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Frank Fischer: Irrenhäuser. Kranke klagen an

Rezensiert von Dr. Alexander Brandenburg, 16.02.2017

Cover Frank Fischer: Irrenhäuser. Kranke klagen an ISBN 978-3-88414-671-2

Frank Fischer: Irrenhäuser. Kranke klagen an. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2016. 191 Seiten. ISBN 978-3-88414-671-2. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR.

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Widmung

Matthias Krisor zur Erinnerung.

Bei der Lektüre dieses Buches ist mir klargeworden, wie wegweisend der leider viel zu früh verstorbene Chefarzt der Herner psychiatrischen Klinik, Matthias Krisor, eine offene und gewaltfreie Psychiatrie als Gegenentwurf zur Anstaltspsychiatrie konzipiert und über Jahrzehnte für die Herner Bürger umgesetzt hat. Seine permanente Diskussion über Formen und Wege zur Vermeidung von Gewalt gegenüber psychisch kranken Menschen ist noch heute ein Vorbild. Als Psychiatrie-Koordinator in Herne (1978-2012) hatte ich das Glück, mit diesem umsichtigen Gemeindepsychiater von Anfang an gemeinsam an diesem Projekt einer gewaltfreien und humanen Psychiatrie arbeiten zu können.

Thema und Entstehungshintergrund

In einer aus der Psychiatrischen und Neurologischen Klinik der Universität Heidelberg stammenden „Denkschrift“ aus dem Jahre 1965 wird „die derzeitige psychiatrische Krankenversorgung in der Bundesrepublik“ als „nationaler Notstand“ konstatiert: „Es besteht vor allem ein katastrophaler Mangel an modernen Behandlungseinrichtungen, insbesondere an sozialpsychiatrischen Zentren, die mittlerweile zu Schwerpunkten der psychiatrischen Behandlung in den meisten Kulturländern geworden sind. Er zwingt zu der Feststellung, dass hierzulande zwar dem körperlich Kranken alle von der medizinischen Wissenschaft erarbeiteten Behandlungsmöglichkeiten angeboten werden, dem seelisch Kranken aber weithin eine Therapie nach modernen Grundsätzen versagt bleibt.“

Weiter heißt es: „Die psychiatrischen Landeskrankenhäuser sind durchwegs zu groß (die meisten über 1.000 Betten, einige über 3.000 Betten), die meisten sind zu abgelegen von den Wohn- und Arbeitsgebieten ihrer Kranken und nach ihrer inneren Organisation vorwiegend auf Bewahrung und nicht auf eine intensive Rehabilitation eingestellt, wenn auch mancherorts große Anstrengungen zu einer Modernisierung und Intensivierung der Therapie unternommen werden.“

1966 gibt es dann eine Tagung des „Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge“ mit dem Thema: „Die Verantwortung der Gesellschaft für ihre psychisch Kranken“. Prof. Walter Ritter von Baeyer, der schon an der „Denkschrift“ mitgearbeitet hatte, wies in seinem einleitenden Vortrag u. a. auf die Gründe der Vernachlässigung der Versorgung psychisch Kranker hin: „Wir leiden immer noch unter den Nachwirkungen, zumindest unter den Versäumnissen, die eine bis zur ‚Vernichtung lebensunwerten Lebens‘ gehende Praxis der schmählichen, unmenschlichen Missachtung psychisch Kranker und geistig Behinderter hinterlassen hat. Nach 1933 wurden zahlreiche Psychiater zur Emigration gezwungen, psychotherapeutische Ausbildungsstätten geschlossen oder lahmgelegt.“ Es gab also Mitte der 60er Jahre eine Einsicht der psychiatrischen Fachwelt in die Notwendigkeit einer Beseitigung aller inhumanen Zustände in der psychiatrischen Versorgung und ihrer grundsätzlichen Erneuerung.

Das vorliegende Buch über die „Irrenhäuser“, das 1969 erschien, hat seine Bedeutung daher vor allem darin, dass es die Inhumanität der psychiatrischen Zustände in den Versorgungsanstalten einem öffentlichen Publikum nahegebracht hat. Damit und mit den sich anschließenden Diskussionen wurde die Öffentlichkeit für die Umsetzung der Psychiatrie-Reformen der kommenden zwei Jahrzehnte (Psychiatrie-Enquete 1971-1975/ Modellprogramm Psychiatrie 1980-1985/ Empfehlungen der Expertenkommission1988) vorbereitet und sensibilisiert.

