Andreas Theurich: Religiöses Wissen in Diakonischen Unternehmenskulturen
Rezensiert von Prof. Dr. Ralf Hoburg, 02.08.2017

Andreas Theurich: Religiöses Wissen in Diakonischen Unternehmenskulturen.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2016.
510 Seiten.
ISBN 978-3-8487-3562-4.
D: 99,00 EUR,
A: 101,80 EUR.
Diakoniewissenschaft / Diakoniemanagement Bd. 7, hrsg. von Maththias Benad, Alexander Brink, Martin Büscher, Beate Hofmann, Udo Krolzik, Dierk Starnitzke.
Entstehungshintergrund und Thema
Im Kontext einer Diskussion um den Identitätskern sozialer Organisationen spielt immer wieder der Aspekt der normativen Orientierung eine Rolle. Die vorliegende Dissertation von Andreas Theurich, die im Forschungskontext des „Instituts für Diakoniewissenschaft und Diakoniemanagement“ an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/ Bethel bei Beate Hofmann entstanden ist, widmet sich vor allem der Frage, inwieweit Religion Bestandteil eines „impliziten Organisationswissens“ (S. 21) ist. Damit ist der Fokus auf eine religiöse Grundierung der diakonischen Unternehmenskultur gelegt, womit ein unterscheidendes Kriterium in der inneren Gestalt sozialer Organisationen gefunden worden ist. Religion – so die These und das Themenfeld der gesamten Arbeit – wird „als ein zentraler Bezugspunkt diakonischer Unternehmen vorausgesetzt.“ (S. 22)
Aufbau und Inhalte
Bedeutsam ist bereits die hermeneutische Grundentscheidung der Dissertation, in diakonischen Organisationen den Identitätsbegriff nicht mehr primär in einer, eher der traditionellen Form des Diakonie-Begriffes verpflichteten Weise zu bestimmen, sondern vom Religionsbegriff aus. Dem entspricht der Umstand, dass die Arbeit deutlich von „helfendem Handeln“ spricht und es vermeidet, die im Sprachgebrauch der christlichen Kirchen und ihrer dogmatischen Lehre verwurzelten Termini von „Barmherzigkeit“ und „Nächstenliebe“ a priori als normativer Füllung von diakonischem Handeln zu verwenden. Hinter diesem Wechsel begrifflicher Ableitung verbirgt sich ein grundlegender Paradigmenwandel in der Diskussion über Diakonie und davon abhängig auch über die Identität konfessioneller Wohlfahrtsverbände.
Durch die hermeneutische und begriffliche Wende, die sich in der vorliegenden Dissertation aus einer Neujustierung des Organisationsbegriffes (Kapitel 2) ableitet, ist aus meiner Sicht gleich zweierlei positiv erreicht: einerseits wird auf diese Weise eine Nähe und Anschlussfähigkeit zu sozialwissenschaftlichen Diskursen hergestellt und andererseits wird dadurch dem Faktum von Normativität in sozialen Unternehmen ein eminent zentraler Stellenwert eingeräumt. Die Kern- und Leitfrage der vorliegenden Dissertation lautet daher programmatisch: Was macht ein Unternehmen zu einem „diakonischen“ Unternehmen? (S. 15), zu deren Beantwortung ein profundes Wissen über den Bereich der Organisationssoziologie verwendet wird.
