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Oliver König, Karl Schattenhofer: Einführung in die Fallbesprechung und Fallsupervision

Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 05.12.2018

Cover Oliver König, Karl Schattenhofer: Einführung in die Fallbesprechung und Fallsupervision ISBN 978-3-8497-0182-6

Oliver König, Karl Schattenhofer: Einführung in die Fallbesprechung und Fallsupervision. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2017. 128 Seiten. ISBN 978-3-8497-0182-6. D: 14,95 EUR, A: 15,40 EUR.

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Thema

Fallbesprechung und -supervision sind im Kontext psychosozialen beruflichen Handelns weit verbreitete indirekt interventionsbezogene Methoden, deren Einsatz vielfach begründet wird. Sie dienen einem vertieften Verständnis durch den Einbezug vieler/aller Fallbeteiligter, sie erweitern die eigene Perspektive und legen neue Zugänge offen, sie zeigen Grenzen eigenen Wahrnehmens und Handelns auf, legen Dynamiken an den Tag, die latent wirken oder offenbaren Widerstände u.a.m. Da Fallbesprechung und -supervision zumeist ressourcenintensiv sind und der Fachlichkeit des beruflichen Handelns dienen sollen, gehen auch hohe Erwartungen an diejenigen einher, die Besprechung und Supervision leiten bzw. daran beteiligt sind.

Autoren

  • Dr. Oliver König ist promovierter Soziologe und hat sich mit einer Arbeit zu „Macht in Gruppen“ an der Gesamthochschule Kassel habilitiert. Er ist viele Jahre in einer psychotherapeutischen Praxisgemeinschaft tätig, arbeitet als Supervisor und Berater in eigener Praxis (https://oliverkoenig-homepage.de/home.html), hatte viele Lehraufträge inne und hat sich in Fachgesellschaften und Fachzeitschriften zur Gruppendynamik und Supervision eingebracht.
  • Dr. Karl Schattenhofer ist promovierter Psychologe mit jahrelanger leitender beruflicher Tätigkeit in der außerschulischen Bildungsarbeit, als Trainer und Projektleiter. Er ist psychologischer Psychotherapeut mit Zusatzausbildungen u.a. in Supervision, Gruppendynamik und Psychodrama und Leiter von TOPS e.V. München-Berlin (www.tops-ev.de), einem Zusammenschluss von Berater/innen, Trainer/innen und Wissenschaftler/innen mit Kursen zur Ausbildung in Supervision und Organisationsberatung. Beide Verfasser weisen viele Fachpublikationen auf.

Aufbau

Das 2017 in erster und 2018 in zweiter Auflage erschienene Buch gliedert sich in zehn Kapitel, an die sich die Literatur (S. 124-127) und eine Seite „Über die Autoren“ (S. 128) anschließen. Originalmaterial bzw. Fallangaben sind grau hervorgehoben. Die eingefügten grafischen Darstellungen dienen der leichteren Verständlichkeit, beide Elemente sind sehr hilfreich und bereichern das optisch sehr klare Erscheinungsbild des Buches.

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.

Inhalt

In Kapitel 1 Einleitung (S. 8-15) ordnen die Verfasser Fallbesprechung und -supervision als „Hilfe für die Helfenden“ (S. 9) ein und grenzen sie zur (Einzel-)Fallarbeit ab. Besprechungen von Arbeitsbeziehungen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern in Teams und Projektgruppen schließen sie als Feld für Fallbesprechungen bewusst in ihre Betrachtungen ein. Außerdem legen sie ihr Verständnis des Falls und der Fallbesprechung offen, welches davon gekennzeichnet ist, dass ein Fall erzählt wird, mit einem konkreten Anliegen oder einer Frage verbunden ist und ein Gegenüber benötigt, der Fall / die Situation vom Fallerzählenden erlebt wurde, Teil einer Interaktion ist und eine konkrete soziale Situation beinhaltet. Als zentrales Anliegen ihres Buches formulieren König und Schattenhofer, dass Fallbesprechungen in Gruppen den „Fall aus dem ‚Dort und Damals‘ im ‚Hier und Jetzt‘ der Gruppe“ (S. 13) besprechen und dafür professionell geleitet werden müssen. Ihre Erklärungsfolie für diese Arbeit bestehe aus der Triade von „Gruppendynamik, systemischen Ansätzen und qualitativer Sozialforschung“ (S. 14).

