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Jutta Goltz: Die Frage der Augenhöhe (Migranten­organisationen)

Rezensiert von Prof. Dr. Birgit Jagusch, 18.01.2017

Cover Jutta Goltz: Die Frage der Augenhöhe (Migranten­organisationen) ISBN 978-3-923970-44-5

Jutta Goltz: Die Frage der Augenhöhe. Eine Arbeitshilfe zur Kooperation mit Migrantenorganisationen und Schlüsselpersonen im Feld der Sozialen Arbeit. Aktion Jugendschutz Landesarbeitsstelle Baden-Württemberg (Stuttgart) 2015. 214 Seiten. ISBN 978-3-923970-44-5. D: 15,00 EUR, A: 15,00 EUR.

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Thema

Das Handbuch beschäftigt sich mit der Frage, wie gelingende Kooperation zwischen Migrant_innenorganisationen (MSO) und etablierten Akteur_innen der Sozialen Arbeit egalitär gestaltet werden können. Grundlage bilden zwei insgesamt sechsjährige Projekte in Reutlingen (ELAN I und ELAN II), welche sich dem Aufbau und der Entwicklung von verbesserten Bildung- und Teilhabechancen im Kontext Zusammenarbeit Schule und Eltern widmeten. Hierbei wurde die Zusammenarbeit mit Migrant_innenorganisationen (MSO) in den Mittelpunkt gerückt und bildet einen Kern der Projekte und damit auch der Publikation. Ergänzt und reflektiert wurden diese Erfahrungen durch Werkstattgespräche mit bundesweiten Akteur_innen.

Autorin

Jutta Goltz ist Sozialpädagogin und arbeitet auch als Mediatorin, Interkulturelle Trainerin und Beraterin. Über ihre verschiedenen Tätigkeiten als Sozialwissenschaftlerin in unterschiedlichen Kontexten konnte sie Erfahrungen in verschiedenen Bereichen der Sozialen Arbeit gewinnen und arbeitete in dem mehrjährigen Projekt, das Ausgangspunkt der vorliegenden Publikation war mit.

Neben Jutta Goltz haben auch Andreas Foitzik, Galina Lerner, Benjamin Haar, Irina Lutz und Julia Sandmann zentral an der Publikation mitgewirkt und zeichnen für einzelne Kapitel verantwortlich.

Aufbau und Inhalt

Die Handreichung gliedert sich in insgesamt sechs Teile.

Vorangestellt befindet sich der Artikel „Die Frage der Augenhöhe“ von Andreas Foitzik, in dem einige zentrale Termini der Diskussion kritisch beleuchtet und auf deren inhärente Fallstricke hin untersucht werden. Dabei geht es auch darum, die Fragen der Macht in Kooperationsbeziehungen und die Differenzierung zwischen „uns“ und „den Anderen“ zu beleuchten und zu dekonstruieren. Anschließend werden zentrale Begrifflichkeiten und Rahmenbedingungen, die zur Entstehung der Publikation, aber auch zu deren theoretischen Verständnis hilfreich sind, beleuchtet und eingeführt.

Kapitel 1 widmet sich darauf aufbauend den „Einführenden Grundlagen“, und stellt eine Geschichte und Entwicklungslinien für Migrant_innenorganisationen in Deutschland vor. Ein zentrales Augenmerk hierbei hat der Aspekt – der für die ganze Publikation handlungsleitend ist – der Kooperation zwischen Migrant_innenorganisationen und anderen Akteuren der Sozialen Arbeit Das Kapitel ist auch hilfreich dafür, um einen Einblick in die Genese und Entwicklungslinien von MSO zu bekommen und dadurch die aktuellen Ausgangsbedingungen für Kooperationen besser verstehen zu können.

Kapitel 2 baut auf den einführenden Grundlagen auf und gibt „Hinweise für die Planung und Durchführung von Kooperationen“. Dabei wird auf die Aspekte der Zugänge zu MSO und deren Ausgangsbedingungen, der Erarbeitung von Gelingensfaktoren, den institutionellen Rahmenbedingungen und Förderrichtlinien eingegangen. Weiterhin gehört die Auseinandersetzung mit der Frage, warum manche MSO keine Kooperationen eingehen wollen und welche eventuellen Konfliktlinien zwischen MSO entstehen können, fokussiert.

Das folgende Kapitel 3 steht unter dem Titel „Hinweise für die Planung und Durchführung von Qualifizierungen für Migrantenorganisationen und Schlüsselpersonen“ und geht auf die Punkte der Professionalisierung und Qualifizierung, der Entwicklung von Qualitätsstandards und der Qualifizierung von Institutionen ein.

An diese beiden Kapitel, die sich der Praxisentwicklung widmen und methodisch-theoretisches Handwerkszeug vermitteln, schließt sich das folgende Kapitel 4 als Exkurs an, der als „Hintergrundtext: Grenzen der Kooperation?“ überschrieben ist und sich der Frage widmet, wie muslimische MSO in Kooperationen eingebunden werden können und wo Grenzen der Zusammenarbeit entstehen können.

