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Marion Reinhardt: Gründungsgeschichte des Internationalen Bundes

Rezensiert von Prof. Dr. Christiane Vetter, 04.05.2017

Cover Marion Reinhardt: Gründungsgeschichte des Internationalen Bundes ISBN 978-3-7344-0415-3

Marion Reinhardt: Gründungsgeschichte des Internationalen Bundes. Themen, Akteure, Strukturen. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2017. 360 Seiten. ISBN 978-3-7344-0415-3. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.

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Autorin

Marion Reinhardt war Sozialarbeiterin, bevor sie ein Jugendgemeinschaftswerk des „Internationalen Bundes für Kultur- und Sozialarbeit e.V.“ leitete und anschließend zur Zentrale des „Internationalen Bundes“ (IB) wechselte. Der IB ist bis heute in Teilen als Verein organisiert. Mit seinen Gesellschaften zählt er zu den großen Anbietern der Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit in Deutschland. Neben dem Präsidium nehmen Vertreter/-innen des öffentlichen Lebens, der Sozialpartner, Parteien sowie Personen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung Einfluss auf die Geschäftsführung und Angebote des IB. Der aktuelle Hauptsitz der Unternehmensgruppe ist Frankfurt a.M.

An der vorliegenden Publikation zur Gründungsgeschichte des IB sind weitere Personen beteiligt.

  • Der emeritierte Prof. Dr. Benno Hafeneger (Institut für Erziehungswissenschaft an der Philipps-Universität Marburg),
  • Dr. Jacqueline Plum, stellvertretende Geschäftsführerin der Regio Basiliensis in Basel,
  • Dr. Kerstin von Lingen, Historikerin am Exzellenzcluster „Asia and Europe in a Global Context“ an der Universität Heidelberg und
  • Dr. Reiner Becker, Leiter des Demokratiezentrums an der Universität Marburg.

Entstehungshintergrund und Zielsetzung

2014 hatte das Präsidium den Auftrag erteilt, die Geschichte des IB zu dokumentieren. Der IB wurde vor siebzig Jahren, am 11. Januar 1949 in Tübingen als „Internationaler Bund für Kultur- und Sozialarbeit“ e.V. gegründet. Neben der wissenschaftlichen Expertise sollten auch Zeitzeugen befragt und Dokumente aus der Gründungszeit ausgewertet werden. Die vorliegende Gründungsgeschichte befasst sich mit den ersten 20 Jahren des Bestehens des IB und hat, so die Autorin, „Bekanntes, aber auch bisher Unbekanntes und durchaus Überraschendes zutage gefördert“ (S. 197).

Petra Merkel, aktuelle Präsidentin des IB und Thiemo Fojkar, der Vorstandsvorsitzende des IB berichten im Buch, dass die Gründungsgeschichte kaum noch bekannt sei, und auch einem breiteren Publikum vorgestellt werden sollte. Die Initiatoren des IB waren der damalige Staatsrat von Württemberg-Hohenzollern, Carlo Schmid, der Jugendoffizier der französischen Besatzungsmacht Henri Humblot und Heinrich Hartmann, der bis zum Ende des Krieges ein hoher Funktionär in der Reichsjugendführung der Hitlerjugend (HJ) war. Viele Jahre wurde über die Motive dieser unterschiedlichen Männer, den IB zu gründen, spekuliert. Marion Reinhardt recherchiert die Zusammenhänge und ermöglicht, diese auch im Kontext der gesellschaftlichen und sozialpolitischen Geschichte der Bundesrepublik zu begreifen (vgl. S. 208).

Aufbau

Das Buch hat acht Kapitel. Nach der kurzen Einleitung folgt Kapitel 1 „Die Vorgeschichte in der Besatzungszeit“. Hier werden die drei Initiatoren, Carlo Schmid, Henri Humblot und Heinrich Hartmann vorgestellt. Sie wollten die Not der Jugend nach dem Krieg lindern. Darüber hinaus musste die Gesellschaft entnazifiziert werden. Internationale Jugendbegegnungen sollten helfen, eine demokratische neue Gesellschaft aufzubauen.

Kapitel 2 „Die Gründung des ‚Internationalen Bundes für Kultur- und Sozialarbeit‘“ e.V. zeichnet die Gründung des IB anhand der Satzung und der Themen der Gründungsversammlungen nach.

