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Brigitta Michel-Schwartze (Hrsg.): Der Zugang zum Fall

Rezensiert von Prof. Dr. Werner Schreiber, 26.04.2019

Cover Brigitta Michel-Schwartze (Hrsg.): Der Zugang zum Fall ISBN 978-3-658-10969-1

Brigitta Michel-Schwartze (Hrsg.): Der Zugang zum Fall. Beobachtungen, Deutungen, Interventionsansätze. Springer VS (Wiesbaden) 2016. 289 Seiten. ISBN 978-3-658-10969-1. D: 19,99 EUR, A: 20,55 EUR, CH: 21,50 sFr.

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Herausgeberin

Brigitta Michel-Schwartze ist Professorin (em.) Dr. Phil. der Hochschule Neubrandenburg. Ihre Schwerpunkte sind u.a.: Grundlagen und Methoden Sozialer Arbeit, Soziale Probleme/Soziale Dienste, Professionelles Handeln.

Thema

Brigitta Michel-Schwartze, legt als Herausgeberin ein Lehrbuch vor, das „unterschiedliche disziplinäre Perspektiven auf einen Fall aus der Praxis der Sozialen Arbeit“ (S. 1) zum Thema macht. Alle AutorInnen des Bandes hatten die Aufgabe, „denselben Fall nach wissenschaftlichen Kriterien der von ihnen vertretenen Disziplin einzuschätzen und damit einen spezifischen Zugang zum Fall zu legen (ebd.)“. In ihrer Einleitung positioniert sich die Herausgeberin als Vertreterin einer Fachwissenschaft Soziale Arbeit, verstanden als transdisziplinäre Handlungswissenschaft. Diese verortet sie disziplintheoretisch in der allgemeinen Systemtheorie, mit eigenem Gegenstandbereich, eigenen erkenntnisleitenden Problemstellungen und eigener konstruktivistisch orientierter Erkenntnisperspektive. Den formalobjektiven Gegenstand einer Disziplin Soziale Arbeit umschreibt die Autorin als „Definitions-, Erklärungs- und Bearbeitungsprozesse sozialer Benachteiligungsphänomene“, die sich als soziale Probleme „[…] auf individueller Ebene identifizieren, beobachten und regulieren lassen.“ (S. 3).

Neben der knappen Einordnung einer Fachwissenschaft Soziale Arbeit im Wissenschaftsgefüge gelingt der Herausgeberin eine straffe und informative Zusammenfassung der acht im Buch vertretenen Beiträge aus den Bezugswissenschaften Pädagogik, Psychologie, Verstehende Soziologie, Recht, Ökonomik, Politologie, Philosophie und Theologie, sowie weiterer vier Beiträge, die von der Herausgeberin unter „transdiziplinäre Perspektiven“ subsumiert werden:

  1. Die systemisch-konstruktivistische Perspektive
  2. Sozialmedizin und Gesundheitswissenschaften
  3. Rassismustheoretische Perspektiven auf sozialpädagogische Fallarbeit
  4. Sozialarbeitswissenschaftliche Fallarbeit: Zugänge unter Einbeziehung

bezugswissenschaftlichen Wissens.

Mit der Auswahl der Bezugswissenschaften verbindet sich ein Funktionsverständnis, dass die herangezogenen Theorieperspektiven als Wissensspeicher zur Klärung von Einzelaspekten sozialarbeiterischer Praxis betrachtet und nutzt.

Inhalt

Sämtliche im Band vorgestellten Perspektiven sind auf einen vorangestellten Fallbericht aus sozialarbeiterischer Praxis bezogen. Er befasst sich mit der prekären Lebenslage einer Familie und setzt sich zusammen aus einer knappen Zusammenfassung von Beobachtungen, Berichten und Dokumentationen zuständiger SozialarbeiterInnen. Die AutorInnen haben die Aufgabe, ihre je eigene Erkenntnisperspektive und ihre konstitutiven Wissensbestände zur Fallanalyse zu nutzen und auf dieser Basis anwendungsbezogene Lösungsansätze anzubieten. Darüber hinaus soll es ihnen modellhaft gelingen, ihre je eigene Disziplin in Relation zur Professionalität praktisch tätiger SozialarbeiterInnen „transparent zu machen und zu reflektieren“ (Lorenz, S. 78)

