Körper eingeschrieben. Auf Scham bezogen hieße dies, Körperscham wird als natürlich empfunden, ist aber kulturell geprägt. Das Kapitel schließt mit einem Überblick zu Schamindikatoren.

Im Kapitel 2. Methodologie (S. 37-62) wird das Forschungsdesign dargelegt. Blumenthal konkretisiert ihr Forschungsinteresse und ihre -perspektive in Bezug auf das ethnografische Vorgehen. Die angewendeten Erhebungsmethoden werden vorgestellt und reflektiert. Die Autorin arbeitete mit der teilnehmenden Beobachtung, Gruppendiskussionen mit Jugendlichen und Expertinneninterviews mit Lehrkräften. Dies wird ethisch reflektiert. Die ethischen Überlegungen in Bezug auf das Forschungsfeld mit den Themen Scham und Sexualität veranlassten Blumenthal zu der Entscheidung, die Gruppendiskussion nicht auszuwerten sondern nur als Hintergrundinformation für die Interpretation einzubeziehen. Die Daten der teilnehmenden Beobachtung wurden mit der Grounded Theory ausgewertet und diesbezüglich wird das Vorgehen nach der Grounded Theory gestrafft vorgestellt.

Das Kapitel 3. Scham und Beschämung in der schulischen Sexualaufklärung (S. 63-150) ist das umfangreichste Kapitel. Blumenthal nimmt eine Auswertung an den von ihr vorgestellten vier teilnehmenden Beobachtungen aus der schulischen Sexualaufklärung vor. Einer Beschreibung des Feldes folgen jeweils verschiedene Sequenzen zu Schlüsselbegriffen aus der Datenerhebung der teilnehmenden Beobachtung. In die Auswertung werden die Interviews mit den Lehrkräften und die Gruppendiskussionen einbezogen und diese interpretiert. Die Thesen und die herausgearbeitete Theorie werden überprüft und in Bezug auf die Hauptthese, dass Lehrende Beschämung als Erziehungsmittel in der Sexualaufklärung nutzen (siehe oben) verdichtet und gesättigt. Die Autorin arbeitet weitere Theorien heraus, zum einen, dass Beschämung die Unterrichtsbeteiligung von Schüler_innen schmälert, zum anderen, dass Scham und Beschämung die Unterrichtsdynamik bestimmen. Blumenthal beschreibt die Dynamik in der Interaktion zwischen Lehrkräften und Schüler_innen bei der Kommunikation über Sexualität. Anhand von Beispielen und Zitaten unterstreicht sie ihre Thesen. Dabei wird deutlich, dass Lehrkräfte mit Beschämung arbeiten und Schüler_innen Scham auf Seiten der Lehrkräfte als Möglichkeit für Angriffe nutzen, um deren Autorität in Frage zu stellen, worauf die Lehrkräfte u.a. wiederum mit Sanktionen oder Beschämung reagieren. In der Studie wird die Thematisierung geschlechtlicher Vielfalt aufgegriffen (S. 49) und anhand eines Beispiels aus der teilnehmenden Beobachtung der Umgang mit Vielfalt, geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung im Sexualkundeunterricht in Bezug auf Beschämung als Erziehungsmittel dargelegt und ausgewertet (S. 84-86).

In Kapitel 4. Feldspezifische Regeln des Ausdrucks von Scham und der Ausübung von Beschämung in der schulischen Sexualaufklärung (S. 151-156) formuliert die Autorin zwei feldspezifische Regeln. Zum einen, „dass Lehrende, wenn sie Beschämung als Erziehungsmittel nutzen, dies pädagogisch nicht reflektieren“ (S. 165). Dies führt sie auf die Theorie von Scham zurück, die begründe, warum Scham und Beschämung weder von Lehrenden noch von Schüler_innen als solche erkannt und benannt wird. Als weitere Regel sieht Blumenthal, dass Lehrkräfte ihre eigene Sexualität nicht in der pädagogischen Arbeit thematisieren, sondern versuchen dies zu vermeiden und sich mit ihrer Sexualität zurücknehmen. Dies eröffne einen Raum für „Gegenangriffe“ von Schüler_innen.

In einem sehr knappen Ausblick (S. 157) verweist die Autorin auf die Publikation „Vorschläge für eine schambewusste Sexualaufklärung in der Sekundarstufe I“ in der von ihr gemeinsam mit Miriam Damrow pädagogische Konsequenzen abgeleitet und untersetzt werden.

In der Zusammenfassung (S. 159-166) geht die Autorin auf die Ergebnisse ihrer Arbeit ein und setzt diese in Bezug. Abschließend verweist sie noch einmal auf die Wirkung von Scham innerhalb einer sozialen Ordnung und die bestehenden Geschlechterverhältnisse. Auch in der Schule zeige sich, dass männliche Sexualität weiblicher Sexualität übergeordnet ist, welches u.a. in der Strategie von Schülern in der Studie deutlich wird, die weibliche Sexualität durch die Verwendung von Begriffen abzuwerten. Auch bei Lehrkräften zeigt sich nicht nur eine heteronormative Sicht, sondern ebenfalls die Abwertung weiblicher Sexualität, wie in einem Abschnitt des Bandes im dritten Kapitel sehr deutlich wird (S.64-88, 162).