Kapitel 3 „Die Anfänge in Württemberg-Hohenzollern“ dokumentiert die Entwicklung der fachlichen und personellen Umsetzung der Arbeit. Die Merkmale der Jugendsozialarbeit kristallisierten sich heraus. Der Selbsthilfecharakter kennzeichnete die Angebote des IB.

Kapitel 4 „Der Weg zum bundesweiten Träger“ beschreibt die Schwierigkeiten, ein bundesweit anerkannter Träger für Soziale Arbeit zu werden. Anfangs prägte die „Jugendnot“ der Nachkriegszeit die Praxis des IB. 1952 fand bereits eine erste Neuausrichtung statt. Durch die Jungendflucht aus der DDR kamen andere Herausforderungen auf die Mitarbeiter/-innen zu. In den 1960er Jahren markierte die Arbeitsmigrationspolitik der Bundesregierung und der Zuzug der Familien die neue Zielsetzung und Zielgruppe.

Kapitel 5 „Fazit und Ausblick“ fasst die Entwicklungen nochmals zusammen und wird von Kapitel 6 „Wir stellen uns unserer Geschichte und haben aus der Vergangenheit gelernt“ mit der heutigen Zeit verbunden.

Kapitel 7 „Expertisen“ verknüpft die Strategien des IB mit zeitgeschichtlich relevanten Themen aus der Gründerzeit der BRD:

  • Benno Hafeneger stellt die Hitlerjugend und die Ausbildung zum Jugendführer vor, die die junge Generation sozialisiert hatte. Darüber hinaus beschreibt er die „Jugendnot“ der Nachkriegszeit und benennt die politischen Instrumente, den Bundesjugendplan und das Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG), das die Jugendarbeit /Jugendpflege gesetzlich regelte.
  • Jaqueline Plum reflektiert die französische Kulturpolitik der Besatzungszeit. Kerstin von Lingen beschreibt die Ziele der Jugendbildung.Umerziehungsversuche der Besatzungsmächte.
  • Reiner Becker ordnet die Aufarbeitung der Geschichte des IB als notwendige Erinnerungsarbeit ein.

Kapitel 8 „Anhang“ nennt die Gremien des IB während der ersten 20 Jahre und stellt die Namen der Mandatsträger/-innen vor. Des Weiteren finden sich dort Kurzbiografien über Gründungsmitglieder. Den Abschluss des Buches bildet das Autoren/-innen Verzeichnis.

Inhalt

Die Geschichte des IB ist eng mit der der Besatzungszeit und der Gründung der BRD und der DDR nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden.

Der „Tag der Befreiung“ bzw. der „bedingungslosen Kapitulation“ durch die Alliierten am 8. Mai 1945 führte auf der Potsdamer Konferenz von Juli bis August 1945 zur Aufteilung Deutschlands an die Siegermächte. „Die Geschichte des IB beginnt in der Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg. […] die Gründungsgeschichte des IB führt uns in die französische Besatzungszone“ (S. 15).

Die Vorgeschichte

Nach der Kapitulation waren 10 Millionen Menschen auf den Landstraßen in Deutschland unterwegs. Jugendliche Waisen, Soldaten, KZ-Überlebende, ausgebombte Stadtbewohner/-innen, Zwangsarbeiter/-innen, Häftlinge und Heimkehrer aus dem Osten - aber auch Funktionäre des nationalsozialistischen Machtapparates (vgl. S. 17). Sie suchten ihre Familien, eine neue Bleibe und Möglichkeiten, einer Verhaftung zu entkommen.

Tübingen war zu der Zeit die Hauptstadt von Württemberg-Hohenzollern und wurde von Henri Humblot, der der französischen Militärregierung angehörte, mitregiert. Carlo Schmid leitete die Landesverwaltung der französischen Besatzungsmacht und war für die Ressorts Justiz, Kultus, Erziehung und Kunst zuständig. Im März 1946 wandte sich der ehemalige HJ-Führer Heinrich Hartmann an Carlo Schmid, mit der Bitte, ihn persönlich zu sprechen. Nach diesem Gespräch sprachen beide mit Henri Humblot. Marion Reinhardt lässt die Leser/-innen wissen, wie Humblot, Schmid und Hartmann in Bezug auf die NS-Zeit dachten und fühlten.

