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Charlotte Busch, Martin Gehrlein et al. (Hrsg.): Schiefheilungen (Antisemitismus)

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfram Stender, 09.08.2017

Cover Charlotte Busch, Martin Gehrlein et al. (Hrsg.): Schiefheilungen (Antisemitismus) ISBN 978-3-658-10409-2

Charlotte Busch, Martin Gehrlein, Tom David Uhlig (Hrsg.): Schiefheilungen. Zeitgenössische Betrachtungen über Antisemitismus. Springer VS (Wiesbaden) 2016. 239 Seiten. ISBN 978-3-658-10409-2. D: 34,99 EUR, A: 35,97 EUR, CH: 44,00 sFr.

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Thema

Nomen est omen haben sich die Herausgeber_innen wohl gedacht und deshalb ihr Buch nach einem berühmten Oxymoron aus der Freudschen Religionskritik benannt. Der Titel „Schiefheilungen“ verspricht, was der Sammelband dann nur zum Teil einlöst: die Perspektive der psychoanalytischen Sozialpsychologie in der Antisemitismusforschung wieder zur Geltung zu bringen.

Herausgeber_innen

Charlotte Busch, Martin Gehrlein und Tom David Uhlig studieren an der Goethe Universität in Frankfurt und sind Mitglieder der Gesellschaft für psychoanalytische Sozialpsychologie.

Aufbau

Das Buch gliedert sich in drei Teile.

Der erste Teil „Genese. Sozialpsychologie des Antisemitismus“ umfasst vier Beiträge, von denen allerdings nur einer sich explizit mit der Sozialpsychologie des Antisemitismus beschäftigt: „Vom Ressentiment zum Massenwahn“ von Markus Brunner. Bei den anderen drei Aufsätzen handelt es sich um die leicht veränderte Version eines bereits veröffentlichten Versuchs von Samuel Salzborn, Erklärungen des Antisemitismus aus unterschiedlichen Disziplinen und mit unterschiedlicher Reichweite zueinander in Beziehung zu setzen, Jan Weyands erneutes „Plädoyer für eine Wissenssoziologie des Antisemitismus“ und schließlich Elisabeth Böttchers ökonomiekritisch orientierten Vergleich von Antisemitismus und Antiziganismus.

Der zweite Teil „Niederschlag. Empirische Zugänge“ enthält drei Beiträge: eine kognitionslinguistische Analyse von „Verbal-Antisemitismen“ aus dem 19. und dem 21. Jahrhundert, verfasst von Matthias Jakob Becker und Linda Geisel, eine tiefenhermeneutische Interpretation einer antisemitischen Interviewsequenz aus dem legendären „Gruppenexperiment“ des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, vorgelegt von Jan Lohl, und schließlich Elisabeth Gehrleins Zusammenfassung von Ergebnissen aus ihrer Diplomarbeit zu Langzeitwirkungen der Shoah in Familien von Überlebenden.

Der dritte Teil „Kontextualisierungen. Völkischer Antisemitismus“ enthält einen Beitrag von Nikolas Pelle zur Inhaltsanalyse von NS-Propagandamaterial, den Wiederabdruck eines Textes von Ljiljana Radovi zu feministischem Antisemitismus und einen Beitrag von Sebastian Winter zu Geschlechter- und Sexualitätsentwürfen im extrem rechten Milieu des „Nationalen Widerstands“.

Inhalt

Der aus der Kritischen Theorie und der Psychoanalyse hervorgegangenen psychoanalytischen Sozialpsychologie ist die Erkenntnis zu verdanken, dass es sich bei den Eigenschaften, die der jüdischen Minderheit zugeschrieben werden, um falsche Projektionen handelt, die sehr viel mit den inneren Zwängen der Projizierenden, aber nichts mit den vielfältigen Lebensformen von Jüdinnen und Juden zu tun haben. Diese Erkenntnis war für die Bekämpfung des Antisemitismus bahnbrechend. Die Wendung aufs antisemitische Subjekt brach mit dem auch heute noch weit verbreiteten, aber falschen Alltagsverständnis, dass doch irgendetwas an ‚den Juden‘ zu entdecken sein muss, das erklärt, warum man sie seit Jahrtausenden hasst. Sie öffnete den Blick auf die sowohl gesellschaftliche als auch psychische Genese des antisemitischen Ressentiments. Ohne diese Erkenntnis, die ein – notabene von Max Horkheimer bereits in den 1940er Jahren skizziertes – umfassendes historisches, soziologisches und psychologisches Forschungsprogramm enthält, ist eine kritische Antisemitismusforschung nicht möglich.

