Melanie Pospischil (Hrsg.): All inclusive? - Studien zu Inklusion und Hörschädigung in Bildung und Freizeit
Rezensiert von ao. Prof. i.R. Dr. Franz Dotter, 13.02.2017

Melanie Pospischil (Hrsg.): All inclusive? - Studien zu Inklusion und Hörschädigung in Bildung und Freizeit. Verlag Dr. Kovač GmbH (Hamburg) 2016. 230 Seiten. ISBN 978-3-8300-9063-2. D: 88,90 EUR, A: 91,40 EUR.
Thema
Das Buch beschäftigt sich mit der Umsetzung der UN-Behindertenkonvention aus der Sicht der Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik der Universität München. Alle Beiträge (außer Kapitel 2) sind Zusammenfassungen von Abschlussarbeiten aus diesem Bereich aus den letzten Jahren.
Aufbau und Inhalt
Im Vorwort (Kapitel 1) stellt die Herausgeberin, Melanie Pospischil, die Ausgangsbasis der Forschung in München so dar: Sie bezeichnet das Postulat der „einen Schule für alle“ als „Eine schöne Idee, die die Erwartung in sich trägt, dass die Bildung für Schüler mit Behinderung an allgemeinen Schulen einen größeren Erfolg erzielt, als die Unterrichtung in speziellen sonderpädagogischen Settings. Die pauschale Annahme, alle in einer Bildungseinrichtung zusammenzuführen, um so Teilhabe und Gleichberechtigung zu garantieren, ist eine blauäugige Rechnung, die letztlich auf Kosten derer geht, die hohen Unterstützungsbedarf haben.
Die Inklusionsdiskussion scheint sich an einer Vielzahl an kontroversen bzw. konträren Erwartungshaltungen aufzuhalten und zu reiben. Solange es keine Einigkeit darüber gibt, wie sich Inklusion definiert, bleibt ihre Realisierung faktisch unmöglich bzw. in Ansätzen stecken.
Weder sind inklusionsfanatische Forderungen, die die Bedürfnisse des Individuums unbeachtet lassen und alle „gleichberechtigt“ über einen Kamm scheren, noch eine Gleichsetzung von Integration und Inklusion hilfreich.
Wesentlich zielführender ist eine gemäßigte Herangehensweise, die keine schulorganisatorischen Veränderungen überstürzt angeht, eine Ist-Standserhebung dessen vornimmt, was bis dato unter Integration verstanden und erreicht wurde sowie Ziele steckt, die eine überdimensionierte Erwartungshaltung vermeiden. (S. 9f)
Kapitel 2 (Melanie Pospischil: „Die Umsetzung der UN-Behindertenkonvention in Thüringen as schulpolitischer Sicht in den Jahren 2010 bis 2016“) gibt die Ergebnisse von Experteninterviews (die 16 Fachreferent_innen für Sonderpädagogik der deutschen Bundesländer) aus dem Jahr 2010 und eines Interviews mit der Thüringer Fachreferentin aus dem Jahr 2016 wieder. Gefragt wurde nach dem Stand der Umsetzung von Integration/Inklusion sowie der Umsetzung der UN-Behindertenkonvention.
Für Thüringen ergibt sich 2016 als Zwischenbilanz: „Inzwischen besuchen aber die Hälfte aller Schüler mit einer Hörschädigung die Regelschulen, so dass das Förderzentrum Hören, v. a. für gebärdensprachlich kommunizierende Schüler, die beste Versorgung darstellt, zumal die Zahl dieser Gruppe fortlaufend abnimmt.“ (S. 23) Die Thüringer Praxis wird durch folgende Stellungnahme der Fachreferentin beleuchtet: “.. dass die individuelle Förderung jedes einzelnen Schülers im Mittelpunkt steht und besonnen nicht sofort ein nein auf extraordinäre Anliegen wie der Kontaktaufnahme zu anderen hörgeschädigten Schülern, die Versorgung mit einem Gebärdensprachdolmetscher oder der zur Verfügungstellung von technischen Hilfsmitteln wie einer Klassenhöranlage lautet.“ (S. 23) Im Einzelnen geht die Autorin dann noch auf die Rollen von Eltern und Lehrer_innen bzw. die Schulen in Thüringen ein.