Henri Humblot, 1916 in Frankreich geboren, war überzeugt, dass nur eine demokratische Lebens- und Umgangsweise und die Ermutigung zum weiteren Engagement der deutschen Gesellschaft helfen würde, ihre Geschichte zu begreifen und zur Entnazifizierung beizutragen. Die Amnestierung Jugendlicher, die während des Dritten Reiches NS-Funktionäre geworden waren, war ihm persönlich wichtig. Humblot glaubte, wie viele verantwortliche Politiker, dass gerade für die Jugend nach dem Krieg ein Vakuum an Führung bestand. Sie hatten ja eine durchgängige nationalsozialistische Sozialisation erfahren. Damals erlebten Menschen Jugendliche als ängstlich und irritiert in Bezug auf den Zerfall von Werten. „Eine Jugendamnestie in der französischen Besatzungszone erfolgte dann schließlich im Mai 1947, nachdem sie in der englischen und in der amerikanischen Zone bereits seit 1946 galt. Ein Schwerpunkt der Jugendpolitik, die Humblot damals verantwortete, war die Förderung internationaler Begegnungen“ (S. 25).

Carlo Schmid, Kind deutscher Eltern, aber in Südfrankreich geboren, war Soldat im Ersten Weltkrieg. Nach dem Jura Studium arbeitete er in Tübingen als Rechtsanwalt und habilitierte sich. 1940 wurde er zur Wehrmacht einberufen und verwaltete im französischen Lille das Justizreferat der deutschen Militärverwaltung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wirkte er ab 1945 an der Wiedereröffnung der Universität in Tübingen mit. 1947 wurde er Präsident der provisorischen Regierung von Südwürttemberg und dann auch Justizminister. „Als Vorsitzender des 1948 und 1949 tagenden Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates gilt Schmid als einer der Väter des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland“ (S. 27). Als Rechtsprofessor in Tübingen und Frankfurt a. M. war er zudem SPD-Mitglied und Mitglied des Landtages Württemberg- Hohenzollern. Von 1949 bis 1972 war er darüber hinaus Mitglied des deutschen Bundestages. 1952 wurde er Mitglied im IB und von 1970 bis zu seinem Tod 1979 war er Vorsitzender des IB. Carlo Schmid vertrat öffentlich die Meinung, die Kurt Schumacher auf die Formel gebracht hatte, dass jugendliche NS-Funktionäre „irregeleitete Idealisten“ seien. Man müsse im Einzelfall prüfen, ob jemand für die politische Haltung verantwortlich gemacht werden könne, die in einer Diktatur erwartet wurde. Deutschland könne nur, so seine Position, mithilfe der politisch Belasteten neu aufgebaut werden (vgl. S. 30).

Heinrich Hartmann war 1914 im Erzgebirge geboren und als Zwanzigjähriger, aus ärmlichen Verhältnissen stammend, 1937 in die NSDAP eingetreten. Er gab zu Protokoll, dass er während des Krieges ein Begabtenförderungswerk geleitet und handwerklich künstlerische Schulungen im Kontext der HJ gegeben habe. Die Entnazifizierungskommission stufte ihn in seiner Funktion als Hauptbannführer in der HJ als erheblich nationalsozialistisch belastet ein. Durch seine Zeugnisse und Tätigkeiten in der HJ schaffte es Hartmann, diese Sicht zu relativieren (vgl. S. 31). Nach dem Krieg eröffnete Heinrich Hartmann in Reutlingen eine Werbeagentur und arbeitete, nachdem der IB mithilfe seines Engagements gegründet wurde, ehrenamtlich beim Freiwilligen Dienst mit. Dies war seine Idee, um jenen eine Chance zu geben, die unter der Schuldfrage litten. Auf diese Weise erhielt der IB seine Zielrichtung und beschäftigte anfangs auch HJ-Funktionäre (vgl. S. 36). Heinrich Hartmann lebte 1945 in der Illegalität. Er suchte einen Weg, ein neues Leben zu beginnen und seine Schuld zu sühnen. Die Gespräche mit Schmid und Humblot führten auch dazu, dass im Januar 1949 der IB in Tübingen gegründet wurde. Marion Reinhardt recherchierte Tagebucheinträge und Briefwechsel, die Hinweise auf diese Gespräche gaben. Als der erste Freiwillige Hilfsdienst in Bad Teinach am 8. April 1948 begann, wurden die Teilnehmer verhaftet. Teile der französischen Besatzungsmacht vermuteten nämlich den Versuch einer Reorganisation des Nationalsozialismus. Humblot und die Landesregierung von Württemberg-Hohenzollern mussten, so Reinhardt, die Gruppe der Freiwilligen wieder aus der Haft holen (vgl. S. 51).

