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David Zimmermann, Hans Rosenbrock et al. (Hrsg.): Praxis Traumapädagogik

Rezensiert von Mag.a Barbara Neudecker, 27.09.2017

Cover David Zimmermann, Hans Rosenbrock et al. (Hrsg.): Praxis Traumapädagogik ISBN 978-3-7799-2362-6

David Zimmermann, Hans Rosenbrock, Lars Dabbert (Hrsg.): Praxis Traumapädagogik. Perspektiven einer Fachdisziplin und ihrer Herausforderungen in verschiedenen Praxisfeldern. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 250 Seiten. ISBN 978-3-7799-2362-6. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 34,60 sFr.

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Thema

Traumatisierte und schwer belastete Kinder und Jugendliche stellen eine Herausforderung an pädagogische Fachkräfte in unterschiedlichen Handlungsfeldern dar. Zur Traumapädagogik wurde in den vergangenen Jahren eine kaum überschaubare Anzahl an Publikationen veröffentlicht. Dieser Band versammelt Beiträge zu aktuellen Entwicklungen in der Traumapädagogik und fokussiert dabei auf zwei Schwerpunkte: Die Stärkung der pädagogischen Perspektive im traumapädagogischen Diskurs und Perspektiven und Grenzen traumapädagogischer Weiterbildung.

Herausgeber

  • David Zimmermann ist Professor am Institut für Rehabilitationswissenschaften an der Humboldt-Universität in Berlin und leitet dort die Abteilung „Pädagogik bei psychosozialen Beeinträchtigungen“. Zuvor war er an der Leibniz Universität Hannover tätig.
  • Hans Rosenbrock ist Erziehungswissenschafter sowie Gestalt- und Suchttherapeut.
  • Lars Dabbert ist Erzieher und Gestalttherapeut.

Alle drei Herausgeber sind Mitbegründer des Berliner Instituts für Traumapädagogik (ITP).

Aufbau

Die Beiträge des Buches sind Themenschwerpunkten zugeordnet, die das Buch nach einem einleitenden Text der Herausgeber in vier Teile gliedern:

  • Teil 1: Der Sichere Ort in pädagogischen Beziehungen und Institutionen
  • Teil 2: Traumapädagogische Diagnostik und Methodik
  • Teil 3: Impulse traumapädagogischer Forschung für die Praxis
  • Diskussion: Traumapädagogische Paradigmen

Zu Teil 1

Schwerpunkt 1 über den „Sicheren Ort“ wird von einem Beitrag von Martin Kühn und Julia Bialek eröffnet. In „Ein Sicherer Ort in einer behindernden Welt?“ widmen sie sich einem Thema, dem von der Traumapädagogik bislang noch wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Sie sensibilisieren dafür, dass die Welt für Menschen mit Lernschwierigkeiten schon von Anfang an kein sicherer Ort ist, weil sie schon früh von der Erfahrung, nicht verstanden zu werden, und der Störung des zwischenmenschlichen Dialogs geprägt werden. Nicht gelingende und gewaltvolle Kommunikation steht der Etablierung eines Sicheren Orts entgegen und verhindert auch wirkliche Teilhabe von Menschen mit Lernschwierigkeiten im Sinne der Inklusion. Verschiedene Bereiche, in denen gewaltvolle Erfahrungen gemacht werden, werden beschrieben, und es wird aufgezeigt, dass deren Auswirkungen oft als Symptomverhalten der Betroffenen missverstanden werden.

David Zimmermann widmet sich unter dem Titel „Können wir uns aushalten?“ der Bedeutung des Sicheren Ortes für beziehungstraumatisierte Kinder und Jugendliche und stellt dabei auch Verbindungen zu Konzepten der Psychoanalytischen Pädagogik her.

Im dritten Beitrag beschreibt Leone Schock praxisnah, wie das Konzept des Sicheren Ortes in einer Jugendwohneinrichtung des Paul Gerhardt Werkes in Berlin umgesetzt wird, in der unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben.

Im anschließenden Beitrag von Hans Rosenbrock wird der Sichere Ort aus dem Blickwinkel von Leitungskräften in der Jugendhilfe behandelt. Dargestellt wird, wie traumapädagogische Grundsätze nicht nur in der Arbeit mit Klientinnen und Klienten anzuwenden sind, sondern auch in Hinblick auf die Teammitglieder der Einrichtungen und auf die Einrichtungskonzeption. Anschaulich wird etwa aufgezeigt, was bei der Wiederherstellung des Sicheren Orts für Mitarbeiter nach Übergriffen durch Kinder oder Jugendliche berücksichtigt werden muss.

In ähnlicher Weise befasst sich Claudia Schirmer in „Wert-volle Organisationskultur in traumapädagogischen Einrichtungen“ mit konzeptionellen Fragen. Ihrer Ansicht nach haben traumapädagogische Konzepte drei inhaltliche Schwerpunkte zu enthalten: Pädagogik, Führung und Ethik. Während es im ersten um die Arbeit mit den KlientInnen und traumapädagogische Methoden geht, umfasst der zweite Schwerpunkt Führungsarbeit und Organisationskultur sowie die Rahmenbedingungen pädagogischer Arbeit.