Alle ‚Neuerungen‘ in der Forschung der letzten dreißig Jahre sind genau genommen nur Ausdifferenzierungen dieser durch die Kritische Theorie begründeten Forschungsperspektive. Dies zeigen auch die Beiträge des Sammelbands. Am genauesten wird der spezifisch psychoanalytisch-sozialpsychologische Blick auf den Antisemitismus in dem Beitrag von Markus Brunner herausgearbeitet, der auch den titelgebenden Begriff der „Schiefheilung“ in einer über Freud hinausgehenden Weise expliziert.

Ist der Antisemitismus für Jüdinnen und Juden eine tödliche Gefahr, so stellt er sich, so die These Brunners, für Antisemit_innen als „Heilsversprechen“ dar. Mit „Schiefheilung“ im genuin Freudschen Sinne ist gemeint, dass das vergesellschaftete Subjekt dem Privatwahn der neurotischen Erkrankung dadurch entkommt, dass ihm durch die Formen des kollektiven Wahns die psychisch entlastende Perspektive eröffnet wird, seine sozialisatorisch erworbenen inneren Konflikte auszulagern. Es kann die als unerträglich, ‚böse‘ und aggressiv erlebten Es- und Über-Ich-Anteile abspalten und so die eigene psychische Stabilität und damit auch die eigene gesellschaftliche Funktionstüchtigkeit sichern.

Bezogen auf den Antisemitismus erläutert Brunner die Dynamik dieses psychischen Abwehrvorgangs so: „Das ängstigende Eigene, sowohl die ‚Es‘-Anteile, d.h. die eigenen Wünsche und Regungen, wie die ‚Überich‘-Anteile, also die belastenden verinnerlichten Verbote, sind [sic!] mit der Projektion nicht einfach verschwunden, sondern kehren [sic!] wieder in Form des einerseits als schmutzig und aggressiv, andererseits als übermächtig und strafend erlebten Juden. Der antisemitische Projektionsvorgang mündet so in eine paranoide Wahrnehmung (…), in der die Juden als Verfolgende gesehen werden, gegen die eine aggressive Selbstverteidigung notwendig wird“ (S. 22). Die Abwehr innerer Konflikte durch die Teilhabe am kollektiv geteilten Symptom des Judenhasses hat immer auch eine vergemeinschaftende, im Freudschen Sinne „massenpsychologische“ Funktion, durch die sich ein ebenfalls psychisch hoch attraktiver kollektiver Narzissmus aufbaut. In dem inneren Zusammenhang von Nationalismus und Antisemitismus als Selbst- und Feindbild – Jan Weyand geht in seinem Beitrag aus wissenssoziologischer Perspektive auf dieses Verhältnis genauer ein – wird dies augenfällig.

Auch der Massenbildung wohnt eine destruktive Dynamik inne, weil sie das Projektionsbedürfnis und damit den Hass auf den auserwählten Feind immer weiter forciert: „Die verführerische Phantasie der Verschmelzung mit der Masse weckt zugleich Ängste davor, voll und ganz verschlungen zu werden, die Beziehung zu den anderen Massenmitgliedern ist sehr ambivalent, auch von Neid und Abgrenzungswünschen geprägt, und die immer bestehende Möglichkeit, aus der Masse ausgestoßen und selbst zum verfolgten Objekt zu werden, löst größte Ängste aus. Diese aggressiven Anteile werden wieder auf die Juden und Jüdinnen projiziert, deren Bedrohungspotential sich dadurch noch einmal verstärkt“ (S. 25). So wird aus dem antisemitischen Ressentiment im Prozess der Schiefheilung ein immer aggressiverer Massenwahn, der – in der Konsequenz seiner inneren Logik – in dem Willen zur totalen Vernichtung des auserwählten Feinds gipfelt.

