Kai Wendt: Suchthilfe und Suchttherapie
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 15.01.2018
Kai Wendt: Suchthilfe und Suchttherapie. Leitfaden für die Praxis - griffbereit. Schattauer (Stuttgart) 2017. 336 Seiten. ISBN 978-3-7945-3262-9. D: 34,99 EUR, A: 36,00 EUR.
Thema
Das Buch ist ein praxisorientierter Leitfaden für die Praxis der Suchthilfe und -therapie und bietet eine Einführung in die Grundlagen (Entstehung, Verlauf) und Formen der Alkohol-, Drogen- und Medikamentenabhängigkeit, die assoziierten somatischen und psychischen Krankheitsbilder, sowie die medikamentöse Behandlung inkl. Substitutionstherapie.
Autor
Kai Wendt, Dr. med. ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Zusatzbezeichnung Suchtmedizinische Grundversorgung, arbeitet als Oberarzt in der MEDIAN Klinik Lübeck – Akutklinik für qualifizierte stationäre Entzugsbehandlung.
Aufbau und Inhalt
Der Praxisleitfaden bietet in 14 Kapiteln
- eine grundlegende Einführung in die Thematik,
- einen Überblick zu den verschiedenen substanzgebundenen Abhängigkeitsformen (Alkohol, Drogen, Medikamente),
- eine Einführung in verschiedene psychiatrische und somatische (Folge)Krankheitsbilder,
- einen Einblick in die Praxis einer Entzugsstation,
- geht auf die Beziehungsgestaltung in Beratung und Therapie ein,
- informiert über die Substitutionsbehandlung bei Opiatabhängigkeit,
- geht auf juristische Aspekte ein und
- greift spezielle Aspekte (Alter, Schwangerschaft, Verhaltenssüchte etc.) auf.
Ergänzend finden sich ein Suchtmittellexikon und eine Einführung in die „Drogensprache“. Abschließend erfolgen weiterreichende Film- und Literaturempfehlungen, das Literaturverzeichnis, sowie in einem Anhang verschiedene Tabellen zur medikamentösen Behandlung u.a. des akuten Entzugssyndroms, Substitution, der antikonvulsiven Behandlung oder der Anti-Craving-Behandlung.
Grundlagen. Das einführende Grundlagenkapitel führt in das Konzept der Abhängigkeitserkrankungen ein und definiert Sucht als zum Menschen gehörendes Verlangen danach, Lustvolles so oft wie möglich erleben zu wollen, wobei in der süchtigen Form dieses Verlangen die Fähigkeit zur Kontrolle und Steuerung von Verhalten beeinträchtigt oder aufgehoben sind und sich eine Toleranzentwicklung und weitere psycho-somato-soziale Folgen einstellen. Als Hintergrund für die Entstehung einer Suchterkrankung wird das -empirisch belegte- multifaktorielle Bedingungsgefüge der Suchtentstehung im Überblick vorgestellt, ohne dass einzelne Aspekte hier ausgeführt werden. Ebenso überblicksartig stellt Wendt die Grundstruktur der Suchttherapie mit Motivations-, Entgiftungs-, Entwöhnungs- und Adaptionsphase vor. Auf vier Seiten stellt der Autor das derzeitige Suchthilfesystem in Deutschland vor, deren institutionelle Formen genannt, allerdings nicht näher beschrieben werden. Wendt verweist hier auf die Notwenigkeit, die Realität der Suchthilfe in Deutschland praxisorientiert zu erschließen: „Um einen tieferen Einblick in die Arbeitsweisen der verschiedenen Einrichtungen zu bekommen, lohnt es sich immer, diese zu besuchen oder einen Tag dort zu hospitieren! Das bringt mehr als das Studium hunderter Bücher“! (44).
Auf zwei Seiten wird der Zusammenhang zwischen Abhängigkeitserkrankung und komorbiden psychiatrischen Erkrankungen angerissen. Wendt vertritt hier, dass es sich in der Mehrzahl der Fälle um ein Nebeneinander unterschiedlicher Störungsyndrome handelt, also neben einer Suchterkrankung weitere psychiatrische Erkrankungen bestehen könn(t)en.