Die erste Phase der Gründerzeit

Marion Reinhardt teilt die ersten zwanzig Jahre des IB in drei Gründungsphasen ein. Als der IB am 11. Januar 1949 gegründet wurde, baute der Verein auf dem Gedanken der internationalen Begegnung, der Amnestierung von HJ-Funktionären, dem Freiwilligen-Dienst und kulturellen Angeboten für Studierende zur Linderung der Jugendnot auf.

Im Mai 1949 wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik rechtskräftig und Bonn wurde zur provisorischen Hauptstadt erklärt, denn Amerika und England hatten bereits 1947 zugestimmt, dass in den Bi-Zonen ein neuer Staat gegründet werden sollte. Weil die Franzosen zögerten, kam es erst 1948 auf der Insel Herrenchiemsee zu einem Verfassungskonvent für einen neuen Staat unter Kontrolle der Siegermächte. Im Juni 1948 fand die Währungsreform statt, die nochmals eine Flüchtlingswelle auslöste. Im September 1949 wurde mit einer eigenen Verfassung die DDR gegründet.

In Tübingen wollte Humblot, so Reinhardt, vor Beendigung seiner Tätigkeit sicherstellen, dass die studentische Kulturarbeit weitergehe. Auch die Integrationsarbeit des IB brauchte eine neue Rahmung. Die geplante Organisation, der „Internationale Bund“ sollte Vertretern der Universität, der Politik und der Jugend ein Betätigungsfeld bieten (vgl. S. 63). Internationale Begegnungen und praktische Entnazifizierung bildeten die Basis.1952 wurde die Kulturarbeit aus der Satzung gestrichen. Aus dem „Internationalen Bund für Kultur- und Sozialarbeit“ e.V. wurde der „Internationale Bund für Sozialarbeit – und Jugendsozialwerk“. Das Jugendsozialwerk organisierte mittlerweile die Freiwilligen Dienste und dazu waren Wohnungen nötig, in denen die jungen Menschen getrennt nach Geschlechtern lebten, während sie arbeiteten (vgl. 95). In dieser Phase des Aufbaus wurden festangestellte Mitarbeiter/-innen gesucht. Einige von Ihnen hatten die HJ erlebt. Beim IB sollten sie die Chance zum Umdenken bekommen. In der Gründerzeit lag die strategische Führung des IB (Präsidium und Kuratorium) in den Händen der Vertreter der Wissenschaft, Politik und des öffentlichen Lebens. Die Einrichtungen wurden von Personen geleitet, die nationalsozialistisch sozialisiert waren (vgl. S. 102). In den ersten Jahren war das Jugendsozialwerk des IB gerade deswegen einigen Vorbehalten ausgesetzt.

Die zweite Phase der Gründerzeit

Die Jugendgemeinschaftswerke, die ab 1949 die Freiwilligen Dienste organisierten, prägten die Praxis. Sie wurden als „geschlossene“ und „offene“ Einrichtungen geführt. Das Adjektiv „geschlossen“ betonte, dass das Arbeiten, gemeinsame Wohnen und die Freizeitgestaltung gemeinschaftlich organisiert wurde. Ein Gruppenleiter/-in unterstützte den Selbsterziehungs- bzw. Selbsthilfegedanken. Die Entlohnung für die Arbeit erfolgte über den IB, der neben den Wohnungen auch die Arbeitsplätze rekrutierte. Die jungen Erwachsenen bekamen ein Taschengeld und nach Abzug der Unterhaltskosten erhielten sie beim Auszug einen größeren Geldbetrag. Die Arbeit trug erheblich zum Wiederaufbau in der Land- und Forstwirtschaft und in Betrieben des Mittelstandes bei. „Unter ‚offenen‘ Jugendgemeinschaftswerken verstand man in diesen ersten Jahren vor allem Hofgruppen, Landgruppen und Haushaltsgruppen; später kamen, mit dem wachsenden Arbeitskräftebedarf in den Städten, Stadtgruppen hinzu bzw. ersetzen die Landgruppen“ (S. 110). Die offenen Gruppen vermittelten den jungen Menschen Ausbildungsplätze (vgl. S. 113).

