Cinur Ghaderi, Thomas Eppenstein (Hrsg.): Flüchtlinge. Multiperspektivische Zugänge
Rezensiert von Prof. Dr. Nausikaa Schirilla, 06.12.2017
Cinur Ghaderi, Thomas Eppenstein (Hrsg.): Flüchtlinge. Multiperspektivische Zugänge. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH (Wiesbaden) 2017. 384 Seiten. ISBN 978-3-658-15740-1. D: 39,99 EUR, A: 41,11 EUR, CH: 41,50 sFr.
Thema
Aktuell wird der Themenkomplex Flucht und Asyl auf den verschiedensten Ebenen auch wissenschaftlich verhandelt und erfreut sich einer nicht nachlassenden Aktualität. Dennoch ist umstritten, inwiefern Flucht ein eigenes Forschungsfeld darstellen sollte, da der Gegenstand selbst abhängig ist von politischen Konstellationen und gesellschaftlichen Konstruktionen. Der vorliegende Band versucht, über verschiedene disziplinäre Perspektiven einen wissenschaftlichen Zugang zur Thematik herzustellen und zugleich sozialarbeiterisch relevante Praxisfelder wissenschaftlich aufzuarbeiten. Die Herausgeben_innen verstehen ihren Zugang primär als Rekonstruktion der unterschiedlichen politischen, medialen und fachlichen Konstruktionen von „Flüchtlingen“ und als Anregung zu einem interdisziplinären Weiterdenken an einem gleichsam fluiden Gegenstand, der sich permanent räumlich und zeitlich verschiebt.
Herausgeber_innen und Autor_innen
Die beiden Herausgeber_innen Cinur Ghaderi und Thomas Eppstein sind Professor_innen an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum. Cinur Ghaderi ist Psychologin und war lange in der psychotherapeutischen Arbeit mit Geflüchteten tätig, Thomas Eppenstein ist Erziehungswissenschaftler und vertritt einen kritisch und reflexiv verstandenen Ansatz interkultureller Bildung.
Die Autor_innen der Beiträge kommen aus den verschiedensten Humanwissenschaften, aus der Psychologie, den Erziehungswissenschaften, Politik- und Sozialwissenschaften, Sozialarbeitswissenschaft, Kultur- und Medienwissenschaft, Jura, Medizin und aus der Ethik.
Einführung und Aufbau
Eine „Führungslose Einführung“ hebt den Prozesscharakter und die politische Ambivalenz von Forschung zu Geflüchteten hervor.
Danach ist das Buch in drei Teile unterteilt.
- In einem ersten Teil werden disziplinäre Zugänge und theoretische Perspektiven zur Thematik dargestellt, zentrale Forschungsfragen aus verschiedenen Perspektiven benannt und vor allem die offenen Ränder „abgesteckt“ und neu geöffnet.
- Im zweiten Teil werden medienanalytische und kunsthistorischer Zugänge präsentiert, die vor allem die Wirkmächtigkeit von Bildern in ihrer Rahmung der Vorstellungen von „Flüchtlingen“ thematisieren.
- In einem dritten Teil geht es um praktische Zugänge. Hier werden Arbeitsbereiche und Konzepte verschiedener Dienstleister_innen der Sozialen Arbeit, der psychologischen und medizinischen Versorgung rekonstruiert. Dabei geht es einerseits um eine mögliche Definition von Flüchtlingssozialarbeit, um Arbeit mit traumatisierten Kindern, kultursensible Psychotherapiekonzepte, medizinische Versorgung und Konzepte einer spezifischen Beratungskompetenz. Diese Verbindung von theoretischen Zugängen und praktischen Arbeitsfeldern stellt eine der Stärken des Bandes her.
Zum ersten Teil
Im Kapitel „Disziplinäre Zugänge und theoretische Perspektiven“ schreibt Hajo Funke über zivilgesellschaftliche Reaktionen auf Kriege, Flüchtlinge und Terror. Als besondere politische Herausforderungen nennt er eine Stärkung demokratischer Kräfte gegenüber den rechten und extrem rechten Bewegungen.
Sigrid Graumann leistet eine ethische Beurteilung der aktuellen deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik und stellt dabei besonders das Recht auf Zuflucht und das Recht auf Zugehörigkeit als universale moralische Rechte dar, zwischen denen zwar ein Spannungsfeld besteht, die beide aber nicht negiert werden dürfen.
Micha Brumlik wiederum fragt in seinem Beitrag „Flüchtlinge als deutsches Narrativ“ nach den Zusammenhängen zwischen Diskursen zu Flucht und Vertreibung nach dem zweiten Weltkrieg und aktuellen Flüchtlingsdebatten. In einer postkonventionellen und universalistischen Perspektive („Würde des Menschen“ und nicht „Würde des Deutschen“) sieht er hier einige Anknüpfungspunkte.
Ulrike Krause thematisiert in ihrem Beitrag: „Die Flüchtling – der Flüchtling als Frau“ genderspezifische Fragen und situiert geflüchtete Frauen zwischen Unsicherheit und empowerment.
Anschließend gibt Dorothee Frings einen Überblick über das Asylrecht aus europäischer Perspektive und warnt davor, dass, wenn Flüchtlinge als Objekte gesonderter Rechte zum reinen „Objekt staatlichen Handeln“ werden, Grenzen der Achtung der Menschenwürde überschritten sind.