Barbara Schäuble: Was ist möglich? Eine pädagogische Perspektive auf beengende Verhältnisse und persönliche Entwicklungsmöglichkeiten. Die Autorin dekonstruiert zunächst die vorliegende sprachliche Falldarstellung, um sie als „narratives Konstrukt“ zu beleuchten. Sodann analysiert und rekonstruiert sie den Fall, anhand von Konzepten der Lebenssituation, orientiert an neueren, bio-psycho-sozial dimensionierten Sozialisations-, Entwicklungs- und Persönlichkeitstheorien. Ihre pädagogische Perspektive konzentriert sich subjektorientiert, unter Verwendung persönlichkeitstheoretischer Konzepte, auf die Herstellung von Bewältigungs-, Bildungs- und Entwicklungsprozessen im Kontext der Hilfeplanung. Es ist eine Pädagogik des Möglichen, die hier von der Autorin vertreten wird, immer unter Berücksichtigung der Bedingungen alltäglicher Lebensführung. Sie zielt darauf ab, „die Möglichkeiten der Klientel zu erweitern, sie in eine erreichbare Zukunft hinein zu begleiten und zu fördern“ (S. 23).

Irmgard Teske: Psychologie als Bezugswissenschaft der Sozialen Arbeit. Die Autorin betont die grundlegende Bedeutung, die der Vermittlung unentbehrlicher, psychologischer Wissensbestände in der Ausbildung von SozialarbeiterInnen zukommt. Sie verweist

  • auf lange Wissenschaftstraditionen der Psychologie in der Beschreibung und Erklärung menschlichen Erlebens und Verhaltens,
  • auf den Betrachtungsgegenstand der Psychologie, der intra- und interpersonale Prozesse umfasst, und das wiederum aus einer Vielzahl unterschiedlicher, wie z.B. neurophysiologischer, behavioraler, psychodynamischer, Sichtweisen,
  • auf den Beitrag der Psychologie zu Basisstrategien der Verhaltensdiagnostik und Verhaltensmodifikation, zur methodischen Strukturierung eines diagnostischen Beurteilungsprozesses.

Darüber hinaus weist sie hin auf die besonders weiterführenden Konzepte einer kontextorientierten Gemeindepsychologie wie z.B. Empowerment, Partizipation, Soziale Netzwerke und die damit verbundenen psychologischen Deutungsmuster, die zur Fallanalyse herangezogen werden können.

Lutz Finkeldey: Konflikt als zerfasertes Konkretes – eine verstehenssoziologische Näherung. Der Autor wendet sich dem Fall zunächst in der Form einer „erfahrungsbezogenen Rekonstruktion“ zu (S. 64). Dabei greift er auf interpretative Bruchstücke unterschiedlicher Theorien und Konzepte zurück, die in ihrer Auswahl allerdings nicht begründet erscheinen. Er spricht z.B. von „ambivalenten Innenwelten“ der Fallprotagonisten, von der „Überkompensation kulturell vorhandener Muster“, von „internalisierten Gefühlen der Hilflosigkeit“, d.h. Begrifflichkeiten, die nicht zwingend mit Traditionslinien verstehender Soziologie in Verbindung gebracht werden. Sodann desavouiert er die eigene erfahrungsbezogene Beschreibung mit dem Hinweis auf die darin enthaltenen personalen und methodischen „Fallstricke“, in denen sich die über den Fall urteilenden Fachkräfte verheddern können, wenn sie ihre eigenen Urteile nicht als kulturell bedingte, oft projektive Einschätzungen kritisch zu hinterfragen lernen. Eher im Sinne einer verstehenden Soziologie verweist der Autor auf die äußerst differenten, oft inkompatiblen Logiken der beteiligten Akteure im Fallbeispiel, die es zu verstehen gelte, die aber auch im Hinblick auf ihre Herrschafts- und Machtfunktionen kritisch befragt werden müssen. Vor dem Hintergrund, dass der Herausgeberband für sich in Anspruch nimmt, ein Lehrbuch für bezugswissenschaftliche Perspektiven (hier verstehende Soziologie) zu sein, so fehlen in diesem Beitrag systematische Bezüge zu und verweisende Belege auf die Traditionslinien verstehender Soziologie/Wissenssoziologie. So kommt der Aufsatz in den theoretischen Bezügen aus der Sicht des Rezensenten etwas verwirrend daher und liest sich in weiten Teilen mehr als Ratgeberliteratur, denn als soziologisch fundierte Analyse zum Fallverstehen.