Alkoholabhängigkeit. Das Kapitel informiert über grundlegende Aspekte der Erkrankung (Häufigkeit, Wirkung des Alkohols, Konsumklassen, Stadien des Alkoholrauschs und dazugehörige Symptome), die körperlichen Folgeschäden, Entwicklungsstadien und Abhängigkeitstypen einer Alkoholabhängigkeit (in Anlehnung an Jellinek) und die diagnostischen Voraussetzungen und Möglichkeiten zur Erfassung der Alkoholabhängigkeit. Abschließend erfolgt die Darstellung des Alkoholentzugs, dessen typische Symptome und mögliche Komplikationen.
Drogenabhängigkeit, Opiat- und Cannabisabhängigkeit, Polytoxikomanie: Die Krankheitsbilder werden hier im Überblick dargestellt, das Wissen um die Wirkungsweise der Suchtmittel, die Abhängigkeitsfolgen, Epidemiologie, Entzug und Entwöhnungstherapie werden dargestellt, ebenso die gängigen Behandlungsangebote und -institutionen. Hinweise zur weit verbreiteten Amphetaminabhängigkeit oder zu seltener konsumierten Stoffen (LSD, Pilze) finden sich nicht.
Medikamentenabhängigkeit. Die Abhängigkeit von Medikamenten wird im folgenden Abschnitt Kapitel aufgegriffen. Wendt geht hier auf unterschiedliche Substanzklassen (Benzodiazepine, Opiate, Pregabalin) ein und beschreibt vorwiegend deren Wirkeffekte und Entzugssymptome.
Psychiatrische Krankheitsbilder. Einführend beschreibt Wendt hier den Zusammenhang zwischen Suchtmittelkonsum und parallel bestehender psychiatrischer Erkrankung, die dazugehörigen wechselseitigen Effekte und Symptomfunktionen, z.B. den Effekt einer Selbstmedikation mit Cannabis bei bestehender Psychoseerkrankung. Im Anschluss daran führt der Autor in die Grundlagen der psychiatrischen Diagnostik ein und beschreibt darauf aufbauend die Krankheitsbilder der Schizophrenie, der affektiven Störungen, Angststörungen, Persönlichkeitsstörung, der Traumafolgestörungen, des ADHS und die Gruppe der psychosomatischen Krankheitsbilder. Auch findet sich hier ein Abschnitt zur Suizidalität (149), welche hier also als psychiatrisches Krankheitsbild aufgefasst wird.
Somatische Krankheitsbilder. In diesem Kapitel werden häufige somatische Folgeerkrankungen einer Abhängigkeitserkrankung, deren Symptome und Behandlungsoptionen vorgestellt. Im Einzelnen geht Wendt auf die Hepatitis C, die Leberzirrhose, HIV und Aids, Krampfanfälle, Thrombosen und die Polyneuropathie ein.
Medikamentöse Behandlung. Wendt vertritt einen multimodalen Behandlungsansatz in der Suchtmedizin, der auch, dort wo sinnvoll, vertretbar und symptommildernd medikamentöse Behandlungsstrategien mit einschließt. Die entsprechenden Medikamente die beim Suchtmittelentzug, bei Schlafstörungen und zur Milderung des Suchtdrucks zur Anwendung kommen werden überblicksartig vorgestellt und teilweise kritisch diskutiert.
Praxis der stationären Entzugsbehandlung. Der Abschnitt beschäftigt sich hauptsächlich mit Fragen der begleitenden Urinkontrollen (laborchemische Aspekte, Nachweisdauer etc.) zum Nachweis der Konsumfreiheit und möglichen Entzugskomplikationen (Krampfanfälle, Delir, Mangelzustände, Korsakow-Syndrom) und kurzen Hinweisen zu „alternativen Behandlungsmethoden“ wie Akupunktur oder Aromatherapie.