Von der wissenschaftstheoretisch angelegten Einleitung aus, die die Fragestellung der Arbeit klar bestimmt, führt die inhaltliche Erörterung der Arbeit in Kapitel 2 deshalb zunächst zur Diskussion über den – in der Soziologie durchaus umstrittenen – Begriff der Unternehmenskultur. Das umfangreiche Kapitel führt detailliert durch die Forschungsansätze und fokussiert sich dabei vor allem auf den Kulturbegriff und seiner Verwendung in der Organisationssoziologie. Die Basis der Erörterung bildet der Ansatz von Edgar H. Schein (Schema S. 45). Entscheidend für das Weitere wird dann in der Arbeit auch der Begriff der „kognitiven Landkarten“. Deutlich wird, dass im Organisationsbegriff konstruktivistische und systemtheoretische Ansätze miteinander verbunden werden. Als eine Wirklichkeitskonstruktion – so führt der Autor aus – bilden Organisationen einen „Interaktionszusammenhang“ (S. 68), bei dem „verdichtete gemeinsame Kognitionsmuster“ (S. 66) unter Einschluss normativer Aspekte entstehen. Vielleicht lässt sich im Sinne der Arbeit das Ergebnis moderner Unternehmenskulturforschung mit der Erkenntnis zusammenfassen, dass Organisationen „Deutungsgemeinschaften“ bilden. Bedeutungen und Symbole als verdichtete Kulturelemente einer Organisation sind in der „Unternehmensgeschichte gewachsen und haben einen erheblichen Einfluss auf die Identität des Unternehmens.“ (S. 73)
Der zweite Teil des für die Arbeit grundlegenden zweiten Kapitels richtet nun den Blick auf die in der Diakonie verankerte Diskussion über die Verwendung des Unternehmensbegriffes. Hier geht der Verfasser zunächst in historischer Perspektive vor und markiert die Linien der Diskussion, die sich im Anschluss an den Begriff des „christlichen Unternehmens“ wie ihn Alfred Jäger in den 80er Jahren erstmals eingeführt hatte, ergeben haben. Der Unternehmensbegriff – so das Ergebnis des Verfassers – „erfährt so eine kritische Distanzierung“. (S. 81) Weiterführend für die Diakonie als spezifischer Organisationsform Sozialer Einrichtungen stellt sich dagegen nach Auffassung Theurichs der Ansatz von Unternehmen als „hybrider Organisationen“ dar, der ausführlich diskutiert wird. Ihr Vorteil wird von Theurich letztendlich darin gesehen, dass sie die „simultane Nutzung unterschiedlicher Handlungslogiken“ (S 91) entstehende Spannungen in den Unternehmen auszugleichen vermögen. Es ist fast klar, dass in diesen organisationalen Spannungen Möglichkeiten für „normative Sinnhori-zonte“ (S. 92) existieren, denen die Arbeit dann auch weiter nachgeht. Gemeint ist damit letztlich die Möglichkeit diakonischer Unternehmen die Organisation im Sinne der Leitthese der Arbeit so zu gestalten, dass in der Kultur des Unternehmens normative und religiöse Sinn- und Orientierungsfra-gen einen ausreichenden Ort finden. Dafür bedarf es dann aber auch im Rahmen der Organisationskultur einer Reflexion einer sich dezidiert als diakonisch ausweisenden Theologie, was wiederum auf die Profil- und Identitätsdebatte zurück weist. Hier setzt die Diskussion der Fachwelt an, ob es legitim sei von einem religiösen Mehrwert diakonischer Unternehmen zu sprechen. Aus der möglichen Sackgasse dieser Diskussion führt nur der Weg heraus, wenn man die Organisationsidentität als Form eines Selbstbeschreibungstextes versteht. (S. 119) Eine zentrale Bedeutung erhält dann im Folgenden für die Arbeit der Begriff der „diakonischen Kultur“, in der die Synthese versucht wird zwischen der christlichen Lebenspraxis und der Gestaltungsaufgabe eines modernen Unternehmens. Die zentrale Frage besteht dann darin, wie eine solche diakonische Unternehmenskultur geschaffen und produziert werden kann? Aus der Außensicht wissenschaftlicher Reflexion kann der Sinn einer solchen – auf der Grundlage des Identitätskerns – konstruierten Unternehmenskultur nach außen in der besseren Sichtbarkeit und nach innen in der Mitarbeiterbindung gesehen werden. Es ist die in der Einleitung bereits benannte These der Arbeit, dass religiöses Wissen eine „Ressource“ für das Unternehmen darstellt. Wo aber – das ist die Frage, die sich von außen stellt – liegt indes der Nutzen, der in der Ressource des religiösen Wissens verborgen liegt? Der Arbeit von Theurich kommt der Verdienst zu, den gesamten Denkweg einer Selbstvergewisserung diakonischer Organisationen in Verbindung mit der Aufarbeitung der Organisationssoziologie aufgezeigt zu haben. Hier leistet die Arbeit forschungsgeschichtlich mühselige Detailarbeit, indem alle relevanten Forschungsansätze bearbeitet und auf ihre Relevanz hin durchleuchtet werden.