Annegret Lorenz: Recht und Recht(e) haben. Ein methodischer Zugang zum Fall aus juristischer Perspektive. Mit großer Klarheit entwickelt die Autorin die Wahrnehmung des Falles durch die juristische Brille, die am Fall nur insofern interessiert ist, als er oder seine Komponenten justiziabel sind, um die Rechtslage zu klären. Und auch der gesamte Lebenssachverhalt, der alles umfasst, was eine geisteswissenschaftliche Hermeneutik zu ihrem Gegenstand machen könnte, interessiert hier nur, insofern eine Rechtsnorm auf den konkreten Lebenssachverhalt anwendbar erscheint. Dies allerdings kann die professionelle Fachkraft nutzen, wie die Autorin in einem präzisen Vorschlag für eine juristische Fallbearbeitung zeigt, wenn sie – die Perspektive einer juristisch informierten Sozialarbeiterin einnehmend – systematisch die im Fall enthaltenen Rechtsansprüche klärt, wobei die im Beispielfall zum Tragen kommenden „unbestimmten Rechtsbegriffe“ der Jugendhilfe zumindest Spielräume für Interpretationen bieten.

Gisela Kubon-Gilke: Zugang zum Fall: Ökonomik. Ökonomische Modelle und Erklärungen für Partizipationshemmnisse. Die Grenzen ihres disziplinären Zugangs zum Fall benennt die Autorin gleich einleitend: Der Ökonomik fehle ein spezielles Menschenbild und sie verfüge nicht über eine grundlegende Psychologie, um in der Lage zu sein, konkrete Fragen zum Fall, zu familiären Konflikten und zu familialer Gewalt zu beantworten. In knappen und präzise formulierten Kapiteln akzentuiert die Autorin ökonomische Modelle in Bezug auf: Grenzen der wettbewerblichen Steuerung, Ungleichheit, Diskriminierung und sozialen Ausschluss. Sie entwickelt und verdeutlicht Strukturen gesellschaftlich produzierter Ungleichheit und Unterversorgung und setzt so den vorliegenden sozialarbeiterischen Fall in den Zusammenhang einer kritischen ökonomischen Analyse gegenwärtiger Sozialpolitik und ihrer Steuerungsinstrumente

Günter Rieger: Politologie/Politikwissenschaft und methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. Soziale Arbeit, so stellt der Autor fest, findet statt in einem durch und durch politisch gestalteten Umfeld. Sie zeige sich als angewandte Sozialpolitik, als sozialpolitisches Handeln, in ihrem Bezug zur kommunalen Jugendhilfepolitik. Und selbst wenn politikwissenschaftliches Wissen zur konkreten Hilfe im Fall nicht viel beitragen könne, so liefere es doch wesentliche Beiträge zur Orientierung und kritischen Reflektion professionellen Handelns. Von daher erscheinen ihm politikwissenschaftliche Wissensbestände als unverzichtbarer Teil Sozialer Arbeit.