Im letzten Beitrag des ersten Teils betrachtet Hendrik Möser den traumapädagogischen Diskurs aus supervisorischer Perspektive und formuliert Fragen an die unterschiedlichen Systembeteiligten in traumapädagogischen Institutionen.

Zu Teil 2

Der zweite Themenschwerpunkt des Buches „Traumapädagogische Diagnostik und Methodik“ wird von David Zimmermann eingeleitet, der im Beitrag „Traumapädagogische Diagnostik – Überlegungen zu einem umstrittenen Aspekt pädagogischer Professionalität“ einen Überblick über klassifikatorische traumadiagnostische Verfahren gibt und die mit ihnen verbundene Problematik skizziert, bevor er mit dem Konzept des „Diagnostischen Beziehungsverstehens“ einen Zugang vorstellt, der durch die Fokussierung auf die Beziehung zwischen Kind und pädagogischer Fachkraft der pädagogischen Fallarbeit besonders gerecht werden kann.

In „Traumapädagogisches diagnostisches Fallverstehen“ zeigen Marianne Hösl und Silke Birgitta Gahleitner, wie die Überlegungen der gleichnamigen Arbeitsgruppe der BAG Traumapädagogik auf den selten unter traumapädagogischer Perspektive betrachteten Bereich der Bewährungshilfe umgelegt werden können. Neben einer schrittweisen Vorgehensweise, bei der es diagnostisch zunächst um Zuweisung, Orientierung und Risikoabklärung geht und später mehr um die Planung und Gestaltung von Hilfen, wird anhand des von Pauls entwickelten Schemas „Koordinaten psychosozialer Diagnostik und Intervention“ dargestellt, wie sich aus einem traumasensiblen diagnostischen Vorgehen eine fundierte Interventionsplanung ableiten lässt.

Silvana Schmidt beschreibt in „Zum Verstehen von Grenzerfahrungen“ die Anwendung traumapädagogischer Diagnostik in der Arbeit mit einem Vorschulkind im Rahmen der ambulanten Hilfen zur Erziehung. Es wird gezeigt, wie bei der Methode des psychoanalytisch-pädagogischen Fallverstehens u.a. durch die gezielte Übernahme der Perspektive des Kindes darauf abgezielt wird, diagnostische Informationen nicht nur über seine äußere, sondern auch über seine innere Welt zu gewinnen.

Der Beitrag „Methodenbereiche und Haltungen in traumapädagogischen Situationen“ von Lars Dabbert setzt sich kritisch mit Ansätzen traumapädagogischer Methodik auseinander, die etwa durch die starre Übertragung therapeutischer Techniken in die Pädagogik wenig individuell auf Kinder und Jugendliche eingehen und dadurch die Gefahr der Retraumatisierung der Betroffenen in sich tragen. Ein individuelles Rahmenkonzept wird vorgestellt, das die Methodenbereiche Sicherheit, Stabilität, Selbstwirksamkeit und Selbstbemächtigung, korrigierende Beziehungserfahrung sowie den Umgang mit Dissoziation beinhaltet.

Kati Wenzel und Thorsten Gilbert stellen anhand des Beispiels einer jungen Frau dar, wie traumapädagogische Methoden in der sozialen Gruppenarbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren, zur Anwendung kommen können.

Den Abschluss des zweiten Teils bildet der Beitrag „Große und kleine Notfälle in der Schule“ von Brit Caruffo und Elisabeth von Abendroth. Sie demonstrieren anhand von sehr konkreten Beispielen und Übungen, wie im schulischen Alltag mit Dissoziationen von Schülerinnen und Schülern umgegangen werden kann und wie sich Kind und Lehrperson miteinander auf das Auftreten von Dissoziationen vorbereiten können. Aufmerksamkeit wird dabei auch darauf gelegt, welche Unterstützungsangebote die anderen Kinder der Gruppe brauchen, wenn sie ZeugInnen dissoziationsbedingter Eskalationen werden.

Zu Teil 3

Der dritte Schwerpunkt des Buches, der sich mit traumapädagogischer Forschung befasst, wird von David Zimmermann eingeleitet, der in „Die Annäherung an das Fremde“ danach fragt, wie eine wissenschaftliche Annäherung an traumatisch geprägte Lebensgeschichten erfolgen kann. Nach einem historischen Rückblick und einem Aufriss verschiedener disziplinärer Forschungszugänge kommt der Autor zu dem Schluss, dass die „Pädagogik als Leitwissenschaft hinsichtlich des ausstehenden interdisziplinären Dialogs gelten“ kann (Zimmermann 2017, 182) und formuliert einige Überlegungen dazu, wie das Forschungsdefizit der Traumapädagogik verringert werden könnte.

Ulla Johanna Schwarz legt in „Und weiß dann auch gar nich, wo ich mit mir hin soll mit mein [sic!] Gefühlen“ den Fokus auf die Beziehungsgestaltung zwischen betroffenen Schülerinnen und Schülern und ihren Lehrpersonen, indem sie anhand eines Interviews mit einer Lehrerin aus einem Forschungsprojekt der Universität Hannover nachzeichnet, wie Aussagen über die (traumapädagogische) Beziehungsgestaltung herausgearbeitet werden können.