Dem theoretisch und organisationssoziologisch angelegten zweiten Kapitel folgt – im Aufbau der Arbeit stringent – eine Erörterung über den Begriff des „religiösen Wissens“. Auch hier knüpft der Verfasser zunächst an die Debatte der Organisationssoziologie an und erarbeitet die Bedeutung von Organisationswissen als „Committment“. Hier ist nach meiner Auffassung die Arbeit zu breit angelegt und führt zunächst in die wissenschaftlichen Tiefen des Wissensbegriffs, bei dem dann die eigentliche Fragestellung etwas außer Sichtweite gerät. Gut ist daher das Zwischenfazit auf S. 184, das wiederum den Bogen zurück zur Diakonie schlägt und in Anlehnung an die aktuelle Literatur wird deutlich: diakonisches Handeln ohne eine Religiosität bleibt defizitär. Aus diesem Grund erscheint es zur Bestimmung einer diakonischen Unternehmenskultur essentiell zu sein, Religion näher in ihrer Funktion für Unternehmen zu bestimmen. Religiöses Wissen – so stellt der Autor verschiedentlich dar – bildet eine Ebene von Sinndeutung angesichts von Kontingenz (S. 242). Zu häufig wird dabei Religion mit Spiritualität gleichgesetzt. Die verschiedenen Stränge der Arbeit werden dann ab S. 259 unter der Überschrift „Religiöses Wissen und Unternehmenskultur“ zusammengebracht. Das Kapitel geht deshalb von der Annahme aus, dass sich „religious based organisations“ typologisch von anderen Organisationsformen unterscheiden, was sich u.a. in dem, durch das Leitbild festgelegte organisationale Selbstverständnis zeigt. Diakonische Unternehmen stellen daher einen Sondertyp von Unternehmen dar. Wie genau dann religiöses Wissen dann in reale Unternehmensprozesse eingespeist wird, stellt die Arbeit an den Beispielen von Entscheidungsstrukturen und Macht dar. Gerade beim letzten Aspekt fehlt mir eine gewisse Erdung in die Realität kirchlich-diakonischer Unternehmen und eine kritische Reflexion der in ihnen teilweise auf fatale Weise ausgeübten Machtmechanismen in Richtung der Mitarbeitenden, die teilweise m.E. schon an eine ideologische Gängelei grenzt. Nur an einer Stelle wird deutlich, dass die machtpolitischen Strukturen in der Diakonie nur wenig reflektiert werden. (S. 281) Die Dialektik der modernen Unternehmen auf dem Sozialsektor liegt darin, dass sie multiplen Rationalitäten folgen müssen. Dies liegt in der Gesetzmäßigkeit des Sozialmarktes und macht die Schwierigkeit der Steuerbarkeit von Unternehmen dieser Art aus. Ihr Handeln folgt unterschiedlichen Logiken und bei gleichzeitiger Anforderung an die Treue an die Organisationsidentität. In Weiterführung des Begriffes der intermediären Akteure baut die Arbeit den Aspekt der Akteurs-Theorie weiter aus, deren Ergebnis letztlich ein neues Professionsverständnis mit sich bringt (S. 339ff).