Diskussion

Der Band enthält viele wichtige Aspekte zur Sozialpsychologie des Antisemitismus – hinzuweisen ist z.B. auch auf die Ausführungen zur projektiven Identifizierung von Jan Lohl, die deutlich zur begrifflichen Präzisierung des Projektionsvorgangs beitragen (S. 141 ff.). Er enthält aber wenig zur psychoanalytisch-sozialpsychologischen Analyse der spezifischen Formen, die heute unter dem Begriff „neuer Antisemitismus“ diskutiert werden. Dies hat vielleicht auch damit zu tun, dass die meisten, wenn nicht alle Autor_innen des Bands die Berechtigung dieses Begriffs bestreiten. Diese besteht aber darin, dass die historische, politische und ethische Konstellation nach Auschwitz und nach der Staatsgründung Israels vorher nicht bekannte Varianten des Antisemitismus hervorbrachte, die jeweils eigenständiger Analysen bedürfen.

Heute ist ein als Antizionismus getarnter Antisemitismus – ob in djihadistischer, antiimperialistischer oder völkisch-nationalistischer Gestalt – zu einer globalen tödlichen Gefahr für jede Jüdin und jeden Juden geworden. Die tausendfach im Internet, auf Anti-Israel-Demonstrationen und im antizionistischen Propagandamaterial zu findende Gleichsetzung der Israelflagge mit dem NS-Hakenkreuz transportiert die alte antisemitische Vorstellung vom ‚Juden‘ als dem absolut Bösen in die Gegenwart. Dass die weltweiten Dämonisierungs- und Delegitimationsstrategien gegen Israel sich mitunter der Menschenrechts-, Antirassismus- und Antiglobalisierungsrhetorik bedienen, macht die Sache nur noch perfider.

Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert kennt aber noch andere Camouflagestrategien, die ohne psychoanalytisch-sozialpsychologische Analyse gar nicht zu begreifen sind. Neben der links-antisemitischen Gleichsetzung des Staats der Shoah-Überlebenden mit dem NS-Staat als absolutem Täter gibt es auch die rechts-antisemitische Gleichsetzung von „Juden damals“ und „Deutschen heute“ als absolutem Opfer. Durch die erfolgreiche Etablierung des „Auschwitz-Mythos“ als „säkularisierter Staatsreligion“ von der „totalen Vernichtung“ bedroht, seien „die Deutschen“ die eigentlichen „Juden“ von heute. Diese abstruse Denkfigur, die in dem Bestseller „Finis Germania“ (2017) von Rolf Peter Sieferle ein weiteres Mal vorgeführt wird, erfreut sich insbesondere in den völkisch-nationalistischen Kreisen der sogenannten Neuen Rechten großer Beliebtheit. Sie ist typisch für die in der Forschung als sekundär bezeichneten Formen eines Schuldabwehr- und Schuldentlastungsantisemitismus, der bis in die viel zitierte Mitte der Gesellschaft reicht. Über diese und andere aktuelle Varianten des Antisemitismus von links, rechts und aus der Mitte hätte man in dem Sammelband gerne mehr gelesen.

Fazit

Das Verdienst des Buches besteht darin, dass es den Beitrag der heute kaum noch bekannten psychoanalytischen Sozialpsychologie für eine kritische Antisemitismusanalyse in Erinnerung ruft. Abschreckend ist allerdings der Jargon, der das von Stephan Grigat verfasste Vorwort, die Einleitung sowie den einen oder anderen Beitrag des Buches durchzieht. Offensichtlich hegen die Herausgeber_innen Sympathie mit der sehr deutschen Gruppierung „Antideutsche“, ein zu Beginn der 1990er Jahre aus innerlinken Querelen hervorgegangenes Phänomen einer abstrakten Israel-Solidarität, das im Laufe der Zeit immer absurdere Formen annahm. Es wäre einen eigenständigen Beitrag zur psychoanalytisch-sozialpsychologischen Antisemitismusforschung wert, die groteske Kombination aus Bekenntnis zum Kommunismus und bedingungsloser Israel-Solidarität, die diese sektenähnliche Gruppierung von ihren Anfängen bis heute kennzeichnet, selber einmal unter dem Aspekt der Schiefheilung zu analysieren.

Rezension von
Prof. Dr. Wolfram Stender
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Es gibt 23 Rezensionen von Wolfram Stender.

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ISSN 2190-9245