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Rolf Göppel, Margherita Zander (Hrsg.): Resilienz aus der Sicht der betroffenen Subjekte

Rezensiert von Prof. Dr.em. Jürg Frick, 07.03.2017

Cover Rolf Göppel, Margherita Zander (Hrsg.): Resilienz aus der Sicht der betroffenen Subjekte ISBN 978-3-7799-3462-2

Rolf Göppel, Margherita Zander (Hrsg.): Resilienz aus der Sicht der betroffenen Subjekte. Die autobiografische Perspektive. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. 300 Seiten. ISBN 978-3-7799-3462-2. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,10 sFr.

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Thema

Die Herausgeber dieses Sammelbandes, Rolf Göppel (Professor für Allgemeine Pädagogik an der PH Heidelberg) und Margherita Zander (emeritierte Professorin für Sozialpolitik an der Fachhochschule Münster) legen zusammen mit den weiteren 21 AutorInnen den Fokus auf die autobiografische Perspektive von Resilienz. Auf der Basis von autobiografischen Berichten von Betroffenen zeigen sie auf, wie vielfältig verschiedene Schutzfaktoren, Wechselwirkungsprozesse von Risiko- und Schutzfaktoren und Bewältigungsprozesse sind. Neben bekannteren Personen wie Karl-Philipp Moritz und Janusz Korczak kommen auch wenig bekannte bzw. bisher unbekannte Geschichten zur Sprache: Immer wieder geht es um die lebensgeschichtliche Auseinandersetzung mit so unterschiedlichen Belastungsfaktoren wie Armut, familiärer Gewalt, Diskriminierung, sexuellem Missbrauch, psychischer Erkrankung eines Elternteils, Heimunterbringung oder Flucht und Erfahrungen in Konzentrationslagern. Die kommentierten Geschichten zeigen, wie individuell und unterschiedlich die Bewältigungsstrategien der Betroffenen und welche Resilienzfaktoren und Interaktionsprozesse dabei besonders von Bedeutung waren.

Aufbau

Nach einer Einführung der beiden HerausgeberInnen folgen unter dem Titel „Klassiker der Pädagogik in biografischer und resilienztheoretischer Perspektive“ zwei Beiträge.

Die vier nächsten Beiträge widmen sich der Thematik des Aufwachsens in problematischen Familienkonstellationen.

Dann erfahren die LeserInnen unter der Überschrift „Belastungen und Traumata jenseits der Familie“ fünf ganz unterschiedliche individuelle Entwicklungswege.

Der „selbstbestimmten Lebensgestaltung mit Behinderung“ nehmen sich drei weitere AutorInnen an.

Abgerundet wird der Sammelband mit zwei Beiträgen zur Frage, wie Resilienzförderung durch (auto-)biografische Selbstreflexion möglich werden kann.

Ausgewählte Inhalte

Im Folgenden eine Besprechung einer größeren Auswahl der Beiträge.

Im einleitenden Kapitel begründen die HerausgeberInnen, dass mit der qualitativen biografischen Forschung ein Paradigma angesprochen ist, das bisher in der Resilienzforschung kaum eine Rolle spielte, aber für das vertieftere Verständnis von Resilienzprozessen von enormer Wichtigkeit ist: neben hochaggregierten Aussagen eines statistischen Zugangs sind der einzelne Fall und die jeweils individuelle Eigenlogik der Lebensgeschichte, die Innenperspektive für weiterführende qualifizierte Aussagen zur Resilienz von enormer Bedeutung und für ein ganzheitliches Verständnis von Resilienz unabdingbar. Häufig retrospektiv betrachtete Geschichten liefern wichtige, neuere und ergänzende Hinweise für Widerstandskraft und Bewältigungskompetenzen. Resilienzentwicklung wird so als eine Bildungsgeschichte der besonderen Art verstanden.

Rath zeigt am Begründer der Selbsterfahrungs-Psychologie, Karl Philipp Moritz, die Geschichte eines Jungen (Anton Reiser), der sich schon im frühen Alter der streng religiösen, disziplinierenden und autoritären Erziehung durch die Flucht in die Welt der Imagination mittels Lesen und selbstreflexivem Schreiben entziehen kann und dessen letztlich ungebrochener Wille sich durchzubeißen den wirkungsmächtigste Schutzfaktor bildet. Resilienz wird hier im Kern als Fähigkeit zum Widerstand gegen erfahrenes Unrecht verstanden. Moritz gelingt sogar das Kunststück, aus dem Scheitern Kraftquellen für die nächste Anstrengung zu gewinnen. Allerdings bleibt der Protagonist Träger eines trotz allem ‚beschädigten‘ Ich´s – Resilienz ist (auch hier) nicht unbegrenzt.