Autor

Unter dem Titel „Irrenhäuser“ und dem Untertitel „Kranke klagen an“ fordert Frank Fischer 1969 die Öffentlichkeit und die Politik auf, mit der elenden Lage und der zum Himmel schreienden Versorgungssituation der insgesamt 100 000 Kranken in den psychiatrischen Anstalten ein Ende zu machen. Seine durchschlagende Wirkung konnte das Buch auch deshalb entfalten, weil ihm Erfahrungen und Beobachtungen des Autors zugrunde lagen, die er über siebeneinhalb Monate als Hilfspfleger in fünf verschiedenen deutschen Anstalten und für sieben Wochen als Besucher und Beobachter auch in zwei englischen Kliniken und einer österreichischen Psychiatrie machen konnte, und es somit kein reines Schreibtisch-Produkt war.

Allerdings kann nur der gut beobachten, der weiß, um was es geht: Frank Fischer hatte sich vor seinem Feldversuch in zahlreichen Gesprächen mit Klinik- und Anstaltspsychiatern, durch intensive Lektüre der Fachliteratur und aufgrund mehrerer Anstaltsführungen schon ein psychiatrisches Grundverständnis erarbeitet; seine ausdrücklich im Buch benannten Bezugspersonen für eine humane Psychiatrie sind der Wiener Psychiater H. Strotzka, der amerikanische Soziologe Erving Goffman und die deutschen Professoren und fortschrittlichen Kliniker H. Häfner, K. P. Kisker und C. Kulenkampff.

In der „ZEIT“ hatte Frank Fischer schon 1967 eine Zwischenbilanz seines Denkens über die psychiatrische Versorgung veröffentlicht, die auf große Resonanz bei den Lesern getroffen war (Zeit 3 (1967) 42: Im Wartesaal ohne Hoffnung und Zeit 4 (1967) 42: Von der Umwelt abgelehnt…). Aufgrund vieler Zuschriften wurde er motiviert, das Leben in der Anstalt doch persönlich zu erforschen, um so aus erster Hand Kenntnisse von den scheinbar unbedeutenden Kleinigkeiten des Psychiatrie-Alltags zu erhalten.

Sein Vorgehen, sich als Hilfspfleger in den Anstalten anstellen zu lassen und auf diese Weise in direktem Kontakt mit den Kranken zu kommen und eine Möglichkeit intensiver Beobachtung zu erhalten, lässt durchaus an Formen der teilnehmenden Beobachtung eines Soziologen oder an die freie Feldforschung eines Ethnologen denken. Intuition, Sensibilität, Phantasie und eine klare Sprache tun ihr Übriges.

Frank Fischer wird mit seinem Buch Dolmetscher und Zeuge der Anstalt und Fürsprecher der Patienten.

Aufbau und Inhalt

Der Autor beschreibt das deutsche Anstaltssystem, indem er alle seine in den verschiedenen Anstalten als Hilfspfleger gemachten Erfahrungen und Beobachtungen so zusammenträgt, als wären sie in einer einzigen Anstalt gemacht worden. Es geht ihm bei dieser Darstellungsart darum, das System der Anstalt in seiner Unmenschlichkeit sichtbar zu machen. Nicht die einzelnen Missstände sind der Skandal, sondern das Anstaltssystem selbst, das ja alle diese Missstände prinzipiell an jedem Ort produzieren kann.

Im Anschluss an Erving Goffman bezeichnet der Autor die Anstalt als eine totale Institution. Solche Institutionen sind Aufenthalts-und Arbeitsorte, an denen eine größere Zahl von Personen in gleicher Situation, von der Gesellschaft für eine beträchtliche Zeit abgeschnitten, miteinander ein eingeschlossenes, formal verwaltetes Leben führt- so heißt es im Text. Klöster, Gefängnisse, Arbeitslager oder Kasernen sind ebenfalls totale Institutionen und können mit der psychiatrischen Anstalt verglichen werden. Alle diese Institutionen wollen den Charakter von Menschen bis hin zur Zerstörung jeder Individualität verändern.