Kapitel 3 (Lisa Leitner: „Inklusion in der Lehrerbildung – Vergleich der Studiengänge für Hörgeschädigtenpädagogik in Deutschland“) analysiert die Studienordnungen und Modulbeschreibungen der Lehrgänge in Berlin, Hamburg, Heidelberg, Köln und München. Weiters wurden je zwei Studierende aus diesen Studiengängen befragt. Die Fragen betrafen die Inklusion als Begriff, ihre schulische Umsetzung, die Aufgaben von „Hörgeschädigtenpädagog_innen“, sowie die entsprechende Ausbildung. Die Ergebnisse: Die Studiengangsstruktur wurde bisher nur in Hamburg deutlich in Richtung Inklusion geändert, in den anderen gibt es zumindest mehr fächerübergreifende Angebote. „Wissen, Fähigkeiten, Einstellungen und Kritik der Studierenden erweisen sich trotz der geschilderten Unterschiede als auffallend ähnlich.“ (S. 57) Alle Studierenden fordern u.a. mehr Praxis. Die Autorin ortet für alle Studiengänge weiteren Handlungsbedarf.
Kapitel 4 („Inklusion in der Schulpraxis“) besteht aus 6 Arbeiten:
- Catharina Knopp („Veränderungen in der bayerischen Schullandschaft vier Jahre nach der Ratifizierung der UN-Konvention“) beschreibt die Situation unmittelbar vor der Ratifizierung (2008) bis zum Schuljahr 2013/14. Statistisch gesehen, hat in diesem Zeitraum die Zahl der inklusiv beschulten hörbehinderten Kinder in Deutschland um 6,3, in Bayern um 8,4% zugenommen. An einem Fallbeispiel zweier Kinder in Schwaben mit Gebärdensprache als Muttersprache werden die Möglichkeiten der Inklusion ausgelotet. Die Autorin diskutiert „Handlungsimpulse“, ohne deren Verwirklichung die inklusive Praxis nicht gelingen kann: „Zu den Motiven befragter Schüler, die von einer allgemeinen Schule an ein Förderzentrum Förderschwerpunkt Hören wechselten, zählten unzureichendes Sprachverstehen, die psychisch-emotionale Befindlichkeit und das ungünstige Verhältnis zu den Mitschülern.“ (S. 84) Im Ausblick meint die Autorin: „Die Bildungspolitik könnte sich im Zuge der Inklusionsdebatte dem Vorwurf ausgesetzt sehen, das neue Gedankengut der BRK [UN-Behindertenrechtskonvention; F.D.] abzuschwächen, umzuschreiben und so auszulegen, dass es einfach und kostengünstig umgesetzt werden kann.“ (S. 85)
- Alice Lindholz („Wieviel Engagement braucht Inklusion? Die Bedeutung einer positiven Grundeinstellung an inklusiven Schulen mit hörgeschädigten Schülern“) berichtet über die Befragung von 9 Lehrer_innen von drei Schulen über ihre persönlichen Einstellungen zur Inklusion. Die Schulleiter_innen haben durchaus positive Einstellungen zur Inklusion. „Allerdings wird ersichtlich, dass Inklusion als professionell umgesetztes Konzept an einer Schule.. als ein wesentlicher, ein „enormer“ Mehraufwand empfunden wird. Die Resignation den übergeordneten Stellen.. gegenüber geht aus allen Interviews hervor.“ (S. 96) Weitere Ergebnisse: Die Lehrer_innen neigen einerseits dazu, die hörbehinderten Schüler_innen im Unterricht zu „vergessen“ (auch die Inbetriebnahme einer Höranlage), wenn keine sichtbaren Probleme auftreten, andererseits zeigt sich vermehrt eine positive Einstellung zu Teamarbeit und Beratung. Allgemein wird Zeitmangel als großes Problem gesehen.