Das abschließende Kapitel 5 widmet sich „Praxisberichten“ und schildert aus der Perspektive von Projektmitarbeitenden unterschiedliche Ansatzpunkte in der Kooperation: So geht ein Beitrag auf die Entwicklung einer Elterninitiative zu einem Bildungszentrum ein; ein weiterer Beitrag beschreibt die Kooperation zwischen einer MSO und einem Sportverein und ein abschließender Projekteinblick thematisiert einen mehrgenerationellen Verband. Damit werden unterschiedliche Vereinsformen und Engagementbereiche beleuchtet und differente Arbeitsstrategien beschrieben. Das Buch besitzt damit eine stringente interne Systematik, die sich von den eher theoretischen Grundlagen, über sehr konkrete Praxisideen und Anforderungen für Qualifizierungen und institutionelle Öffnungsprozesse bis hin zu Berichten aus der Praxis, in denen diese Maximen entwickelt und umgesetzt wurden, entfaltet.

Diskussion

MSO stehen seit einigen Jahren zunehmend im Fokus von Projekten und damit auch Publikationen im Kontext von Migration – Teilhabe – Engagement. Während die Debatten noch vor einigen Jahren um die Frage kreisten, wie MSO grundsätzlich zu bewerten seien und ob diese Form des Engagements tatsächlich zu mehr Teilhabe und Inklusion beitragen könne, steht heute der positive Mehrwert, den MSO in die Arenen der Zivilgesellschaft einbringen, nicht mehr zur Debatte. Entsprechend steigt auch die Zahl der Projekte, die in Form von Kooperationen zwischen anerkannten Trägern und MSO angesiedelt sind und in ganz verschiedenen Segmenten der Zivilgesellschaft arbeiten. Das Besondere an der vorliegenden Arbeitshilfe ist entsprechend weniger ihr Thema, denn die Art und Weise des Zustandekommens und der inhaltlichen Gestaltung: ganz explizit und zentral werden die Perspektiven der MSO in den Band eingebunden und stellen das Bindeglied und den roten Faden dar. Damit stellt die Arbeitshilfe die MSO selber in den Fokus. Durch die kritische Bezugnahme auf den zum fast Allgemeinplatz gewordenen Spruch der „Augenhöhe“ und der Ausdifferenzierung, welche Implikationen eine konsequente Umsetzung dieser Forderung hat, stellt die Publikation eine wichtige Ergänzung zu vorhandener Literatur über Kooperationen dar und ist gleichzeitig durch ihren sehr praxisorientierten Charakter auch sehr gut für Aktive in der Sozialen Arbeit als konkrete Arbeitshilfe geeignet.

Die Ergebnisse des Buches speisen sich insbesondere aus Interviews und Auswertungsgesprächen mit Projektpartnern aus den Kooperationsprojekten in Reutlingen und zusätzlich Werkstattgesprächen mit bundesweiten Akteuren. Damit ist die Perspektive ganz deutlich in Richtung auf die Adressat_innen gelenkt und stellt deren Erfahrungen und Perspektiven in den Mittelpunkt. Gleichzeitig handelt es sich um deutlich mehr als eine reine Projektdokumentation mit O-Tönen der Beteiligten, da alle Ergebnisse und Empfehlungen deutlich theoretisch fundiert und begründet sind. So ist auch der Titel der Arbeitshilfe „Die Frage der Augenhöhe“ handlungsleitend für die gesamte Publikation, indem in den einzelnen Kapiteln jeweils kritisch bestimmte Handlungs- und Projektpraxen unter die Lupe genommen und hinsichtlich etwa paternalistischer, exkludierender oder nicht egalitärer Praxen hinterfragt werden.

Wesentlich an der Publikation ist ferner der Fokus, der auf Erfahrungen von Rassismus und Diskriminierungen gerichtet wird. Hier macht das Buch deutlich, unter welch teilweise exkludierenden Bedingungen die MSO arbeiten und Erfahrungen des Rassismus zum Alltag auch der Vereins- und Kooperationsarbeit gehören. Dabei werden Aspekte von Hierarchie und Macht ebenso beleuchtet wie diskriminierende Sprach- und Handlungspraxen.