Das Autorenteam Liebel/Markowksa-Manista stellt in der Darstellung der Lebensgeschichte von Janusz Korczak Resilienz weniger als alleinige Eigenschaft einer Person, sondern als situationsspezifische Handlungsform vor: Korczak war kein einsamer unbesiegbarer Kämpfer (wie vielfach fälschlicherweise dargestellt), sondern in seiner schwierigen Lebenssituation ein Mensch mit depressiven Phasen und Selbstzweifeln, der sich aber immer wieder auf ihm nahestehende Personen stützen konnte; das Tagebuchschreiben sowie das unablässige Aktivsein für die Kinder und das Zusammensein mit ihnen bildeten sein psychisches Schutzschild – bis zum bitteren Ende im KZ.

Göppel stellt in der Person von Andreas Altmann die Geschichte eines „Davongekommenen“ dar: der Vater, ein Familientyrann, die Mutter hilf- und wehrlos. In dieser Atmosphäre als hochgradig vulnerabel aufgewachsen, gelingt es Altmann primär dank seiner Widerspenstigkeit, Eigenmächtigkeit und Renitenz – Altmann spricht im positiven Sinne von „negative learning“ – nach vielen Wirrungen und Irrwegen sein Leben doch noch in den Griff zu bekommen – wiederum ein Beispiel für eine „subjektorientierte Entwicklungsforschung“ aus der Innenperspektive. Als wichtigen Schutzfaktor verweist Göppel – in der bisherigen Resilienzforschung (zu) wenig thematisiert – u.a. auch auf den älteren Bruder und einen etwas älteren Schulkameraden (Peer) hin.

Die Autobiografie von Jeannette Walls zeigt, dargestellt vom Autorenpaar Jansen/Schreiber, wie eine Frau den eigentlich katastrophalen Familienverhältnissen mit frühen Bindungserfahrungen und positiven Einzelerlebnissen eine abpuffernde Wirkung verleihen kann.

Selektive Stummheit infolge eines Familientraumas ist das Thema von Graf. Sie zeigt, wie der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil primär mit geschriebener Sprache den für sich besonders resilienzfördernden Faktor gefunden und weiterentwickelt hat.

Der Beitrag von Wieland basiert auf einer Re-Interpretation von biografischen Interviews mit einem Heimzögling. Dieses Beispiel stellt die interessante Frage, ob und inwiefern Bewältigungsstrategien, deren Sozialverträglichkeit aus der Sicht der Gesellschaft als bedenklich eingestuft wird, dennoch – aus der Perspektive des Heimzöglings – als resilient gelten können, besonders weil der ehemalige Heimzögling schließlich sein Leben in den Griff bekommt.

Dammer beschreibt den Entwicklungsweg des Autors („Schulkummer“) und Lehrers Daniel Pennac: wie wird ein vorerst gescheiterter Schüler schließlich zu einem einfühlsamen und erfolgreichen Lehrer? Aus der Sicht von Pennac: Die eigene schmerzhafte Erfahrung hat die Sensibilität für seine ihm ähnlichen Schüler ermöglicht. Was Pennac eher verschweigt, legt Dammer zusätzlich offen: Pennac erlebte in der Schule auch ermutigende und fordernde Lehrpersonen, die zu seiner letztlich günstigen Entwicklung einen wesentlichen Beitrag geleistet haben.

Dass aus eigener Kraft die gelungene Bewältigung von massiven Schulproblemen gelingen kann zeigen Fingerle/Graf an der eindrücklichen Geschichte des dreizehnjährigen Jamal: ein Fall erwartungswidriger positiver Entwicklung. Zwei Bewältigungsstrategien scheinen für ihn entscheidend gewesen zu sein: die strikte Trennung zwischen den Lebenswelten (die schwierige Familiensituation blendet er in der Schule aus) und die Einsicht, dass er an seinen schulischen Problemen aus eigener Kraft etwas zu ändern vermag: Bezüge zur Selbstwirksamkeit werden hier deutlich. Auch hier ergänzt das Autorenpaar die Perspektive von Jamal: ihm standen neben eigenen durchaus auch soziale Ressourcen zur Verfügung, die er genutzt hat und die in seiner Erzählung kaum vorkommen.

Müller erläutert an der Lebensgeschichte von Shirin X. (ein Pseudonym) die resilienzfördernde Einsicht „ich will kein Opfer sein!“ Neben familiären Belastungen (u.a. eine paranoid-schizophrene Mutter) kamen hier noch die gefährliche Flucht aus dem Iran nach Deutschland hinzu – und dabei gelang Shirin im neuen Land eine geglückte und erstaunliche Bildungsbiografie: sprach sie 2001 als Flüchtling noch kaum Deutsch, so schloss sie 2016 ihre Master-These und die anschließende mündliche Prüfung als eine der besten ab. Offenheit, eine ausgeprägte Lernhaltung und eine ausgeprägte Eigenaktivität finden im neuen Umfeld eine günstige Resonanz.