- Cornelia Wilhelm („Konsequenzen des Bildungsartikels 24 für die Arbeit der Mobilen Sonderpädagogischen Dienste in den Bundesländern Bayern und Niedersachsen im Vergleich“) beschäftigt sich mit dem Verhältnis der Mobilen Dienste zu Eltern und Lehrer_innen. Dazu wurden qualitative Interviews geführt. In Niedersachsen sind sinnesbehinderte Schüler_innen derzeit von Inklusion ausgeschlossen; zusätzlich müssen „Kinder mit einer Behinderung.. zunächst zwei Jahre eine allgemeinbildende Schule besuchen, ohne dass ein Förderbedarf festgestellt werden darf.“ (S. 116) Die Autorin zitiert die Forderung der „deutschen schwerhörigen Jugend und auch der Mobilen Dienste, wonach gerade Hörgeschädigte nur mit einer Hörgeschädigten-Peergroup erfolgreich inklusiv beschult werden können. Dies führt automatisch zu der Frage, was passiert mit den gehörlosen oder schwersthörgeschädigten Schülerinnen und Schülern? Eine Peergroup ist hier noch bedeutsamer, denn das vorrangige Kommunikationsmittel ist die Deutsche Gebärdensprache. Um diesen Schülern eine inklusive Beschulung zu ermöglichen, müssten an den allgemeinbildenden Schulen, unter anderem Lehrer und Erzieher mit Gebärdensprachkompetenz eingestellt werden. Diese Lehrkräfte müssten dann den Unterricht in Gebärden- und Lautsprache halten. Außerdem ist zu diskutieren, inwieweit für gehörlose Schüler eine vollständige inklusive Beschulung zu leisten ist. In diesem Fall wäre ein Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt Hören der bevorzugte Schulort.“ (S. 117) Für Niedersachsen konstatiert die Autorin großen Personal- und Zeitmangel, insbesondere unter Berücksichtigung der durch die Behindertenkonvention steigenden Anforderungen. Ähnliches gilt wohl auch für Bayern, wo u.a. aufgrund der Einführung des Neugeborenenscreenings ein „Ansturm“ (S. 125) auf die Mobilen Dienste konstatiert wird. Die Autorin stellt fest: „Die UN-Behindertenkonvention hat bis zum Zeitpunkt des Interviews, keine Auswirkung auf die Arbeit der Mobilen Sonderpädagogischen Dienste Hören. Der Zeitfaktor und die personelle Besetzung befinden sich bereits jetzt in einem kritischen Bereich.“ (S. 126)
- Sonja Niederhofer („Inklusion durch Kommunikationsförderung – Adaptation des Kommunikationstrainings nach Klippert für den Unterricht mit Hörschädigten [sic!] am Förderzentrum, Förderschwerpunkt Hören“) schildert ein Projekt in einer 7. Klasse eines bayerischen Förderzentrums deren Schüler_innen „über eine weitreichende Hörfähigkeit [verfügen], Lautsprache ist kommunikatives Führungsmittel“ (S. 131). Es wurden 5 Unterrichtseinheiten – entsprechend den 5 Stufen des Klippertschen Modells (vgl. http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/LERNEN/Methodentraining-Klippert.shtml) gestaltet. Das Feedback der Schüler_innen wird diskutiert.
- Maria Magdalena Schauberger („Die Erfahrungen der Eltern von integrativ und separat beschulten hörgeschädigten Kindern und ihre Haltung gegenüber Inklusion im Vergleich“) führte Leitfadeninterviews mit Eltern. Diese stimmten darin überein, „dass die Entscheidung zu einer integrativen oder separativen Beschulung eines hörgeschädigten Kindes „immer abhängig.. vom Kind“.. ist… Von großer Bedeutung sind die Hörschädigung des Kindes und seine [sic!] Auswirkung. Diese [sic!] sind jedoch nicht direkt abhängig von Art und Grad der Hörschädigung. Bedeutend sind die „auditiven Voraussetzungen“, wie die Wahrnehmungsfähigkeit und das Sprachverstehen.“ (S. 152) Eltern beklagen, dass „hörgeschädigtenspezifische Maßnahmen wie… Antlitzgerichtetheit, Rhythmisierung des Unterrichts.“ in allgemeinbildenden Schulen kaum eingesetzt würden (S. 153). Es ist z.T. eine starke Beteiligung der Eltern beim Nachbereiten des Unterrichts und beim Lernen notwendig. Die Vorstellungen der Eltern zu den Begriffen „Integration“ und „Inklusion“, sowie ihre Wünsche werden beschrieben. Die „Schlussgedanken“ der Autorin sehen vor allem die Notwendigkeit weiterer Schritte in Bildungspolitik und Lehrerausbildung.
- Roman Ceeh („Praktikabilität und Effektivität des Index für Inklusion auf dem Weg zu einer Schule für alle“) behandelt zuerst den genannten Index (vgl. www.csie.org.uk/resources/translations/IndexGerman.pdf), welcher insgesamt 582 Indikatoren enthält und seine 5 Prozessphasen. Dann erörtert er dessen Umsetzung für schwerhörige und gehörlose Kinder am Beispiel einer Volksschule in Wiener Neudorf (Österreich). Diese Einzelfallstudie wurde mittels 2 Leitfadeninterviews mit insgesamt 4 Personen durchgeführt. Insgesamt zeigt sich dabei eine positive Haltung zur Inklusion.