Elvira Eulitz stellt in ihrem Beitrag „Das Leid am Leid“ eine qualitative Studie zum Belastungserleben von Fachkräften in der Jugendhilfe, die mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen arbeiten, vor. Es zeigt sich, dass manche Faktoren wie z.B. die Herausforderung der Abgrenzung von den befragten Pädagoginnen unterschiedlich erlebt wurden: Für die einen stellten sie eine Belastung dar, für andere waren sie entlastend. Vor allem die sensible Selbstwahrnehmung wird von der Autorin als zentral für ein verringertes Belastungserleben von pädagogischen Fachkräften herausgearbeitet.

Den Abschluss des Buches bildet ein Beitrag von Jan Volmer, dem ein eigener Schwerpunkt „Diskussion: Traumapädagogische Paradigmen“ gewidmet ist. In „. damit traumapädagogische Ideen nicht an der Realität zerschellen – Dreierlei Anregungen für die Weiterbildung“ stellt der Autor nicht nur manche Schwachstelle in der Traumapädagogik zur Diskussion, sondern postuliert darüber hinaus in pointierter Weise drei Forderungen an traumapädagogische Weiterbildung.

Diskussion

Die Beiträge dieses Bandes spiegeln wider, wie bunt und vielfältig die Landschaft der Traumapädagogik mittlerweile ist. In den Beiträgen kommen unterschiedliche Zugänge zum Ausdruck: Die AutorInnen sind in unterschiedlichen Handlungsfeldern tätig (und mit der Behindertenarbeit und der Bewährungshilfe sind zwei Beiträge Bereichen gewidmet, die eher selten Gegenstand traumapädagogischer Überlegungen sind), und während manche Beiträge sehr nahe an der Praxis sind, kommen in anderen eher übergreifende theoretische Überlegungen zum Ausdruck. Wie ein roter Faden zieht sich allerdings durch alle Beiträge des Bandes die Haltung, dass das Verstehen des Beziehungsgeschehens zwischen Klientin bzw. Klient und pädagogischer Fachkraft im Mittelpunkt traumapädagogischen Denkens und Handelns steht. Bei der Breite des Themenspektrums und der Vielfalt der Zugänge kann es auch vorkommen, dass manche Beiträge eher knapp ausfallen und weitere Fragen aufwerfen. So wäre es etwa interessant, mehr darüber zu erfahren, wie die im Beitrag von Silvana Schmidt herausgearbeiteten diagnostischen Informationen schließlich genutzt werden, um einen Interventions- und Förderplan zu entwickeln.

Vor allem in den eher theoretisch fundierten Beiträgen von Zimmermann, Dabbert und Volmer werden auch kritische Gedanken zu gegenwärtigen traumapädagogischen Konzepten formuliert, die zu wichtigen Impulsen für die Weiterentwicklung, Differenzierung und pädagogische Fundierung der Traumapädagogik werden können. So ist es erklärtes Ziel der Herausgeber, die „pädagogische Perspektive auf traumatisch beeinflusste professionelle Beziehungen und institutionelle Ausprägungen“ (Zimmermann, Rosenbrock, Dabbert, 10) im interdisziplinären Diskurs zu stärken. Zurecht werden hier von den Autoren noch Defizite im traumpädagogischen Fachdiskurs verortet.

Vor allem der den Band abschließende Beitrag von Volmer beweist Mut, die traumapädagogische Community auch mit kontroversen Themen zu konfrontieren, mit denen auseinanderzusetzen sich lohnen würde, um zu mehr Differenziertheit im fachlichen Diskurs zu gelangen.

Fazit

Ein Band mit spannenden und thematisch breit gefächerten Beiträgen, der vor allem „Insidern“ der Traumapädagogik einen Überblick gibt, wie sich die Traumapädagogik aktuell entwickelt und wie traumapädagogische Grundsätze in verschiedenen Handlungsfeldern und in der Forschung umgesetzt und weiterentwickelt werden. Für Interessierte, die sich mit der Traumapädagogik erst vertraut machen wollen, mag dieses Buch möglicherweise eine Überforderung darstellen, doch für die Weiterentwicklung der Traumapädagogik kann dieses Buch wichtige Impulse geben.

Rezension von
Mag.a Barbara Neudecker
MA, Psychotherapeutin (IP) und psychoanalytisch-pädagogische Erziehungsberaterin, Leiterin der Fachstelle für Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche in Wien, Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Innsbruck, eigene Praxis
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Es gibt 19 Rezensionen von Barbara Neudecker.

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Zitiervorschlag
Barbara Neudecker. Rezension vom 27.09.2017 zu: David Zimmermann, Hans Rosenbrock, Lars Dabbert (Hrsg.): Praxis Traumapädagogik. Perspektiven einer Fachdisziplin und ihrer Herausforderungen in verschiedenen Praxisfeldern. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. ISBN 978-3-7799-2362-6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22277.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.


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