In Kapitel 2 Historische Quellen und konzeptionelle Hintergründe (S. 16-28) rekurrieren die Autoren auf die Wurzeln in der Psychoanalyse und den Balint-Gruppen und gehen spezifisch auf die frühe Tradition der Gruppensupervision, Fallberatung und Intervision in der Sozialarbeit – und -pädagogik von Mary Richmond (1917) und Alice Salomon (1926) ein. Mit der Methode der Transkription und der anschließenden Auswertung hat die qualitative Sozialforschung die Möglichkeit, eine „Distanz zur untersuchten sozialen Praxis“ (S. 21) herzustellen, am Material und mit „kommunikativer Validierung“ (S. 22) neue Erkenntnisse zu erlangen. Im Unterschied zur Forschung ist bei der Fallbesprechung/-supervision in der Regel ein starker Handlungsdruck vorhanden, nach der Erzählung neue Hypothesen bzw. Einsichten zum Fall oder zum sozialen Gebilde der Fallgruppe zu erhalten, mit dem die Gefahr einhergeht, alternative Erklärungen auszublenden.

Im Abschnitt 3 Klientensystem, Hilfesystem und Beratungssystem – Funktionen und thematische Grenzen (S. 29-37) erläutern die Verfasser an einem Beispiel, wie sich an der falleinbringenden Person die zusammenhängenden Systeme des Klientensystems, des Hilfesystems und des Beratungssystems in ihrer jeweiligen Wirkung zeigen, von der professionellen Leitung genau zu berücksichtigen sind und die einzelnen Aspekte den Systemen zuzuordnen sind. Den „Fallbesprechungen über Arbeitsbeziehung und Organisationsfragen“ (S. 35) widmen König und Schattenhofer wiederum exemplarisch einen eigenen Absatz. Hier ist insbesondere die organisationale Hierarchie zu beachten.

In Kapitel 4 Kontrakt und Setting – Soziale Situation und professionelle Rahmung (S. 38-52) greifen die Verfasser fünf typische Settings von Fallbesprechung und -supervision auf und verdeutlichen, wie sie zwischen den Polen Reflexion und kollegiale Kontrolle bzw. als Geben und Nehmen konnotiert werden: 1) als Gruppensupervision in einer offenen Gruppe, 2) als Fallbesprechung in der Organisation, 3) in einer Ausbildungsgruppe, 4) im Team oder 5) zu zweit. Anhand von Beispielsequenzen verweisen König und Schattenhofer auch auf die Rahmenbedingungen und wie diese auf die Beteiligten wirken (können): Ängste können ebenso wirken wie gruppendynamische Prozesse, die nach der Fallbearbeitung fortbestehen und bedacht werden müssen. Zuletzt besprechen die Autoren formale Aspekte des Vertrags zu den Beratungs- oder Supervisionsleistungen und ergänzen „Anmerkungen zur Schweigepflicht“ (S. 51).

Die Phasen der Fallbesprechung beinhaltet Abschnitt 5 (S. 53-72). Als Grundmuster verschiedener Variationen hat sich nach Auffassung der Autoren eine strukturbildende Gliederung in Phasen herauskristallisiert, die eine „Alltagskommunikation in eine Problemlösekommunikation“ (S. 53) umwandelt. Die einzelnen Phasen werden ausgehend von einem Fallbeispiel nach Funktion, Aufgaben für die fallerzählende Person, die Gruppe und die Leitung sowie verwendbare Methoden genau besprochen. Die erste Phase umfasst den Einstieg und den Anschluss an die vergangene Sitzung, in Phase zwei werden Fälle gesammelt und ein Fall zur Erzählung ausgewählt, in Phase drei wird der Fall eingebracht und ein Auftrag formuliert, dem schließen sich in Phase vier Fragen der Beratenden an, bevor im fünften Schritt der Fall bearbeitet und der Blick ausgeweitet wird. Mit Phase sechs werden nächste Schritte ins Visier gefasst und danach in Phase sieben die exponierte Stellung aufgelöst und die Erfahrungen mit der Gruppe geteilt. In Phase acht findet ein Ebenenwechsel statt, indem die Fallbesprechung ausgewertet wird.