Die Gesellschaft erwartet von den Heil- und Pflegeanstalten vornehmlich auch keine therapeutischen Erfolge, sondern einzig und allein Sicherheit. „Gefährdung der Umwelt“ und „Selbstgefährdung“ sind die einzigen Kriterien, die zur unfreiwilligen Einweisung in die Anstalt führen können. Das Anstaltssystem kommt mit diesem Sicherheitsverlangen überein und findet darin seine Rechtfertigung.

In zumeist grüner Umgebung verwirklicht die Anstalt ein Regelwerk, das vom Autor als eine einzige Kette von Demütigungen und Entwürdigungen beschrieben wird. Der Einzelne wird zur völligen Kapitulation gezwungen.

Statt einer Einführung wird der Leser sofort mit einem Tagesablauf des Versicherungsangestellten Gäbler auf einer Männer-Aufnahmestation konfrontiert. Stichworte der Beschreibung:

  • Zwölf Wochen in einem Raum eingesperrt
  • Tagsüber in einem Wartesaal mit 55 Personen
  • Herumsitzen und Leerlauf
  • Rasseln des Schlüsselbundes des Pflegers
  • Pillen als einzige Therapie
  • Onanie auf der Toilette
  • Rauchen und Essen als Lebensinhalt
  • Fixierung mit Lederriemen im Isolierzimmer

Es folgen aufrüttelnde Kapitel, in denen das Anstaltsleben mit seinen vielfältigen Formen der Unterdrückung und Inhumanität und seinen menschenverachtenden Strukturen und Abläufen eindrücklich beschrieben wird: Eine Überschrift heißt: „Lieber im Gefängnis als in der Anstalt“, eine andere lautet: „Küchenbosse, Kalfaktoren und Kapos“ und führt den Untertitel: „Wer sich in der Anstalt behaupten will, muss ‚Karriere‘ machen“. Weitere bezeichnende Überschriften: „Die sogenannte Arbeits- und Soziotherapie“. Wer dann noch ausharrt, kann etwas über die Folgen des sogenannten Hospitalismus, einer verstärkenden Überlagerung der ursprünglichen psychischen Erkrankung, und über den Zwang zur Anpassung und das Hineinwachsen in die Rolle des funktionierenden Anstaltsinsassen erfahren. Das Kapitel über die Alterskranken und die Alterssiechenstation veranlasst den Autor wegen der erlebten Brutalität, eine Nähe zum KZ zu konstruieren.

Würde und Ehre gehören zu jeder menschlichen Existenz und sind für jeden so wichtig wie das Atmen. Das Anstaltssystem richtet sein Hauptaugenmerk darauf, Ehre und Würde des Menschen anzugreifen und zu zerstören. Die Persönlichkeit des Kranken wird zu einer Sache und zur Rechtlosigkeit transformiert. „Kranke werden Insassen, werden Gegenstände, werden Nummern“, schreibt der Autor. Schauen wir jetzt einmal an ausgewählten Beispielen auf die Art und Weise, wie dieses Zerstörungswerk durch Rituale und Zustände der Degradierung gezielt vollzogen wird:

  • durch die obligatorische Säuberung durch ein Bad bei der Aufnahme
  • durch das Wiegen mit neuem Anstaltshemd
  • durch die Zeremonie der Ankleidung („Unterhemden führen wir keine.“)
  • durch starke Medikamentendosis
  • durch die Schlüssel- und Aufsichtsgewalt der Pfleger
  • durch die „Viehzählung“ beim Ausgang und Eingang zum Nachmittag im Freien
  • durch Anstaltsärzte mit ihrem Mittel der Wahl: der Reserpin-Kur und dem Elektro-Schock
  • durch Einschränkung des Bewegungsraumes
  • durch Isolierzimmer
  • durch einen trostlosen eintönigen Alltag und durch erzwungene Untätigkeit
  • durch die allgemein herrschende Verwahrlosung
  • durch Fixierungen ans Bett
  • durch Entzug des persönlichen Eigentums bei der Aufnahme
  • durch schmuddelig-schmierige, kotbekleckste Toiletten
  • durch Brutalität und Grausamkeit im Umgang mit den Kranken
  • durch Postzensur
  • durch Verhalten von Pflegern und Ärzten (Visite)
  • durch die Anstaltsatmosphäre
  • durch fehlende Kontakte zur Außenwelt

Jeder Leser wird diese Liste der Entpersönlichung des Kranken nach der Lektüre leicht noch ergänzen können.