In dem abschließenden Hauptkapitel unternimmt die Arbeit dann den Versuch, die aus der Organisationssoziologie heraus bestimmten Kriterien in Zusammenhang mit dem religiösen Wissensbegriff auf die Ebene von Diakoniemanagement zu transferieren. Das Ziel liegt in dem Erweis einer Wertschöpfungskette, die in diakonischen Unternehmen unter Zuhilfenahme des religiösen Wissens erkennbar wird. Damit stellt sich die Arbeit nochmals eindeutig in die Tradition einer Rezeption des St. Gallener Management-Konzeptes. Es wird deutlich, dass Führungskräfte des Unternehmens „Kulturträger“ sind (S. 365), in deren Leitungshandeln religiöses Wissen wirkt. Unternehmenskultur wird dann zu einer Folie einer religiösen Gestaltungspraxis in Unternehmen. Hier wird dann konkret angewendet, was im Kapitel zuvor mit der Rollenzuweisung der der sog. „professional agents“ ausgeführt wurde. Zentral wird dann beinahe zusammenfassend resümiert: „Damit sich religiöses Wissen […] wirksam entfalten kann, muß es nicht nur zur Sprache gebracht werden, sondern benötigt als originäre Form des Managements systematisch fluide Formen gemeinsamer oder geteilter Führung […].“ (S. 369) Vor allem unter dem Begriff der Spiritualität wird dies dann auf Unternehmenshandeln und Management bezogen. Das Zauberwort des abschließenden Teils der Arbeit bildet deshalb der Ansatz des „spirituellen Managements“, das – so der Autor selbst – teilweise kritisch diskutiert wird. In diesem Teil merke ich als Lesender sehr deutlich, dass ich der theoretischen Erörterung zwar vieles abgewinnen kann, aber mir unklar bleibt, wie denn ein solches spirituelles Management in der ökonomischen Realität von Betriebswirtschaft einerseits und der säkularer werdenden Umwelt andererseits konkret Gestalt gewinnen kann. Die offene Flanke des Modells benennt der Autor selbst auf S. 392, wo er deutlich macht: „Braucht religiöses Wissen nicht sowohl materielle und symbolische Wissensträger als auch Menschen, die an dieses Wissen affektiv gebunden und damit letztlich auch begeistert sind?“ (392)
Und ein paar Sätze später wird die Richtung durch eine konkrete Forderung ergänzt: „Und muss nicht ein Diakonieunternehmen aus der Perspektive der Führung ein vitales, missionarisches Interesse haben?“ (S. 393) Wenn Diakonie – so meine Auffassung – diesen Weg geht, wird sie sich zwar in der Tat als „religious based organisation“ von anderen unterscheiden, aber vielleicht gerade durch die neue Unterscheidungskultur wiederum noch klarer ins gesellschaftliche Abseits hinein manövrieren. Denn durch ein klares missionarisches Profil in einer weitgehend säkularen Umfeld wird eines dann wieder unklarer: der Unterschied zum religiösen Fundamentalismus. Die Aporien, die in der Suche nach einer Unterscheidungskultur liegen, bleiben für mich weiterhin ungelöst. Aber – so deutet der Autor in seinem Resümee an – es gibt „schlafende religiöse Pfade“ (S. 439), die durchaus Potentiale einer gelebten religiösen Organisationskultur andeuten.
Fazit
Die Aufgabe der Arbeit wird zu guter Letzt noch einmal zusammengefasst, nämlich die theoretischen Aspekte einer „epistemischen Unternehmenskultur“ (S. 453) diskutiert zu haben. Dieser Forderung ist die Dissertation in hervorragender wissenschaftlicher Exaktheit und Detailliertheit nachgekommen. So bietet das sehr umfangreiche Werk einen profunden Einblick in die aktuelle Landschaft der Organisationssoziologie und ihres Transfers in den Bereich der Wohlfahrtsverbände.
Rezension von
Prof. Dr. Ralf Hoburg
Hochschule Hannover, Lehrgebiet Sozialwirtschaft und Theorie des Sozialstaats
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