Abschnitt 6 Der Fall als Erzählung – und wie sie verstanden werden kann (S. 73-79) thematisiert die Interdependenz zwischen dem Fall mit all seinen Dokumenten und Beteiligten (das Was) und wie er von der erzählenden Person konstruiert wird sowie der Beziehungsgestaltung und Gruppendynamik der beratenden Gruppe. Dieses „Spiegelungsphänomen“ (S. 73) gilt der Auffassung der Autoren zufolge für das Fallverstehen als wichtige Erkenntnisquelle, ist eine Besonderheit von Fallbesprechungen in Gruppen und muss von der Leitung mit Bedacht eingesetzt (um nicht dilettantisch missbraucht zu) werden.

Kapitel 7 Fallbesprechungen zwischen Falldynamik und Teamdynamik – Ein Fallbeispiel (S. 80-103) präsentiert am Material von fünf transkribierten Fallsupervisionssitzungen eines Teams sukzessive die einzelnen Phasen, ferner welche „Phänomene, Prozesse und Steuerungsfragen“ (S. 80) auftauchen und wie das Spiegelungsphänomen wirkt. Auch auf die Evaluation und die Weiterführung einschließlich von Resultaten wird eingegangen. Der fallleitende Autor König betont dabei auch die Reflexion des eigenen Handelns bei der Bearbeitung.

In Abschnitt 8 Multiperspektivität des Verstehens – Interpretations- und Arbeitsebenen (S. 104-112) diskutieren die Verfasser zum einen den eigenen disziplinär vorgeformten Zugang zum Verständnis von Fällen einschließlich der Bereitschaft, sich im Vorfeld über das jeweilige Arbeitsfeld kundig zu machen und zum anderen die Ebenen, die zu betrachten sind. Idealtypisch werden die Ebenen der inneren (Psychodynamiken) und der zwischenmenschlichen Welten (Dyade, Familie, Gruppe), die Arbeitswelten (Organisation, Kulturen und Milieus) und die äußeren Welten (Kontext wie z.B. die Politik, Verwaltung, Öffentlichkeit) unterschieden. König und Schattenhofer fügen die „Felddynamik“ (S. 112) im Sinne einer Landkarte der psychosozialen Kräfte hinzu.

In Kapitel 9 Leitungsaufgaben und Leitungsprofile (S. 113-119) entwickeln die Autoren die „Aufgaben der Leitung in sechs Thesen“ (S. 113). Die Thesen verdeutlichen, wie sehr die Leitung alle Ebenen im Blick haben und die für besprechungsteilnehmende, falleinbringende und leitende Personen permanent vorhandene „Überkomplexität“ (S. 113) managen muss. König und Schattenhofer skizzieren die drei Leitungsprofile der „Feldkompetenten“ (S. 117), der „Verfahrens- und Methodenkompetenten“ (S. 118) und der „Gruppenkompetenten“ (S 118). Die Leitungskompetenz für Fallbesprechungen bildet sich durch Wissensaneignung, Bearbeitung vorhandener Transkripte und insbesondere eigenes Üben mit der Option anschließender Reflexion.

Im abschließenden Abschnitt 10 Wirkungen (S. 120-123) weisen die Verfasser auf die spärlich vorhandenen empirischen Studien zu den Auswirkungen der Teilnahme an Fallbesprechung und -supervision hin. Aus den vorhandenen Studien und den Resultaten einer im Jahr 2006 durchgeführten Metastudie zu Gruppensupervisionen leiten König und Schattenhofer eine entlastende Funktion, eine Stärkung der beruflichen und Handlungskompetenz und eine Wirkung auf die Kooperationen ab. Sie ergänzen aus ihrer Erfahrung eine qualitätssichernde Wirkung der fachlichen Arbeit sowie eine selbstwirksamkeitsstärkende Wirkung für die falleinbringende Person.