Doch der Autor bleibt bei seinen deprimierenden Befunden über das deutsche Anstaltswesen nicht stehen, sondern setzt auch den Vergleich als Methode der Erkenntnisgewinnung ein. Am Beispiel zweier von ihm besuchter englischer Anstalten zeigt er, dass es durchaus möglich ist, in diesen großen und abgelegenen Anstalten psychisch Kranken humane Lebensbedingungen bei intensiver Therapie zu bieten.

Diskussion

Für den Leser ist es vorteilhaft, dass die von Caspar Kulenkampff, dem leidenschaftlichen Verfechter einer Psychiatrie-Reform, unter dem Titel „Wie schlecht ist die Krankenhauspsychiatrie in diesem Lande?“ (Der Nervenarzt, 41. Jg., Heft 3, 1970, S. 150-152) veröffentlichte Besprechung des Buches von Frank Fischer dem Reprint beigefügt wurde. Sie hilft dabei, das Gelesene zu verstehen und in eine Gesamtsicht einzuordnen. Die kritischen Anmerkungen von Kulenkampff wollen dabei keineswegs beruhigen oder gar Missstände kaschieren. Seine aufgeworfene Frage nach dem Stand der Krankenhauspsychiatrie beantwortet er wie folgt: „Ich denke, die pauschale Qualität der Krankenhauspsychiatrie als einer bedeutenden öffentlichen Einrichtung wird an den schlechtesten Teilen des Ganzen gemessen- nicht viel anders wie die Festigkeit der Kette, deren Wert vom schwächsten Glied abhängig ist. Das mag ein hartes Zensurverfahren sein, aber wo es um Menschen geht, ist das irgend erreichbare Gute, das überhaupt Erreichbare an therapeutischer Effizienz und Humanität eigentlich zugleich das Selbstverständliche oder das selbstverständlich zu Fordernde oder zu Erwartende. Die beste Psychiatrie wird verdorben und unglaubwürdig durch eine einzige Schlangengrube. Da wir keine Ware umschlagen, sondern Kranke behandeln, kann das Schlechte nicht gegen das Gute verrechnet werden. Und solange das Schlechte in diesem Ausmaß dokumentierbar bleibt, legt es sich wie ein Schatten auf das Ganze.“

Kommen wir zum Schluss auf das Vorwort zur Neuausgabe der „Irrenhäuser“ zu sprechen. Heinrich Kunze und Andreas Heinz, beide aus dem Vorstand der Aktion Psychisch Kranke e. V., sprechen davon, dass man die überwundene Vergangenheit nicht dem Vergessen überlassen solle, damit die Gefahr der Rückkehr von menschenunwürdigen Versorgungsformen in anderer Gestalt nicht gefördert würde. Diese Historisierung wird dem Buch nicht gerecht, insofern es immer noch Aktualität und Sprengkraft besitzt. Fixierungen, Zwang, Gewalt, Medikation, Zeit (Kurztherapien), Einsperrung, Reglementierungen für Rauchen und Kaffee, Nicht-Versorgung und Stigmatisierung sind an dieser Stelle nur einige Stichwörter, die auf Herausforderungen der psychiatrischen Gegenwart verweisen.

Fazit

„Irrenhäuser“ sollte jeder an der Psychiatrie Interessierte sorgfältig lesen. Dabei ist der historische Aspekt weniger bedeutsam als die Frage nach den aktuellen Bezügen.

Rezension von
Dr. Alexander Brandenburg
Leiter der Abteilung Gesundheitsförderung und Gesundheitsplanung bei der Stadt Herne
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Es gibt 99 Rezensionen von Alexander Brandenburg.

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ISSN 2190-9245