Udo Rosowski: Analysen zur sozialen Ungleichheit
Rezensiert von Prof. Dr. Erich Hollenstein, 13.03.2017
Udo Rosowski: Analysen zur sozialen Ungleichheit. Arme sterben früher. literates-Verlag (Brüggen) 2016. 236 Seiten. ISBN 978-3-943360-50-9. D: 15,90 EUR, A: 16,40 EUR.
Entstehungshintergrund und Thema
Die Autorinnen und Autoren sind Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Doktorschule der Andrassy Universität in Budapest. Im Rahmen eines interdisziplinären Promotionsseminars wurde das Thema soziale Ungleichheit von unterschiedlichen Seiten beleuchtet. Der Herausgeber, Udo Rosowski, streicht in der kurzen Einführung heraus, dass es sich bei der Behandlung des Themas auch um den einzelnen Menschen handelt, der sich mit diffusen und unverbindlichen Rolleninterpretationen auseinandersetzen muss.
Aufbau
Betrachtet werden in den sieben Beiträgen Ungleichheiten in Deutschland, USA, Großbritannien, Ungarn, Polen und der Tschechischen Republik.
Inhalt
Christoph Weiss: Einkommensungleichheiten und Spaltung der Gesellschaft. Bei der Analyse der Begründung der Ungleichheiten lehnt sich der Autor an den französischen Ökonom Piketty an. D. h. er unterscheidet u.a. zwischen Arbeitseinkommen und Kapitaleinkommen. In der Konsequenz geht es, einfach formuliert, um Erben oder Arbeiten. Wird die Ungleichheit im Bereich der Arbeitseinkommen analysiert macht Weiss auf den Anstieg der Lohnungleichheit aufmerksam (z.B. Lohnverhältnis: Vorstand = 200; Durchschnittseinkommen = 1). Bei der Ungleichheit hinsichtlich des Kapitaleinkommens wird auf die unzureichende Besteuerung der Erbmasse aufmerksam gemacht. Dieser Sachverhalt führt insbesondere in Europa und in den USA zu hohen Vermögenskonzentrationen (z. B. 62 Menschen besitzen soviel wie die Hälfte der Erdbevölkerung, S.25). Die Gefahr besteht letztlich darin, dass die Reichen immer reicher werden und dementsprechend die soziale Ungleichheit steigt und die Gesellschaft mehr und mehr spaltet. Mitteleuropäische Sozialstaaten verfügen indes über Mechanismen eines gewissen Ausgleichs.
Martina Medolago: Bildung, Herkunftsfamilien und soziale Ungleichheit. Die Autorin verweist zunächst auf die verhärteten Ungleichheiten im Schulsystem, die im Wesentlichen auf die Herkunftsfamilie und das dortige Bildungsniveau zurückzuführen sind (z.B. Arbeiterfamilie vs. Akademikerfamilie). Sich hier ergebende Habitusdifferenzen zeigen eben ein hohes Beharrungsvermögen wie es sich an Hand der PISA-Studien gut belegen lässt. In einem weiteren Abschnitt wird ein Migrationshintergrund als Ungleichheitsverstärker analysiert. Ebenso wird die Bedeutung des Geschlechts untersucht und u.a. darauf verwiesen, dass der Bildungserfolg der Mädchen davon beeinflusst ist, dass zwei Drittel des Lehrpersonals weiblich sind. Höchst bedeutsam für Bildungsungleichheit ist aber die Schule selbst. Durch den Bezug zur individuellen Schulleistung werden gesellschaftliche Leistungsanforderungen legitimiert und zugleich Zugangschancen zu Berufskarrieren verteilt. Die Verlierer in diesem System werden darauf verwiesen, dass sie für ihre Situation selbstverantwortlich sind. In Anlehnung an den deutschen Historiker Wehler sieht Medolago in einer Verbesserung vorschulischer und familienunabhängiger Bildungsangebote eine Chance zur Verringerung der Bildungsungleichheit.