Kapitel 5 („Inklusion von Menschen mit Hörschädigung in Freizeit und Beruf“) besteht aus zwei Artikeln:
- Sarah Dalscheid („Hörgeschädigte Kinder und der Zugang zu außerschulischen Freizeitaktivitäten im Kontext der Inklusion“) befragte 4 erwachsene Sportler_innen des Gehörlosenvereins München. „Allgemein wird.. gezeigt, dass auch völkerrechtliche Abkommen wie die UN-Behindertenrechtskonvention.. in der Praxis keine definitive Garantie für einen gleichberechtigten Zugang im außerschulischen Bereich bzw. Sport darstellen, solange sie nur auf legislativer Ebene greifen.“ (S. 189). Die Erfahrungen der Befragten in verschiedenen Kontexten (Gehörlosensportverein, Arbeit mit hörenden Trainer_innen, Mitmachen in hörenden Sportvereinen) werden beschrieben. Alle zeigen positive Einstellungen zur Inklusion und haben dazu auch konstruktive Vorschläge.
- Ursula Joas („Die Arbeit mit dem Index für Inklusion im außerschulischen Bereich“) führte anhand des Index Interviews an zwei Schulen und einer außerschulischen Institution in Deutschland bzw. Österreich. Daraus ergaben sich einerseits die Praktikabilität des Index, andererseits die Bedeutung der Einstellungen und Erwartungen der Befragten für die Ergebnisse. Dies wird durch eine ausführliche Erörterung der Ergebnisse illustriert.
Diskussion
Die Münchener „Hörgeschädigtenpädagogik“ war lange Jahre für eine praktisch ausschließliche Lautsprachorientierung bekannt. Seit einiger Zeit wird diese Ausrichtung aufgelockert. Daher zeigen die hier versammelten Arbeiten in bestimmten Grenzen durchaus unterschiedliche Orientierungen. Einer der gegenüber der „Münchener Schule“ immer wieder vorgebrachten grundlegenden Kritikpunkte bleibt allerdings für die meisten Arbeiten aufrecht: Da weder das Hörvermögen der „hörgeschädigten“ Proband_innen (mit und ohne technische Hörhilfen) noch ihre Sprachkompetenzen, auch nicht ihre Lese- und Schreibfähigkeiten bezüglich des Deutschen in irgendeiner Weise als Forschungsparameter erscheinen, sind die Aussagen aller entsprechenden Arbeiten kaum aussagekräftig. Obwohl die Herausgeberin betont, dass Hörbehinderung ganz individuell ausfällt (S. 12), werden die meisten Aussagen der Arbeiten in diesem Buch pauschal über „Hörgeschädigte“ gemacht (Ausnahmen sind Wilhelm, z.T. Niederhofer, Ceeh und Dalscheid). Dabei heißt der Bereich an der Universität München „Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik“. Die Arbeit von Schauberger zeigt noch ganz den alten Duktus der Lautsprachorientierung, inklusive der Schuldzuschreibung an das einzelne Kind, wenn eine pädagogische Maßnahme nicht erfolgreich ist. Eine ähnlich veraltete Meinung vertritt auch die Thüringer Referentin, wenn sie wie der Kontaktaufnahme zu anderen hörbehinderten Schüler_innen, Gebärdensprachdolmetschung oder die Anschaffung einer Klassenhöranlage als „extraordinäre Anliegen“ bezeichnet (siehe Zitat zu S. 23 oben).