Umgang mit Suchtkranken. Als Praxishandbuch will der Reader relevante Hinweise zur direkten Arbeit mit Suchtpatienten geben. Fragen der Grundhaltung, Beziehungsgestaltung, Nähe-Distanzaspekten, Motivationsentwicklung und Übertragungsphänomene werden im entsprechenden Kapitel kurz angegrissen. Breiten Raum nimmt hier die Darstellung zum Motivational Interviewing nach Miller & Rollnick ein, dessen Grundzüge vorgestellt werden.
Substitutionsbehandlung. Ein eigenes Kapitel beschäftigt sich mit der Substitutionsbehandlung bei Opiatabhängigkeit. Wendt stellt hier die zum Abschluss der redaktionellen Bearbeitung aktuellen (neuere Aspekte nach August 2017 werden nicht aufgegriffen) rechtlichen Rahmenbedingungen, Behandlungsleitlinien, die verschiedenen Substitutionsmittel, sowie Substitutionsstrategien vor.
Juristische Aspekte. Gesetzliche Betreuung, Therapie statt Strafe gem. § 35 BTMG, Unterbringung in der Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB, Zwangsbehandlung und geschlossene Unterbringung sowie weitergehende gesetzliche Regelungen werden in diesem Kapitel kurz angerissen. Hier findet sich auch ein Abschnitt zu den „Neuen psychoaktiven Substanzen“ (Legal Highs), wobei sich die Darstellung auch hier weitgehend auf die juristischen Aspekte beschränkt.
Spezielle Themen. Spezialfälle der Suchtkrankenhilfe und -therapie werden im letzten Fachkapitel des Praxishandbuchs aufgegriffen: Schwangerschaft und Sucht, Schmerzen und Abhängigkeitserkrankung, Alter und Suchterkrankung, Co-Abhängigkeit, stoffungebundene Abhängigkeitserkrankungen werden in ihrem aktuellen Wissens- und Diskussionsstand vorgestellt und diskutiert. Auch findet sich hier, ganz am Ende, ein Abschnitt zum Abstinenzparadigma. Wendt zeichnet hier die bekannten Diskussionsstränge zwischen Abstinenzperspektive und akzeptierender Suchthilfe auf und vertritt einen abstinenzkritischen Ansatz, den er vor dem Hintergrund seiner klinischen Erfahrungen als nicht realisierbar einschätzt. „In der täglichen Realität der Behandlung Suchtkranker hat sich gezeigt, dass die absolute Abstinenz für einige Patienten kein realistisches Ziel darstellt. Und die ewige Schleife ‚Rückfall-Entzugsstation-abstinentes Intervall-erneuter Rückfall-erneute Entzugsstation‘ ist für diese Patienten auch nicht zielführend“ (273).
Als Anhang bietet das Praxishandbuch ein über 30seitiges Suchtmittellexikon (Alkohol bis Z-Drugs), einen Abschnitt zur „Drogensprache“, sowie weiterführende Film- und Literaturempfehlungen, sowie Medikamententabellen (mit Dosierungshinweisen) zur Behandlung akuter Entzugssyndrome, zur Entzugsunterstützung, zur Behandlung von Schlafstörungen, zur Opiatsubstitution, sowie zur Krampfprophylaxe und zur Regulation des Suchtdrucks.
Zielgruppe
Alle (am Beginn ihrer Berufskarriere stehenden) in der Suchthilfe und -therapie tätigen Berufsgruppen: Pflegeberufe, Soziale Arbeit, Psychologie, medizinische Fachangestellte, Ergo-, Kunst- und Sporttherapeut*innen, Ärzt*innen.