Die beiden sehr praktisch orientierten Kapitel mit Anregungen zur Planung und Durchführung von Kooperationen und von Qualifizierungen bauen auf den zuvor geschilderten theoretischen Überlegungen auf und münzen diese in die konkrete Projektpraxis um. Neben den wichtigen und für die Projektplanung hilfreichen Anregungen zur Anbahnung von Kooperationen, Kontaktaufnahme, Gestaltung von Zugängen und Erarbeitung von Gelingensbedingungen, ist besonders das Unterkapitel, das sich der Frage widmet, warum manche MSO keine Kooperationen eingehen wollen, interessant. So zeigt sich hier, dass Kooperationen auch für MSO nicht unter allen Umständen interessant sind und auch MSO sehr genau überlegen, welcher Nutzen mit Kooperationen verbunden ist und unter welchen Umständen diese (nicht) eingegangen werden. Hier spiegelt sich wieder der Titel der „Augenhöhe“ wider, da dieses Kapitel einmal mehr verdeutlicht, wie wichtig ein egalitärer Zugang zu den MSO ist. Auch das folgende Kapitel, das sich möglichen Konflikten unter MSO widmet, ist für die konkrete Praxis von Relevanz, da es aufzeigt, dass MSO keine homogene Einheit sind, und es auch unter MSO Konflikte und Schwierigkeiten gibt. Auch wenn diese Tatsache eigentlich selbstverständlich sein müsste, wird in manchen Publikationen zu MSO eine Dichotomie zwischen den anerkannten Trägern und den MSO eröffnet, die MSO als homogen erscheinen lässt und Binnendifferenzen ausblendet. Insofern ist dieses Kapitel ein zentrales in der Arbeitshilfe.

Einzig das Kapitel zum Umgang mit muslimischen Verbänden fällt etwas aus der inhärenten Logik der Publikation heraus. Begründet wird das Kapitel damit, dass in den Gesprächen mit Akteur_innen, die nicht aus MSO kommen, häufig eine Unsicherheit geäußert wird, wie muslimische MSO eingeordnet werden können. Darauf reagiert die Arbeitshilfe und gibt Informationen zu einigen muslimisch geprägten MSO und entwickelt Strategien zum Umgang. Da Unsicherheiten in der Beurteilung von MSO nicht nur von deren religiösen Prägung abhängig sind, wäre es aus Sicht der Rezensentin wünschenswert gewesen, dieses Kapitel allgemeiner zu halten und den Fokus – gerade vor dem Hintergrund der in einigen Bereichen sichtbaren antimuslimisch geprägten Stereotype – auf den Umgang mit unbekannten MSO insgesamt zu lenken. Dies umso mehr, als die entwickelten Strategien und deren jeweilige kritische Diskussion im Band auch genauso für anderen MSO, die nicht aus dem muslimischen Spektrum kommen, Gültigkeit besitzen.

Die drei abschließenden Kapitel mit konkreten Einblicken in die Projektarbeit gewähren plastische Einsichten und schildern exemplarisch die Gestaltung von Bildungsprojekten in Kooperation mit MSO. Durch die sehr unterschiedlichen Beispiele – aus den Bereichen Bildungszentrum, Sport und Intergenerativer MSO – wird die Bandbreite der möglichen Projekte und Ansätze verdeutlicht.

Besonders hilfreich für die Praxis und die Arbeit mit der Publikation sind die Reflexionsfragen, die in die einzelnen Kapitel eingebaut sind und dazu anregen, im Team oder eigenen Projektzusammenhang über die einzelnen Aspekte zu diskutieren und die eigene Praxis selbstreflexiv unter die Lupe zu nehmen. Dadurch erhält das Buch den Charakter einer Arbeitshilfe, die sich sehr gut in den Alltag der eigenen Arbeit integrieren lässt, da sie sowohl Hintergrundinformationen als auch Diskussionsanregende Fragen sowie Praxisbeispiele enthält. Auch die im Kapitel zur Qualifizierung für MSO und Schlüsselpersonen erarbeiteten Qualitätsstandards eigenen sich gut, um im eigenen Team über die Ausgestaltung der eigenen Praxis in den Dialog zu kommen. Sie sind nicht als abschließende Aufzählung zu verstehen, sondern vielmehr als Diskussionen eröffnende Standards und Indikatoren.

Fazit

Insgesamt stellt die Publikation „Eine Frage der Augenhöhe“ ein sehr gelungenes Beispiel einer theoriefundierten Arbeitshilfe dar, die es sowohl ermöglicht, theoretische Reflexionen und Hintergründe über Kooperationen von MSO und anderen Trägern in Bildungsbereich anzustellen als auch Anregungen und Überlegungen für die eigene praktische Arbeit zu erhalten. Gerade durch den rassismuskritischen Blickwinkel, der der Arbeitshilfe immanent ist, wird es möglich, den Tenor der diversitätssensiblen Sprache und Haltung zu manifestieren und tatsächlich eine Augenhöhe entstehen zu lassen. Dies gelingt auch durch die zentrale Einbeziehung der Aussagen der MSO selber.

Die Publikation eignet sich für alle diejenigen, die in unterschiedlichen Engagement Bereichen – nicht nur im Bildungsbereich – tätig sind und auf der Suche nach handlungspraktischen Anregungen für die Kooperation mit MSO sind.

Rezension von
Prof. Dr. Birgit Jagusch
Technische Hochschule Köln, Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften, Institut für Interkulturelle Bildung und Entwicklung
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Es gibt 2 Rezensionen von Birgit Jagusch.

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ISSN 2190-9245