Einer politisch nur vorgetäuschten Integration/Inklusion ohne entsprechende organisatorische, inhaltliche, personelle und finanzielle Planungen kritisch gegenüber zu stehen, wäre vielleicht sogar eine mehrheitsfähige Einstellung. Die Herausgeberin stellt ihre eigene Kritikfähigkeit allerdings mit Bewertungen wie „blauäugig“ oder „inklusionsfanatisch“ in Frage (vgl. Zitat S. 9f oben), weil sie keinen Bezug zu den alten segregierenden Unterrichtsformen herstellt und auch nicht darüber nachdenkt, wie denn inklusiver Unterricht stattfinden könnte. Stattdessen macht sie eine merkwürdige – faktenwidrige – Bemerkung: „Dabei wurde die dringlichste Frage, nämlich jene, wie sich Inklusion definieren lässt, bis dato außen vor gelassen.“ (S. 8) Zugleich versucht sie am Ende der Einleitung (S. 11) selbst eine Definition zu geben, ohne diese mit der vorhandenen Literatur zu verbinden. Ich verstehe die solchen Definitionen zugrunde liegende Ansicht mancher Pädagog_innen nicht, man könnte einen solchen abstrakten Begriff jemals sprachlich inhaltlich eindeutig so definieren, dass daraus auch eindeutige Handlungsanweisungen abzuleiten wären. Zu diesem Bild passt auch die im Jahr 2017 schon recht antiquiert wirkende Diskussion um die Bedeutungsunterschiede von „Integration“ und „Inklusion“. Dieser Frage wird auch in manchen Beiträgen meiner Ansicht nach zuviel Raum gegeben. Wie sollen Lehrer_innen oder Eltern hier wirklich grundlegende Aussagen machen? Pospischil warnt vor der „blauäugigen“ Anwendung von Inklusion, insbesondere, was schwer hörbehinderte und gehörlose Schüler_innen betrifft, die in vielen Artikeln des Buchs allerdings als spezielle Gruppe gar nicht vorkommen. Das sind meines Erachtens Inkonsistenzen, welche die Beurteilung mancher Aussagen des Buchs schwer machen.
Eine weitere Inkonsistenz ist, dass zwar erfreulicherweise bemerkt wird: „Dabei umfasst die Sprech- und Sprachentwicklung nicht zwangsläufig die Lautsprache allein, sondern auch die Gebärdensprache – eine eigenständige Sprache mit eigener Grammatik.“ (S. 12) Gleichzeitig bleibt auch für gebärdensprachlich (eigentlich bilingual, ein Wort, welches ich im Buch nirgends gefunden habe) orientierte Kinder Förderschwerpunkt „Hören“ aufrecht.
Manche Äußerungen von Pospischil klingen wie „Politsprech“, der erst textkritisch interpretiert werden muss: „Je nach Versorgung mit technischen Hörhilfen, dem Höralter, der Sprachkompetenz, des Sprachsystems etc. ergeben sich individuelle Bedarfe, denen sowohl in der Bildung als auch in der Gesellschaft begegnet werden muss, um dem einzelnen gerecht zu werden und zu einer gleichberechtigten Teilhabe heranzuführen. Auch hier gilt es, eine Balance zu finden, wie jedem einzelnen dieses Ziel ermöglicht werden kann, jegliche Maßnahme zugleich aber gesamtgesellschaftlich mitgetragen werden. In der Haltung jedes einzelnen wie auch in einer angemessenen Verteilung der zur Verfügung stehenden Mittel, die nicht unbegrenzt sind.“ (S. 12f)
Vielleicht bin ich ungerecht, aber dass die Pädagog_innen selbst inklusionsfeindliche Sparstrategien vertreten sollen, erscheint mir unnötig. Wie sonst soll das Diktum der „nicht unbegrenzten Mittel“ hier verstanden werden? Hierzu passt, dass einzig Wilhelm sich getraut, von unseren Pflichten im Interesse der Inklusion zu schreiben:
„Der Mobile Dienst hat die Aufgabe, die Bedürfnisse des hörgeschädigten Schülers durchzusetzen und ihn in seiner Entwicklung zu beobachten und zu unterstützen. Zusätzlich müssen Maßnahmen ergriffen werden, um die Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen. Darunter fallen unter anderem auch, Kontakt zu anderen Hörgeschädigten herzustellen.“ (S. 117) Systematisch von Rechten behinderter Menschen zu sprechen, davor scheuen sich anscheinend alle Autor_innen des Buchs. Auch eine klare Feststellung, dass umfassende Inklusion nicht nur mit Assistenzdiensten erreicht werden kann, fehlt.
Denjenigen Arbeiten im Buch, die relativ bald nach der Ratifizierung der UN-Behindertenkonvention im Jahr 2009 entstanden sind, ist zugute zu halten, dass sie lediglich eine sehr kurze Zeitspanne der Konventionsumsetzung sehen konnten. Unverständlich ist allerdings, dass Melanie Pospischil (Kap. 2) im Jahr 2016 nur mehr eine Fachreferentin interviewt hat, anstatt zu versuchen, sich mit der Befragung von z.B. ca. ein Drittel der 2010 eingeladenen Referent_innen zumindest einen gewissen Längsschnitt zu verschaffen.