Diskussion
Der als „Leitfaden für die Praxis“ konzipierte Einführungs- und Überblicksband verfolgt das Ziel knapp und strukturiert eine große Bandbreite von Fachwissen für vorwiegend neu in diesem Feld arbeitende Fachkräfte zusammenzufassen und eine grobe Orientierung zu vermitteln. Dieser Anspruch wird durch einen relativ klaren Aufbau, eine klar erkennbare Struktur und die Reduktion der Fachinhalte auf ein durchweg knappes Maß erfüllt. Die damit verbundenen Vorteile (Übersichtlichkeit, Breite der Informationen und Themen) haben allerdings eine Kehrseite: manche Inhalte erscheinen zu stark eingekürzt und manche als „Praxistipp“ deklarierte Empfehlungen erscheinen, auch wenn sie deswegen nicht grundsätzlich falsch sind, zu banal, etwa, wenn zum besseren Kennenlernen von Behandlungsstrategien und -methoden Hospitationen empfohlen werden: „Um einen tieferen Einblick in die Arbeitsweise der verschiedenen Einrichtungen zu bekommen, lohnt es sich immer, diese zu besuchen oder einen Tag dort zu hospitieren! Das bringt allemal mehr als das Studium hunderter Bücher!“ (44).
Die Zielgruppe eines Praxishandbuchs braucht schnell erschließbares, gut strukturiertes, dabei vollständiges und differenziertes Fachwissen für den täglichen Einsatz und kann eben nicht darauf warten, eine Hospitation durchzuführen. Diese beiden zuletzt genannten Aspekte werden allerdings im Praxisleitfaden nicht ausreichend erfüllt, etwa wenn bei der Darstellung der unterschiedlichen Substanzklassen im Kapitel („Drogenabhängigkeit“) auf die Gruppe der Amphetamine verzichtet wird, oder die Darstellung zu den -massenhaft verbreiteten- Legal Highs begrenzt auf juristische Überlegungen im entsprechenden Kapitel „juristische Aspekte“ aufzufinden sind. Auch wenn das Anliegen eines Praxisleitfadens keine tiefergehende Einführung in Behandlungshaltung und -strategie der Suchttherapie ist, hätte dem Werk eine gründlichere und vor allem differenziertere Darstellung zur Haltung professionell Helfender in der Arbeit mit kranken abhängigen Menschen, dem biopsychosozialen Bedingungsgefüge und den Auswirkungen einer Suchterkrankung auf diesen Ebenen gut getan. So bleiben die Hinweise zu sehr an einzelnen Merkmalen (Entzugsprobleme, Gewaltaspekt, Motivationsprobleme) haften, ohne dass eine grundsätzliche Haltung benannt worden wäre.
Zunächst positiv erscheinen die Überlegungen zur Komorbidität von Suchterkrankung und psychiatrischer Zweitdiagnose, welche angemessen als gängige Problemlage in der Suchtkrankenhilfe dargestellt werden. Hier wären allerdings differenziertere Überlegungen zur Symptomfunktion des Suchtmittelkonsums angebracht gewesen. Zwar taucht dieser Aspekt nicht im eigens dafür vorgesehenen Unterkapitel („Abhängigkeit und psychiatrische Komorbidität“), dann jedoch in den Darstellungen zu verschiedenen Krankheitsbildern (Affektive Störungen) auf.
Als hilfreich wird sich das im Leitfaden enthaltene Fachlexikon zu Drogenstoffen erweisen, hier sind relevante Substanzgruppen und Suchtmittel erfasst und bieten dank der lexikalischen Darstellung eine wertvolle und rasche Orientierung.
Fazit
Der Praxisleitfaden Suchthilfe und Suchttherapie bietet eine Einführung in die Grundlagen (Entstehung, Verlauf) und Formen der Alkohol-, Drogen- und Medikamentenabhängigkeit, die assoziierten somatischen und psychiatrischen Krankheitsbilder, Aspekte der Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung, sowie die medikamentöse Behandlung inkl. Substitutionstherapie. Berufsanfängern werden hier (teilweise ausgewählte) einführende erste Überlegungen und Fachaspekte präsentiert, welche größtenteils (dem Namen der Buchreihe „Schattauer GriffBereit“ folgend) gut erschließbar sind.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 15.01.2018 zu:
Kai Wendt: Suchthilfe und Suchttherapie. Leitfaden für die Praxis - griffbereit. Schattauer
(Stuttgart) 2017.
ISBN 978-3-7945-3262-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22246.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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