Udo Rosowski: Arme sterben früher. Nach einer umfangreichen Einführung in die Ungleichheits- und damit auch Armutsproblematik bezogen auf Deutschland und Europa kommt der Autor auf den bekannten aber immer wieder erschreckenden Zusammenhang vom frühen Sterben armer Menschen. Hierzu wird reichhaltiges Zahlenmaterial vorgelegt. Ein Beispiel: Die Morbiditätsrate bei Herzinfarkt der Altersklasse 60-69 Jahre zeigt im Beobachtungszeitraum von 13 Jahren einen signifikanten Anstieg bei pflichtversicherten Frauen und Männern gegenüber freiwillig versicherten Frauen und Männern: „Am Ende des Beobachtungszeitraums ist bei Männern eine um ca. 30% höhere Sterblichkeit bei den Pflichtversicherten festzustellen“ (S. 70). Solche Ergebnisse zeigen sich auch bei anderen Krankheitsbildern und Rosowski bezieht seine Darstellungen nicht nur auf den Versicherungsstatus sondern ebenso auf die sozioökonomische Lage (z. B. in der untersten sozioökonomischen Schicht leben Frauen 8,4 Jahre kürzer im Vergleich zu den Frauen in der obersten Schicht). Bei den Erklärungsversuchen des Zusammenhangs werden berufliche Tätigkeiten genannt aber auch Einschränkungen in anderen Lebensbereichen (Sport, Freizeit, Ernährung): „Je höher das Einkommen umso mehr wird Sport betrieben“ (S.77). Als Gegenmaßnahmen empfiehlt der Autor z.B. präventive Gesundheits- und Sportangebote sowie das Aufbrechen schichttypischen Verhaltenes. Auch findet sich die Empfehlung, die freie Schulwahl aufzuheben, um so eine stärkere Schichtmischung zu erzielen.
Simon A. H. Vogt: Armut und soziale Ungleichheit in wohlfahrtsstaatlichen Demokratien. Nach entsprechenden Definitionen (z.B. sind die wohlfahrtsstaatlichen Demokratien durch staatliche Verantwortung und Nachrang individueller Eigenvorsorge gekennzeichnet) erörtert der Autor die Armutsgefährdung (sie liegt bei 60 Prozent des Nettomedianeinkommens; in der BRD 917 Euro für eine Einzelperson) in europäischen Ländern. Dabei stellt sich ein Nordwest/Südost-Gefälle heraus wobei Griechenland den schlechtesten Wert erreicht. Zur internationalen Bewertung der Armut bzw. Ungleichheit bezieht sich Vogt auf den Gini-Faktor (bei völliger Gleichverteilung ist der Faktor = Null, bei dem Besitz aller Einkommen bei einer Person = Eins). Mittels dieses Faktors werden Ländervergleiche angestellt und auf die enorme Bedeutung der jeweiligen Steuersysteme verwiesen. Bezogen auf die Armutsgefährdung spielt Bildung eine große Rolle und der Autor analysiert die asymmetrischen Zusammenhänge. Um eine Verbesserung zu erreichen wird eine Weiterentwicklung der vorschulischen Bildung empfohlen, die Ausweitung der Ganztagsschulen und ein längeres gemeinsames Lernen in der Schule.
Tillman van de Sand: Strukturelle Ungleichheiten in Europa: Zentrum und Peripherie. Bei der Nutzung der Analyseperspektive der Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie bezieht sich der Autor auf den US-amerikanischen Sozialtheoretiker Immanuel Wallerstein. Untersuchen lassen sich Abhängigkeiten und Überlagerungen in lokalen, regionalen, nationalen und weltweiten Dimensionen. Eine solche Betrachtung führt auch zur Erfassung von Ungleichheiten im Europaraum. Es wird ein ausgeprägtes Nordwest/Südost-Gefälle an Hand des Vergleichs der jeweiligen Arbeitsproduktivität festgestellt. Benachteiligt sind besonders, aber nicht ausschließlich, die Transformationsgesellschaften des ehemaligen Ostblocks. Für diese Staaten ist u.a. eine sehr hohe Beschäftigungsquote in der Landwirtschaft für die periphere Lage kennzeichnend (EU-Durchschnitt 5,1 %; z.B. Rumänien 31,4 %) Weiterhin ist die Jugendarbeitslosigkeit von Bedeutung (EU-Durchschnitt 20,1%; z.B. Griechenland 49,1%). Das europäische Zentrum, auch „Blaue Banane“ genannt, umfasst indessen Südengland, folgt im Kontinentaleuropa der Rheinschiene bis nach Norditalien und umfasst auch Paris, Südfrankreich und Barcelona. Die laufenden Transferleistungen von den Zentralstaaten in die Peripheriestaaten sind marginal. Weitere Analysemerkmale beziehen sich u.a. auf Korruption, Marktintransparenz, Handelsbilanzdefizite und Verschuldung. Letztlich wird festgehalten: „Die Aufrechterhaltung der Spannung zwischen Zentrum und Peripherie kann folglich als Reproduktionsinteresse des Zentrums angesehen werden“ (S.134).