Thomas Schumacher: Philosophische Impulse für ein professionelles Sozialarbeitswissen. Der Autor vertritt hier die älteste der verhandelten Bezugswissenschaften mit bekanntlich komplexen Traditionslinien. Er kann deshalb auch einleitend feststellen, dass der Bezug zur Sozialarbeit nicht einem sozialarbeiterischem Interesse der Philosophie entspringe, sondern eher einem Interesse Sozialer Arbeit an der Philosophie. Deren Anknüpfungspunkte an philosophische Fragestellungen sind allerdings zahlreich und für das sozialarbeiterische Selbstverständnis fundamental: Der Autor diskutiert neben den gegenwärtig aktuellen Verbindungslinien (Alltags-und Lebensweltorientierungen, Konstruktivismus- und Hermeneutikkonzepte) eine ganze Reihe weiterer starker Impulse aus der Philosophie. Deren Beiträge zum fachlichen Selbstverständnis der Sozialen Arbeit reichen (wie der Autor verdeutlicht) von der philosophischen Ethik über Fragen eines der Sozialen Arbeit zugrunde liegenden Menschenbildes bis hin zu Fragen nach Sinn und Verständnis von Sprache und sprachlicher Abbildung sozialer Fakten.

Andrea Tafferner: „Kein Mensch weiß, wie er wirklich ist.“ Der Zugang zum „Fall“ aus Theologischer Sicht. Die Autorin sieht die Aufgabe der Theologie in der Sozialen Arbeit darin, auf die Dimension der Transzendenz, „des Formlosen in der Form“, aufmerksam zu machen und sie für die Praxis zu erschließen. Sie diskutiert zentrale Grundannahmen christlicher Theologie ebenso wie weitere spirituelle Grundhaltungen, die auch an buddhistische Traditionen anknüpfen.

Dagmar Hosemann: Die Systemisch-Konstruktivistische Perspektive. Dieser wissenschaftstheoretische Beitrag hat im Band eine besondere Funktion insofern er die wissenschaftstheoretische Argumentation entfaltet, die „Main Theory“, auf die sich auch die Herausgeberin, als Repräsentantin einer sozialarbeitswissenschaftlichen Perspektive, in ihrem eigenen Beitrag stützt. Die Autorin gibt einen knappen Überblick über Ursprünge und Kernaussagen des wahrnehmungs- und erkenntnistheoretisch fundierten konstruktivistischen Ansatzes, den sie erfreulich weit fasst als „[…] die Gesamtheit der Konzepte, die sich erkenntnistheoretisch mit dem Wie des Erkennens beschäftigen und ihre Aufmerksamkeit auf die aktive Rolle des Erkennenden im Erkenntnisprozess lenken.“ (S. 177). Das von ihr systemisch-konstruktivistisch entworfene Menschenbild orientiert sich eher an der zwar kontextualisierenden aber dürren Begrifflichkeit von Neurosciences und moderner Kommunikations- und Informationstheorie als an Konzepten von Persönlichkeit und Identität. In knappen Abschnitten entwickelt die Autorin eine Reihe von Wahrnehmungskriterien Sozialer Arbeit, verstanden als „praktizierter Konstruktivismus“, bzw. als „konstruktivistische Praxis“. Abschließend bietet sie eine ausführlichere Fallinterpretation auf der Basis der vorliegenden Fallbeschreibung. Diese wird einer kritischen Dekonstruktion unterzogen und erweiterte Handlungsoptionen im Fall werden diskutiert.

Angela Gosch: Sozialmedizin und Gesundheitswissenschaften. Die Autorin verknüpft Teilgebiete der Medizin, die nach dem Einfluss sozialer Faktoren auf die Wechselwirkungen von Gesundheit und Krankheit fragen, mit den Ergebnissen biopsychosozialer Gesundheitswissenschaften. Modelle zu Risiken- und Schutzfaktoren, zur Salutogenese werden auf den Fall ebenso bezogen, wie Modelle internationaler Klassifikationsdiagnostik. Handlungsansätze zum Fall werden aus diesen Perspektiven heraus diskutiert.