Junge Arbeitnehmer/-innen brauchten preiswerten Wohnraum und Arbeit und teilweise auch Beheimatung. Das Angebot des IB richtete sich ja seit 1945 an Kriegswaisen oder durch den Krieg obdachlos gewordene junge Menschen. Weil die Wohnungen, die der IB mittlerweile hatte, auch gepflegt werden mussten, wurden Baugruppen gegründet, die für die Renovierung zuständig waren (vgl. S. 116).

Der Gedanke der Hilfe zur Selbsthilfe gab der Praxis Orientierung. „In den ersten Selbstdarstellungen der IB-Einrichtungen wurden ‚demokratische Selbstverwaltung‘ und ‚offene Diskussionsrunden‘ als wichtige Elemente des Heimlebens hervorgehoben“ (S. 125).

Bereits in den 1950er Jahren wurde der IB ein bundesweit agierender Träger für Jugendsozialarbeit. 1952 hatte der IB eine erste Satzungs- und Namensänderung vollzogen und seine Organisationsstruktur den veränderten Anforderungen der Zeit angepasst. Die Mitgliederversammlung bildete die Basis. Alle waren Mitglieder, die sich im Verein engagierten. Der ehrenamtliche Vorstand vertrat die Interessen des IB in der Öffentlichkeit und bevollmächtigte die Geschäftsführung zur strategischen Umsetzung der Angebote. Kommunal- und Landespolitiker konnten in den Vorstand gewählt werden, die der Geschäftsführung gegenüber weisungsberechtigt waren. Die Zahl der Mitglieder des Kuratoriums wurde offengelassen. Das Kuratorium hatte eine beratende Funktion. Da Einrichtungen auch in anderen Bundesländern gegründet wurden, wurden ein Bundes- und auch ein Landeskuratorium eingeführt. Der Zweck des Vereins wurde zusammenfassend darin gesehen, internationale Begegnungen zu unterstützen und Selbsthilfe zu stärken (vgl. S. 140).

In diese Zeit (1950 bis 1961) fällt das Phänomen der Flucht aus der DDR. Die Zahl der DDR Flüchtlinge erreichte 1953 ihren Höhepunkt und wurde erst durch den Bau der Mauer 1961 gestoppt. Hinzu kamen Flüchtlinge aus den sogenannten Ostgebieten und Spätaussiedler. Bis 1959 war der IB bereits in sieben Bundesländern aktiv. Die Jugendwohnheime gegen die Wohnungsnot und die Integration der neuen Flüchtlinge in die Arbeitswelt beschäftigten den IB. Die DDR-Flüchtlinge brauchten vor allem berufsfördernde, also qualifizierende Maßnahmen in Form von Schulungen.

Die dritte Phase der Gründerzeit

Der wirtschaftliche Aufschwung und das Wachstum in der BRD wirkte sich in den 1960er Jahren positiv aus. Neue Arbeitsplätze und ein verändertes Freizeitverhalten erforderten auch eine erneute Veränderung im IB. Der IB wurde zunehmend als Dach für andere Träger von Maßnahmen wahrgenommen, die sich nicht mehr alleine organisieren konnten. Marion Reinhardt beschreibt in ihrer Dokumentation die „Gemeinnützige Gesellschaft für Jugendfreizeit e.V.“ in der Pfalz. Die betrieblich organisierten Ferienreisen rentierten sich nicht mehr, weil die Freizeitgestaltung sich änderte. Der IB kooperierte zunehmend mit Wirtschaftsunternehmen und ermöglichte Wohnheime, die den Betrieben nahestanden. Als die DDR-Flüchtlinge ausfielen, brauchte die deutsche Wirtschaft Gastarbeiter. Die neuen Zugewanderten brauchten natürlich auch Wohnungen und Eingliederungshilfen, denn der Zuzug der Familien und die Integration der Kinder in die Bildungssysteme musste unterstützt werden. Die Expansion des IB dauerte bis zur Konjunkturkrise, die mit Stichwort Ölkrise beschrieben werden kann. Die Bundesregierung erließ einen Anwerbestopp und die ausländischen Arbeitskräfte blieben aus. Deshalb, so Reinhardt, mussten auch im IB Heime geschlossen oder umgewidmet werden. „Der Rückgang der Betreuung ausländischer Arbeitskräfte in den betriebsgebundenen Wohnheimen markierte einen neuen Abschnitt in der Entwicklungsgeschichte des IB, weist aber auch über die Entwicklung des IB in seinen Gründungsjahren, den ersten beiden Jahrzehnten hinaus“ (S. 181). Der IB wurde nun auch Träger von besonderen Einrichtungen der Sozialarbeit. Die „stationäre Ersatzerziehung“ und „Intensiv-Wohngruppen“ wurden eröffnet und manche Heime wurden auch Jugendgästehäuser (vgl. S. 184).