Die traumatischen Erfahrungen von Ceja Stojka, einer Roma-Frau, die als Kind zusammen mit ihrer Mutter drei KZ´s überlebt hat, wird dargestellt und interpretiert von Zander. Stojkas Erfahrungen werden mit autobiografischen Texten, mit Zeichnungen und Malerei be- und verarbeitet: Zander beschreibt die einzelnen Etappen – wichtig waren u.a. eine glückliche frühe Kindheit, eine starke Mutter als Vorbild, eine bedingungslose Elternliebe, ein familiäres Wir-Gefühl – und das spätere Engagement von Stojka für die Anerkennung der Roma und Sinti. Aus der Verletzung ist letztlich (auch) ein Schutzmantel geworden; man könnte hier vermutlich von einer „posttraumatischen Reifung“ sprechen.

Die beiden nächsten Beiträge zeigen, wie es mit unterschiedlichen Formen von Behinderungen gelingen kann, ein Leben in Selbstbestimmung zu führen: Michaela Schadeck, eine junge Frau mit infantiler Cerebralparese, lernt ein behindertes Leben lediglich als eine besondere Lebensform zu verstehen – dies wird in der Darstellung von Puhr anschaulich beschrieben. Eine klare Lebensphilosophie und eine sehr ausgeprägte Durchsetzungskraft, verbunden mit einem günstigen sozialen Umfeld und entsprechenden Rahmenbedingungen, lassen die Interaktion von persönlichen Resilienzfaktoren mit Schutzfaktoren der Umgebung erkennen.

Auch hörgeschädigte Menschen vermögen – so Hintermair - ein weitgehend selbstbestimmtes und zufriedenes Leben zu führen: er betont die Kraft, die aus sozialen Faktoren erwachsen kann, die Akzeptanz der Hörschädigung als integralen Bestandteil der eigenen Persönlichkeit und den Austausch mit Gleichbetroffenen.

Den – vielfach unterschätzten – Stellenwert selbstreflexiver Selbstbesinnung für die Entwicklung von Resilienz zeigen Opp/Otto in der institutionellen Förderung einer „positiven Peerkultur“: Benachteiligten Jugendlichen einen geschützten Resonanzraum zu bieten, um eigene Verhaltensweisen zu reflektieren, zu überdenken und gegebenenfalls zu revidieren, verhilft zur Erprobung von Handlungsalternativen und erstaunlich häufig zu einer besseren Lebensbewältigung und -qualität (mehr dazu auch unter: www.socialnet.de/rezensionen/3865.php).

Diskussion

Ein anschauliches, gut lesbares, verständliches und mit vielen eindrücklichen Fallbeispielen angereichertes Buch, das vielfältige Anregungen zu einem vertieften, präziseren und anschaulicheren Verständnis von Resilienz geben kann. Die Beiträge sind unterschiedlich in der Darstellung und durchaus heterogen, einige überzeugender in der Darstellung und Analyse als andere. Trotzdem: Es sind diese sehr individuellen, sehr unterschiedlichen und immer beeindruckenden, ja bewegenden Lebensgeschichten bzw. Ausschnitte aus Lebensdarstellungen, die es den LeserInnen ermöglichen, ein vielfältigeres und zum Teil auch neues Verständnis der letztlich immer sehr individuellen und komplexen Resilienz-Wege zu gewinnen. In diesem Sinne stellt das Buch einen Meilenstein qualitativer Forschung dar – und es ist zu wünschen, dass weitere Darstellungen dieser Art folgen, da noch viele Autobiografien und autobiografische Texte für eine Resilienzanalyse vorliegen.

Fazit

Der vorliegende Sammelband schließt eine Lücke in der Resilienzliteratur, indem erstmals und ausführlich die Innenperspektive von resilienten Menschen zur Sprache kommt.

Es bietet einen eindrücklichen Einblick in verschiedene Lebensschicksale und deren konstruktive Lösungswege, in Beziehung gesetzt mit verschiedenen Resilienzfaktoren.

Ein insgesamt sehr lesenswertes und anregendes Buch, ein Muss für alle, die sich mit dem Thema Resilienz eingehender und beschäftigten möchten und eine ideale Ergänzung zum umfangreichen „Handbuch Resilienzförderung“ von Margherita Zander, das 2011 erschienen ist (siehe: www.socialnet.de/rezensionen/11818.php).

Rezension von
Prof. Dr.em. Jürg Frick
Langjähriger Dozent und Berater an der Pädagogischen Hochschule Zürich.
Seit 2017 eigene Praxis (Beratungen, Supervision, Weiterbildungsseminare) und freier Mitarbeiter u.a. an diversen Pädagogischen Hochschulen.
www.juergfrick.ch
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Es gibt 9 Rezensionen von Jürg Frick.

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Zitiervorschlag
Jürg Frick. Rezension vom 07.03.2017 zu: Rolf Göppel, Margherita Zander (Hrsg.): Resilienz aus der Sicht der betroffenen Subjekte. Die autobiografische Perspektive. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2017. ISBN 978-3-7799-3462-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22278.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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