Diskussion

Das Buch ist nur äußerlich ein Büchlein. Für den Inhalt trifft das Diminutiv nicht zu, im Gegenteil, was auf den 125 Seiten bearbeitet wird, ist ein Kondensat, wie es mit der vorhandenen Klarheit, Stringenz und Schlichtheit nur von langjährig Praktizierenden präsentiert werden kann. Scheinbar mühelos werden Fallfragmente ausgebreitet und Besprechungsformen und -anregungen für den Fall eingebracht. Zugleich geben sich die Verfasser als wahre Könner zu erkennen, weil sie sich an keiner Stelle hinreißen lassen, „ideale“ Fragen, Abläufe oder Lösungen zu proklamieren, sondern stets betonen, dass eine Fallbeschreibung eine Erzählung, d.h. eine subjektive Wirklichkeitskonstruktion ist. Trotz eigener Expertise erkennen und benennen sie Grenzen eigenen Vorgehens bzw. der Fallbesprechung und -supervision an sich.

Die Stärke des Werkes besteht in der methodischen Sorgfalt, welche König und Schattenhofer walten lassen. Sie beziehen sich auf vorhandene Fachpublikationen und geben damit den Stand des Wissens wieder, monieren aber gleichzeitig, dass und wo es wenig evidenzbasierte Erkenntnisse gibt. Auf Erfahrung basierendes Wissen kennzeichnen sie als solches, womit sie wesentlich zur Glaubwürdigkeit beitragen. Infolgedessen geben die Autoren keine abschließenden Antworten auf die Analyse von Falldarstellungen durch die einbringende Person und die Interpretation durch die Gruppe und ihre Erkenntnisse zum Fall und zur Teamdynamik, sondern sind sich der Prozesshaftigkeit des Geschehens bewusst. Mit Bedacht und einer hohen Sensibilität operieren sie in der Komplexität von aufhellenden Erkenntnissen und schützender Vorsicht, die sowohl dem Einzelnen als auch der Gruppe zuteilwerden muss. Die Unterteilung in die zwei Ebenen des Dort und Damals und des Hier und Jetzt ist für die Leser/innen hilfreich zu verstehen und sich an Fallbesprechung und -supervision heranzutasten. Das Buch ist eine willkommene Wissensquelle und Anleitung zur Besprechung und Analyse von Fällen in Teams und warnt vor dilettantischer Anwendung ungesicherter Interpretationen. Es öffnet die Augen für das Vorgehen von fallleitenden Personen.

Fazit

Das Buch ist sehr gut gegliedert, die einzelnen Abschnitte bauen aufeinander auf. Die Empfehlung der Verfasser zur linearen Lektüre kann die Rezensentin nur unterstreichen. Obwohl der Text sehr verständlich geschrieben ist und deshalb die Freude am Lesen fördert, kann es wegen der Komplexität des Geschehens bei der Fall- und Gruppendynamik gelegentlich nicht schaden, noch einmal zurück zu blättern und ein zweites Mal „hinzuschauen“.

Die vorliegende Publikation ist allen in psychosozialen Arbeitsfeldern mit Fallbesprechungen in Teams betrauten Menschen zu empfehlen: Den Falleinbringenden ebenso wie den Fallführenden und Teilnehmer/innen von Intervisionsgruppen gleichermaßen. Mit dem Wissen um eine professionelle Gestaltung von Fallbesprechungen kann die vielfach eintretende Langatmigkeit und aversive Haltung verhindert werden. Deshalb ist das Buch eine empfehlenswerte und bezogen auf das Preis-Leistungsverhältnis sehr lohnende Investition, für Studierende sozialwissenschaftlicher Studiengänge, die in Begleitveranstaltungen zu Praktika Fallbesprechungen erleben ebenso wie für sie Begleitende und Lehrende.

Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Es gibt 82 Rezensionen von Irmgard Schroll-Decker.

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ISSN 2190-9245