Seit Beginn der 1960er Jahre, wieder von Tübingen ausgehend, wurde im IB auch das „Freiwillige Soziale Jahr“ (FSJ) als ein Bildungsjahr zwischen Schulentlassung und Berufseinstieg als Pilotprojekt entwickelt. Ab 1964 wurde das FSJ sogar gesetzlich gefördert (vgl. S. 186).

Darüber hinaus gelang es, Jugendbildungsveranstaltungen und außerschulische Bildungsarbeit anzubieten. Bisher waren der Bildungsurlaub und entsprechende Veranstaltungen vor allem eine Domäne der Wirtschaft, Kirchen und Gewerkschaften. Der IB regte auch die Gründung von Dachorganisationen an.

1968 zog die Geschäftsführung von Tübingen nach Frankfurt a.M. 1970 wurde Carlo Schmid Erster Vorsitzender des IB (vgl. S. 190).

Diskussion

Die Publikation wird bereichert durch die Expertisen in Kapitel 7. So wird einerseits deutlich, dass der IB nicht singulär agierte, sondern Teil eines sozialpädagogischen Netzwerkes geworden war. Soziale Arbeit spielte sich nicht nur in kirchlichen Fürsorge- bzw. Erziehungsheimen ab oder auf dem Jugendamt. Hilfe zur Erziehung wurde durch Hilfe zur Selbsterziehung bei der Integration in die Normalität entwickelt. Die Geschichte Sozialer Arbeit ist, das zeigt diese Dokumentation, Teil der Bundesrepublik und anders, als es durch den Wohlfahrtstaat der Weimarer Republik nahegelegt wurde, ist Soziale Arbeit auch als Normalisierungskraft sichtbar und wirksam. Ohne die Integrationsleistung des IB, die Jugend in die Arbeitswelt zu integrieren und die Unterstützung der Arbeitsmigranten (Gastarbeiter) bei der Integration in die Nachkriegsgesellschaft aber auch die Begleitung der Nachkriegsgesellschaft bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen, wäre der deutsche Sozialstaat ein anderer. Weit über die Soziale Arbeit im engeren Sinn hinaus weist die Wirkung, die der IB mithilfe der Gründerimpulse für die Entwicklung der deutschen Gesellschaft nach 1945 übernommen hatte. Natürlich rührt diese Geschichte in Zeiten aktueller Fluchtereignisse, wie sie durch den Konflikt um Syrien z.Zt. erlebt wird, an. Marion Reinhardt fokussiert die Zielgruppe des IB, Flüchtlinge und ihre Fluchtgründe von damals und zeigt, wie soziale Institutionen einen konstruktiven Umgang mit gesellschaftspolitisch relevanten Themen aufgreifen. Wie nebenbei wird auch erzählt, dass Soziale Arbeit aufgrund ihrer Reaktion auf die gesellschaftlichen Verhältnisse erst entsteht. Dieses innovative Potential Sozialer Arbeit wird mithilfe der vorliegenden Publikation auch sichtbar. Das Buch macht natürlich auch deutlich, wie sehr sie vom politischen Willen abhängig ist.