In eine ähnliche Richtung geht der Beitrag von Norbert Cyrus, wenn er versucht, den Flüchtlingsstatus in seiner Widersprüchlichkeit darzustellen, nämlich einerseits als potentielle Schutzquelle und anderseits als Begrenzung.
Einen soziologischen Zugang präsentieren Albert Scherr und Çigdem Inan, die Flüchtlinge als gesellschaftliche Kategorien und als Konfliktfeld darstellen. Sie heben hervor, dass es vor allem um Aushandlungsprozesse darüber, wer als Flüchtling gilt, geht und dass deren gesellschaftstheoretische Grundlagen befragt werden müssen.
Thomas Eppenstein stellt verschiedene Bildungsaspirationen und Bidlungsmöglichkeiten von Flüchtlingen dar und beschreibt gleichzeitig Flucht als Gegenstand für Weiterbildung und Menschenrechtsbildung.
Der theoretische Teil wird mit einem sozialpsychologischen Beitrag von Ulrich Wagner zu Abgrenzungen und Stereotypen abgeschlossen.
Zum zweiten Teil
Im zweiten Teil zu medialen Zugängen problematisiert Esther Almstadt Bilder von Flüchtlingen in den Printmedien und Doron Kiesel diskutiert drei Filme als „Bilder auf der Flucht.“
Stefan Strsembski widmet sich ausführlich dem Begriff des Displacement als Thema der zeitgenössischen Kunst und stellt Bezüge zum Bild des Flüchtlings her.
Zum dritten Teil
Der durchaus umfassende Teil „Vulnerabilität und Handlungszugänge“ untersucht verschiedene Interventionsfelder.
Dima Zito stellt ausgehend von ihrer Forschung zu Kindersoldaten wichtige Eckpunkte zu Flüchtlingen als Kindern dar und fragt nach Konzepten der Arbeit mit traumatisierten Kindern. Dabei hebt sie besonders deren Resilienzpotentiale und die Bedeutung äußer Umstände, wie Unterbringung, Bildung, Freizeit und Existenz verlässlicher Bezugspersonen hervor.
Cinur Ghaderi und Eva van Keuk stellen in ihrem Beitrag zu Geflüchteten in der Psychotherapie einerseits Arbeitskonzepte vor. Zugleich situieren sie Heilung in einem politisierten Raum und argumentieren damit gegen eine Individualisierung und Psychiatrisierung von Traumatisierten und thematisieren auch die Therapeut_innen selbst als Akteure eines „internalisierten Grenzregime“.
Die besonderen Anforderungen und auch Umstände der medizinischen Versorgung von Geflüchteten thematisieren Ljiljana Joksimovic und andere und stellen dabei die transkulturelle psychosomatische Ambulanz des LVR Klinikums in Düsseldorf dar.
Christine Rehklau beschreibt, in welchen spezifischen Feldern der Sozialen Arbeit Flüchtlinge als Adressat_innen zu finden sind, sie nennt Anforderungen an Flüchtlingssozialarbeit und fordert den Beginn einer diesbezüglichen sozialarbeitswissenschaftlichen Forschung.
Einen methodischen Zugang zur Flüchtlingssozialarbeit stellt Ronald Kurt in seinem Beitrag zum Flüchtlingsberatungsgespräch dar. Dabei problematisiert er gängige Ansätze interkultureller Kompetenz, die das Fremde als bereits vorhanden voraussetzen. Als Alternative konzipiert er entsprechende Beratungssituationen als einen offenen, fragilen Kooperationsprozess.
Der Band wird abgeschlossen von einem kritischen Blick auf Abschiebungen als Mittel der Migrationskontrolle von Barbara Eßer und mit einem Blick auf internationale Aspekte auf Flüchtlingslager weltweit durch Ronald Lutz.
Diskussion und Fazit
Der Band ist sicher nicht erschöpfend, aber gut komponiert und sehr vielfältig von seinen Zugängen her. Eine besondere Stärke stellt das Kapitel zu den Medien dar, da sich diese Thematik angesichts der ständig erwähnten Konstruktionsformen aufdrängt und in der sozialarbeiterischen Diskussion wenig thematisiert wird. Die verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven sind gut ausgewählt und die einzelnen Beiträge enthalten jeweils klare Aussagen und Positionierungen. Mit der durchgängigen Fragestellung „Konstruktion von Flucht als Gegenstand“ wird der interdisziplinäre Anspruch realisiert ohne die Grenzen der Disziplinen zu verwischen. Eine weitere Stärke stellt wie bereits erwähnt die Verbindung von Theorie und Praxis dar. Dem Anspruch, hilfreiche Lektüre für Studierende, Lehrende und Praktiker_innen zu liefern, kommt der Band im vollen Umfang nach.
Rezension von
Prof. Dr. Nausikaa Schirilla
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Es gibt 41 Rezensionen von Nausikaa Schirilla.
Zitiervorschlag
Nausikaa Schirilla. Rezension vom 06.12.2017 zu:
Cinur Ghaderi, Thomas Eppenstein (Hrsg.): Flüchtlinge. Multiperspektivische Zugänge. Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
(Wiesbaden) 2017.
ISBN 978-3-658-15740-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22158.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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