Diskussion

Sara-Friederike Blumenthal widmet sich einem sehr wichtigen und bisher noch unzureichend erforschten und reflektierten Thema. Sie leistet mit ihrer Studie und den formulierten Thesen und feldspezifischen Regeln einen wichtigen Theoriebeitrag. In einigen quantitativen Studien zu Jugendsexualität (z.B. BZgA, PARTNER 4) wurden Daten zur schulischen Sexualaufklärung erhoben und es finden sich Hinweise darauf, dass diese Angebote nicht bei allen Schüler_innen „ankommen“. Blumenthal entscheidet sich für einen qualitativen Zugang und kann Antworten auf die Frage, warum Sexualkundeunterricht Schüler_innen nicht erreicht liefern.

Die Autorin fokussiert in ihrer Arbeit nicht auf verwendete Materialien, sondern betrachtet die pädagogische Interaktion. Sie arbeitet heraus, welche Bedeutung die individuelle Haltung und die Einstellungen, die in Handlungen münden, haben und wie wichtig das situative Reagieren ist. Dies vor allem bei einem Thema, welches, wie bei Sexualität, in der Gesellschaft allgemein schambesetzt ist. Dies unterstreicht sie mit Theorien zur Entstehung und Verinnerlichung von Scham und damit zusammenhängendem Handeln. Dies führt nach Blumentahl bei der Sexualaufklärung im Unterricht zum Einsatz von Beschämung als Erziehungsmittel gegenüber Schüler_innen, aber auch zum Mittel des Angriffs auf die Autorität der Lehrperson durch Schüler_innen, welches mit der Unsicherheit, wie diese mit der eigenen Sexualität in ihrer professionellen Rolle umgehen sollen verstärkt wird.

Durch die Studie wird auch auf ein Dauerthema in pädagogischen Beziehungen verwiesen, der Herstellung eines ausgewogenen Nähe-Distanz-Verhältnisses, was z.B. die Wahrung von Grenzen und die Sensibilität bzgl. von Übergriffen ebenso wie ein vertrautes Arbeitsverhältnis und ein authentisches Agieren beinhaltet. Die Autorin benennt, zu Recht, die fehlende Reflexion, vor allem über die Wirkung von Beschämung. Reflexion müsste sich auf die pädagogischen Handlungen, aber auch die eigene Persönlichkeit, also auch die eigene Sexualität beziehen, um sich Scham in Bezug auf das Sexuelle bewusst zu machen. Dies ist bereits als eine Leerstelle oder zumindest als unzureichend berücksichtigte Verortung von Selbsterfahrung und der Vermittlung von Reflexionskompetenz innerhalb der Studiengänge gegeben. Ebenso besteht in einigen pädagogischen Arbeitsfeldern eine unzureichende Möglichkeit für Fachkräfte, professionelle Settings wie Supervision, die Reflexionsprozesse anregen können, zu nutzen.

Fazit

In ihrer ethnografischen Studie untersucht die Autorin Sara-Friederike Blumenthal die schulische Sexualaufklärung und kann anhand ihrer Ergebnisse herausarbeiten, wie Scham und Beschämung als Erziehungsmittel (bewusst und unbewusst) den Unterricht beeinflussen und dazu führen können, dass Lernziele nicht erreicht werden. Dabei wird deutlich, dass sowohl Lehrkräfte wie auch Schüler_innen dies in der Regel nicht als solches benennen und reflektieren. Konkrete Ableitungen für die Praxis liefert die Autorin nicht. Sie verweist jedoch hier auf einen gemeinsamen Band mit Miriam Damrow „Vorschläge für eine schambewusste Sexualaufklärung in der Sekundarstufe I“. Das hier besprochene Werk kann für die Arbeit im Studium z.B. innerhalb der Sozialen Arbeit und der Erziehungswissenschaft genutzt werden. Es verweist einerseits auf die Wirkung der pädagogischen Haltung und Handlung sowie auf den Stellenwert der Reflexion des pädagogischen Handelns. Die Studie kann andererseits in Seminaren zu qualitativer Forschungsmethodik als Praxisbeispiel eingesetzt werden. Von Bedeutung kann sie ebenfalls für Forschende sein, die sich mit Sexualaufklärung und -pädagogik in professionellen Kontexten, auch über die Schule hinaus, beschäftigen. Ebenso liefert sie eine Basis und Ergebnisse aus denen Ableitungen für die Praxis erarbeitet werden können.

Rezension von
Prof. Dr. Torsten Linke
Hochschule Zittau/Görlitz - Fakultät Sozialwissenschaften
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Es gibt 5 Rezensionen von Torsten Linke.

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Zitiervorschlag
Torsten Linke. Rezension vom 07.03.2017 zu: Sara-Friederike Blumenthal: Scham in der schulischen Sexualaufklärung. Eine pädagogische Ethnographie des Gymnasialunterrichts. Springer VS (Wiesbaden) 2014. ISBN 978-3-658-06879-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22140.php, Datum des Zugriffs 11.06.2023.


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