Brigitta Michel-Schwartze: Sozialarbeitswissenschaftliche Fallarbeit: Zugänge unter Einbeziehung bezugswissenschaftlichen Wissens. Die Autorin sieht die Disziplin Soziale Arbeit unter Bezug auf Staub-Bernasconi als transdisziplinäre Handlungswissenschaft mit eigenem Gegenstandsbereich (vergl. S. 3), und als „autopoietisches System“, das „[…] den Theorietransfer aus benachbarten Basisdisziplinen selbstreferenziell vornimmt“ (S. 243). Die systemtheoretisch-konstruktivistische Codierung sozialarbeiterischer Praxis durch eine entsprechende, systemisch-funktional orientierte, versachlichende Fachsprache wird als grundsätzliche systemische Arbeitsorientierung, neben Lebenswelt- und Ressourcenorientierung, konsequent durchgehalten. Unter Bezug auf Ergebnisse interdisziplinärer Wahrnehmungs- und Kommunikationstheorien analysiert die Autorin Konstruktionsprozesse Sozialer Probleme durch SozialarbeiterInnen. Der analytische Blick führt diese dabei von der wahrnehmenden Beobachtung, über Aushandlungsprozesse mit unterschiedlich wirkmächtigen Definitoren, bis hin zum verfestigten Urteil in einem aus ihrer Sicht häufig anzutreffenden defizitorientierten professionellen Bildes, in dem „[…] Menschen als Dilettanten des eigenen Lebens betrachtet werden“ (S. 247). Dagegen setzt die Autorin auf ein ressourcenorientiertes Klientenbild, in scharfer Abgrenzung zu einer von ihr ausgemachten Defizitorientierung, die: „die Klientel zu unmündigen, imperfekten Hilfebedürftigen [stilisiert] und [.] ihnen einen inferioren Status zu[weist], während die ergänzende Orientierung an Ressourcen der Klientel auch den Stellenwert eines autonomen Systems zutraut […]“ (S. 257). Ausgehend von einem Vier Ebenen Modell des diagnostischen Prozesses in der Sozialarbeit entfaltet die Autorin ein methodisch angeleitetes Konzept von Fallarbeit als ineinandergreifende, parallel existierende und zu bearbeitende Arbeitsebenen, die sie am Fall in systemisch funktionaler Perspektive durchspielt. Um den speziellen Wissensbedarf zu decken, den Professionelle in der Sozialen Arbeit zur Erstellung einer Diagnose benötigen, verweist die Autorin auf die Wissensbestände der Bezugswissenschaften.

Iman Attia: Rassismustheoretische Perspektiven auf sozialpädagogische Fallarbeit. Die Autorin sieht Sozialarbeit grundsätzlich verstrickt in Dispositive der Macht, ebenso wie auch ihre Adressaten. Es ist eine Macht, die sich in gesellschaftlichen Machtverhältnissen offenbart, strukturiert durch die „Interrelation von Rasse, Ethnizität, Kultur, Religion, Klasse, Bildung, Geschlecht, Sexualität, Beeinträchtigung und Alter“ (S. 229). Die fast selbstverständliche, alltäglich beiläufige Verwobenheit professionellen Handelns in diese, auf allen Ebenen sozialen Handelns wirksamen Machtverhältnisse, zeige sich auch in der vorliegenden, rassistisch verstrickten Falldarstellung. Die Autorin unterzieht sie zunächst einer dekonstruierenden rassismustheoretischen Analyse (als Fall erster Ordnung) und bietet dann eine zweite Lesart des Falls, verstanden als Fall zweiter Ordnung, d.h. bereinigt um seine rassistisch konnotierten Komponenten. Ansatzpunkte und Potenziale für eine „rassismustheoretisch informierte“ Soziale Arbeit sieht sie in Konzepten und Modellen von Empowerment und sozialer Netzwerkarbeit, vor allem aber in einer grundsätzlichen Sozialraumorientierung Sozialer Arbeit, in Abgrenzung zu einer individualisierenden Pädagogisierung/Therapeutisierung von Problemlagen.

Diskussion und Fazit

Die Herausgeberin hat mit ihrem Band eine zur Diskussion anregende Zusammenstellung von Beiträgen vorgelegt, die die fallbezogene Beziehung zwischen bezugswissenschaftlichen Perspektiven und einer Fachwissenschaft Soziale Arbeit thematisiert. Es ist eine Fachdiskussion, die sich insbesondere durch die Rezeption kognitionswissenschaftlicher Theoriebestände fundiert und den Menschen als informationsverarbeitendes, biopsychosoziales System perspektiviert. Die erkenntnisleitende, an Informationen und Informationsverarbeitung im Kommunikationsprozess ausgerichtete systemisch-konstruktivistische Perspektive der Herausgeberin auf den Sozialarbeitsprozess gewinnt ihre Legitimität allein aus ihrer begrifflichen Erklärungskraft. Sie erscheint dabei generell anschlussfähig an die Theoriebestände der von ihr herangezogenen Bezugswissenschaften, die sich ihrerseits ja auch systemisch modernisiert haben.