Was die verwendete Literatur betrifft, findet sich mit einer Ausnahme (Leitner) praktisch ausschließlich deutschsprachige Literatur. Das ist im Grund für universitäre Abschlussarbeiten untolerierbar. Diese Kritik betrifft speziell auch das Einleitungskapitel von Melanie Pospischil, in dem sie Booth zwar zitiert, seine ausführlichen Darstellungen zum Begriff „Inklusion“ aber ignoriert (vgl.
http://www.gew.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=24107&token=72877d00d8142 c7d3c29e2d717653f7388400e4e&sdownload= ). Neben Booth finden wir im Literaturverzeichnis der Einleitung noch Sander, bei dem Pospischil ignoriert, dass er schon 2001/2 geschrieben hat, nach den „Phasen“ von „Integration“ und „Inklusion“ solle nun bereits die nächste, nämlich „Vielfalt als ‚Normalfall‘“ eintreten. Diese kennzeichnet er so: „Inklusion ist überall Selbstverständlichkeit geworden, der Begriff kann daher in einer ferneren Zukunft vergessen werden.“ (http://bidok.uibk.ac.at/library/sander-inklusion.html).
Fazit
Es handelt sich hier um eine Zusammenstellung von Arbeiten im Ausmaß von jeweils etwa 20-30 Seiten, die rezente Einblicke in die Umsetzung der UN-Behindertenkonvention hinsichtlich Schulorganisation, Lehrerbildung, Assistenzdienste, sowie bezüglich der Einstellungen der Beteiligten (Schulleitungen, Lehrer_innen, Eltern; Schüler_innen sind lediglich zweimal berücksichtigt) geben. Auch der Index für Inklusion wird als methodische Beurteilungsgrundlage zweimal behandelt.
Das Buch ist charakteristisch für die derzeitige Problemlage, in der sich Institutionen wie die Münchner Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik befinden: Der Druck, welcher durch die Ratifizierung der UN-Behindertenkonvention nun auf die Pädagog_innen im Bereich schwerhöriger und gehörloser Kinder entstanden ist, erfordert ein Abgehen von der vorhergehenden Selbstisolation insbesondere der lautsprachorientierten Richtungen. Diese Selbstisolation findet sich aber noch in der fast ausschließlichen Orientierung an deutschsprachiger Literatur und dem praktisch vollständigen Verzicht auf die Darstellung der internationalen Methodendiskussionen und Forschungsergebnisse des letzten Jahrzehnts (vgl. etwa Spencer, P.E. & Marschark, M.: Evidence-based practice in educating deaf and hard-of-hearing students. New York: Oxford University Press 2010, oder als praxisorientiertes Beispiel: The Educationof Deaf and Hard of Hearing Children in Ireland; ncse.ie/wp-content/uploads/2014/09/DeafEducationReport.pdf)
Ebenfalls ausgeblendet bleibt die Tatsache, dass innerhalb der Inklusionsdebatte auch die Interessen der sich durch Inklusion – berechtigterweise oder nicht – bedroht fühlenden Institutionen und Berufsgruppen einen großen – sehr beharrsamen – Einfluss haben. Das zeigt sich in einer kritisch ablehnenden Haltung gegenüber der „Inklusion“. Kritik ist tatsächlich in vielen Fällen für die Umsetzung und Weiterentwicklung inklusiver Bildung notwendig. Textanalytisch lassen sich allerdings in den Inklusion eher ablehnenden Arbeiten (vgl. etwa das in Kap. 1 zitierte Buch von Speck, O.: Schulische Inklusion aus heilpädagogischer Sicht. Rhetorik und Realität) viele negative Feststellungen und Konnotationen finden, welche eine grundsätzliche Ablehnung des Vorhabens „Inklusion“ durch die Autor_innen zeigen. Dies geht oft auch mit einer mangelnden Vergangenheitsbewältigung gerade im Bereich der Sonderpädagogik für Schwerhörige und Gehörlose einher.
Die Arbeiten der Absolvent_innen entsprechen der geschilderten Problemlage, z. T. gehen sie erfreulicherweise schon etwas darüber hinaus – allerdings wohl eher aus persönlicher Überzeugung und ohne Absicherung durch die internationale wissenschaftliche Literatur. Neben diesen im Detail durchaus interessanten Einzeldarstellungen ist das Buch nur als Beispiel dafür zu empfehlen, wie man in der wissenschaftlichen Diskussion zur inklusiven Bewältigung der „Vielfalt als Normalfall“ (Stichwort: „Diversitätsmanagement“) um mindestens 10 Jahre zurück liegen kann.
Rezension von
ao. Prof. i.R. Dr. Franz Dotter
Sprachwissenschaftler, Universität Klagenfurt
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