Aron Horvath: Armut und Ungleichheiten in Transformationsgesellschaften am Beispiel Polens. Der Autor verweist zunächst auf die 20 Transformationsstaaten Europas in Mitteleuropa und auf dem Balkan. Auf diesem Hintergrund wird auch Polen in seiner politischen und wirtschaftlichen Entwicklung beschrieben. Speziell untersucht wird u.a. die Einkommensverteilung mit steigenden Gini-Faktor, also mit zunehmender Ungleichheit. Sodann wendet sich der Autor dem Bildungsbereich zu. Die Zahl der Hochschulabsolventen hat sich von 1990 – 2002 vervierfacht und zwar ohne den in Deutschland bekannten Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Auch wenn sich Veränderungstendenzen abzeichnen, ist doch von einer Abnahme der Bildungsungleichheit zu sprechen. Zunehmende Ungleichheiten ergeben sich im Bereich der Renten und der Armut. Maßgeblich daran beteiligt ist die Arbeitslosigkeit insbesondere bei jungen Menschen, bei Personen mit niedrigem Bildungsniveau sowie bei Alleinerziehenden und kinderreichen Familien. Der Autor schätzt, dass die Armut ein Drittel der Bevölkerung betrifft. Zugenommen hat die politische Gleichheit im Transformationsprozess.
Margit Schütt: Eine Analyse der sozialen Ungleichheit in Ungarn nach der Transformation. (Ein Blick hinter die globalen Daten Ungarns – Kann etwas für die Verminderung der sozialen Ungleichheit, Armut und Ausgrenzung in Ungarn getan werden?) Die Autorin beschäftigt sich mit zwei Hypothesen zur neueren Entwicklung in Ungarn: Erstens, dass sich hinter akzeptablen Wirtschaftsleistungen wachsende Ungleichheiten verbergen und zweitens, dass man u.a. durch gezielte Programme auf lokaler Ebene soziale Ungleichheiten und Armut mindern kann. Bei der Analyse der BIP-Wachstumsraten vermutet Schütt ein sinkendes Wachstum. Zur weiteren Untermauerung der ersten Hypothese wird die Inflationsrate und die Arbeitslosenrate analysiert. Die dortigen Daten sind aber eher positiv. Allerdings verschlechtert sich die Lage der Armen sowie die territoriale Ungleichheit. Besonders davon betroffen ist die Gruppe der Roma. Auf dem Hintergrund einer umfangreichen Darstellung ungarischer Wirtschaftsdaten kommt die Autorin zum Schluss: „Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass das Maß an Ungleichheiten in Ungarn groß ist, daher sind Maßnahmen, Programme aller Art für eine Verbesserung der Chancengleichheit unbedingt notwendig“ (S.199). Empfohlen werden lokale Programme zur Armutsminderung. Finanzieren lassen sich solche Programme mittels des Konzepts von Muhammad Yunus indem Selbstbeschäftigung (Unternehmer) durch Mikrokredite flankiert wird. Teilnehmerinnen und Teilnehmer solcher Programme sind z.B. arbeitslose Personen mit geringer Schulbildung und schlechter Wohnsituation. Als ein Beispiel zur Verminderung der Armut durch das genannte Programm nennt die Autorin den Gurkenanbau. In einem Anhang wird das Beschäftigungsprogramm „Ausweg“ näher dargestellt.
Diskussion
Der Band gibt einen Einblick in die Doktorschule der Budapester Universität bzw. in ein Doktorandenseminar. Die dortige Beschäftigung mit dem Thema soziale Ungleichheit ist vielseitig und beachtlich in seiner wissenschaftlichen Durchdringung. Allerdings werden weniger forschungsspezifische Dissertationsvorhaben präsentiert, dafür ergibt sich aber eine hohe Konzentration auf das Thema. Die sich dadurch ergebende thematische Spannweite beinhaltet durchaus bekannte Ungleichheitsproblematiken, es finden sich aber dann über europäische Gesellschaftsvergleiche, vornehmlich durch den Einbezug Osteuropas, sehr innovative Blickwinkel mit internationaler Ausrichtung.
Vermisst wird ein den Band abschließender und zusammenfassender Beitrag, ggf. mit Hinweisen zu notwendigen Forschungsperspektiven.
Fazit
Die Veröffentlichung liefert eine gut zu lesende und vielseitige Einführung in die Thematik der sozialen Ungleichheit. Die auf europäische Vergleiche, insbesondere Osteuropa einbeziehend, ausgerichteten sieben Beiträge zeigen die wissenschaftliche und interdiziplinäre Durchdringung des Themas im Rahmen eines Doktorandenseminars (Doktorschule) der Budapester Universität. Themen sind u.a. Einkommensungleichheiten, Bildungsungleichheiten, Armut und Gesundheit, Armutsverteilung zwischen Zentrum und Peripherie sowie Folgen der Transformationsprozesse in Polen und Ungarn.
Rezension von
Prof. Dr. Erich Hollenstein
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Zitiervorschlag
Erich Hollenstein. Rezension vom 13.03.2017 zu:
Udo Rosowski: Analysen zur sozialen Ungleichheit. Arme sterben früher. literates-Verlag
(Brüggen) 2016.
ISBN 978-3-943360-50-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22177.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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