Gegenüber ihrer axiomatischen Setzung der allgemeinen Systemtheorie als „Meta Theorie“, zur Fundierung sozialarbeiterischer Professionalität wäre jedoch, in aller Kürze, einzuwenden:

Die Erkenntnis, dass Realität nichts Objektives ist, in der „Welt da draußen“, sondern von sozialen Akteuren prozesshaft und perspektivisch hergestellt, ist bereits im Erkenntnismodell des pragmatistischen Interaktionismus (Blumer, Berger/Luckmann) enthalten. Allerdings erhält diese Wirklichkeit dann den Status des „Sozial Objektiven“ durch die lebenslange Abstimmung der handelnden Akteure mit Anderen durch den Austausch signifikanter Symbole. Diese Traditionslinien einer Sozialarbeitstheorie erscheinen in dem Herausgeberband geradezu ausgeklammert und werden seltsamerweise auch nicht von der Perspektive verstehender Soziologie in diesem Band vertreten.

Die Autorin konzentriert sich in der Darstellung ihrer eigenen Fallarbeitsperspektive ganz auf die fallgenerierenden Funktionen professioneller diagnostischer Prozesse. Diese sind bezogen auf kontextualisierende Systemgrößen wie Lebenslagen, Lebenssituation, Familie mit ihren jeweiligen Strukturen. Diagnostisch zu nutzende Konzepte von Intersubjektivität, von Korrespondenz und Beziehung zwischen SozialarbeiterIn und Klientel, aber auch von Persönlichkeit und Identität tauchen in diesem Zugang zur Klientel nicht auf bzw. werden in die Zuständigkeit der Bezugswisssenschaften (besonders Psychologie und Pädagogik) verlegt.

Die Auswahl der im Band vorgestellten disziplinären und transdisziplinären Perspektiven verdeutlicht einerseits eindrucksvoll die Multidimensionalität sozialer Problemlagen. Andererseits fällt auf, dass Konzepte mit disziplinärem Anspruch wie etwa der Kindheits- und Biografieforschung, der Kinder-und Jugendpsychiatrie bzw. Ansätze aus tiefenhermeneutischen oder therapietheoretischen Diskursen kaum verhandelt werden.

Dem/der wissenschaftlich Interessierten zeigt sich die explikatorisch-ordnende Kraft aber auch die Grenze des systemisch-konstruktiven Ansatzes als „Main Theory“ in der sozialarbeiterischen Fallanalyse. Es bleibt der Eindruck, dass es hier dem/der praktisch arbeitenden SozialarbeiterIn überlassen bleibt, die vielfältigen Anregungen der bezugswissenschaftlichen Diskurse „zusammenzudenken“ und in einer beständigen „Übersetzungsarbeit“ in die Bewältigung praktischer Problemlagen zu integrieren.

Zielgruppe dieser Veröffentlichung wären eher fortgeschrittene, bzw. wissenschaftstheoretisch interessierte Studierende sowie Lehrende der Sozialen Arbeit. Ihnen gibt sie exemplarische Einblicke in das Selbstverständnis von Bezugswissenschaften im Hinblick auf ihre spezielle Bedeutung für die fallbezogene Soziale Arbeit.

Rezension von
Prof. Dr. Werner Schreiber
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Es gibt 4 Rezensionen von Werner Schreiber.

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Zitiervorschlag
Werner Schreiber. Rezension vom 26.04.2019 zu: Brigitta Michel-Schwartze (Hrsg.): Der Zugang zum Fall. Beobachtungen, Deutungen, Interventionsansätze. Springer VS (Wiesbaden) 2016. ISBN 978-3-658-10969-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22205.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.


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