Die Expertisen tragen in erheblicher Weise zum Lesegewinn bei. Sie beschäftigen sich mit der Hitlerjugend, ihrer Struktur und ihren Inhalten. Die Politik der provisorischen französischen Militärregierung, die sich in Henri Humblot widerspiegelte, wird ebenfalls lebendig nachvollziehbar. Die Kulturpolitik während der Besatzungszeit war durch die Förderung des Pluralismus, die Wiederbelebung des Bildungsgedankens in Form der Volkshochschulen und der Unterstützung der Jugendamnestie gekennzeichnet. Damit gehörte die Kulturarbeit zu den zentralen Strategien, ein Umdenken der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu ermöglichen. Die Darstellung der „Jugendnot“ der damaligen Zeit, die in der Gefahr der „Verwahrlosung“ und „Bindungslosigkeit“ der Jugend als Gefahr wahrgenommen wurde, hilft, sich diese Zeit noch besser vorstellen zu können. Das Leben in Trümmern und auf der Flucht kennzeichnete seit Mitte der 1940er Jahre das gesellschaftliche Lebensgefühl. Erst in den 1960er Jahren wirkten sich die Bemühungen um den Wiederaufbau in den 1950er Jahren, der Kalte Krieg und das beginnende Wirtschaftswunder auf das Verhalten der Generationen aus, so dass eine neue Generationeneinheit entstand (vgl. S. 257). Die hier vorgestellte Geschichte ist eine wichtige Phase in der Geschichte der Bundesrepublik und zentral für die Zeit der Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur. Nach der Kapitulation wirkten vor allem der Schock und das Schweigen, die Verdrängung und das Relativieren. Die junge Generation musste sich erst einmal aus alten Bindungen an den Führer befreien. „Jugendnot“ umfasste damals nicht nur Wohnungs-, Arbeits- und finanzielle Not. Millionen vertriebener Kinder und Jugendlicher mussten aufgefangen und gesellschaftlich integriert werden. Helmut Schelsky prägte 1957 mit seiner Diagnose der „skeptischen Generation“ das Lebensgefühl dieser Jugendlichen von 1945 bis 1955. Gleichzeitig war es die Jugend des Wiederaufbaus. Ihre Eltern waren zwischen 1920 und 1930 geboren und hatten als Kriegsgeneration und Flakhelfer die Folgen des zweiten Weltkrieges erlebt. Bis in unsere Zeit wirken ihre Erfahrungen des Krieges in den Familien und Erziehungsstilen nach. Kerstin von Lingen erwähnt in ihrem Beitrag, dass die Jugendarbeit in der HJ mittlerweile gut erforscht sei. Dagegen betreten wir Neuland in Bezug auf den Beitrag, den HJ-Führer beim Wiederaufbau der Jugendarbeit in der jungen Bundesrepublik leisteten (vgl. S. 287). Hier wird ein Forschungsdesiderat sichtbar.

Die von Reiner Becker vorgetragene Beschreibung der Phasen der Aufarbeitung der Schuldfrage hilft meiner Ansicht nach enorm, zu verstehen, welche Dimensionen eine kollektive Verarbeitung des Holocaust und der Shoah hat. Nicht nur der Blick auf die Wiedervereinigung 1989, die Becker als neue Dimension der Erinnerungsarbeit kennzeichnet, regen zu intensiven Diskussionen an. Die Diskurse über Opfererfahrungen und die damit zusammenhängenden Verzerrungen und verbale Entgleisungen, sei es bei Mahnmalen oder neuen Studien macht deutlich, dass die Erinnerungsarbeit nicht beendet werden darf. Es braucht solche Impulse, wie sie durch den IB und seine Bereitschaft, die eigene Geschichte kritisch zu reflektieren, verwirklicht werden können.

Fazit

Marion Reinhardt hat eine Dokumentation verfasst, die für den IB, aber sicher auch für die Geschichte der Sozialen Arbeit von herausragender Bedeutung ist. Das Buch fokussiert auf die Gründerzeit des IB. Es gibt wenig Auskunft über den heutigen Stand der Organisation. Dafür aber kann der Versuch von Humblot, Schmid und Hartmann, die Funktionäre der Hitlerjugend in den neuen deutschen Staat zu integrieren, als Erfolgsgeschichte bewertet werden.

Rezension von
Prof. Dr. Christiane Vetter
Leiterin der Studienrichtung Soziale Arbeit in der Elementarpädagogik an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg Stuttgart

Es gibt 63 Rezensionen von Christiane Vetter.

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Zitiervorschlag
Christiane Vetter. Rezension vom 04.05.2017 zu: Marion Reinhardt: Gründungsgeschichte des Internationalen Bundes. Themen, Akteure, Strukturen. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2017. ISBN 978-3-7344-0415-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22150.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.


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