Jost Reinecke, Mark Stemmler et al. (Hrsg.): Devianz und Delinquenz im Kindes- und Jugendalter
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 02.05.2017

Jost Reinecke, Mark Stemmler, Jochen Wittenberg (Hrsg.): Devianz und Delinquenz im Kindes- und Jugendalter. Ungleichheitsdimensionen und Risikofaktoren. Springer VS (Wiesbaden) 2016. 257 Seiten. ISBN 978-3-658-08134-8. D: 39,99 EUR, A: 41,11 EUR, CH: 50,00 sFr.
Thema
Der Sammelband fasst in einem ersten Gesamtüberblick die Ergebnisse des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts „Die Entstehung und Entwicklung devianten und delinquenten Verhaltens im Lebensverlauf und ihre Bedeutung für soziale Ungleichheitsprozesse“ zusammen. Die Beiträge befassen sich anhand der aktuellen Studienergebnisse mit der Verbreitung, dem Ausmaß und den Ursachen für deviantes und delinquentes Verhalten im Kindes- und Jugendalter, das unter dem Blickwinkel verschiedener Dimensionen von sozialer Ungleichheit beschrieben wird. Die vorgestellten Befunde zeigen die Unterschiede in der Lebenssituation, sowie den Einfluss sozialer Ungleichheit auf die Entstehung und Entwicklung abweichender Lebensläufe auf. Als Ungleichheitsdimensionen werden Aspekte wie Geschlecht, Migrationshintergrund, Nachbarschaften, kulturelle Differenzen und Persönlichkeitsmerkmale beschrieben. Das zugrundeliegende Datenmaterial wurde an Schulen in Dortmund und Nürnberg erhoben.
Herausgeber und Autorinnen
Die Herausgeber lehren an der Universität Bielefeld mit dem Schwerpunkt quantitative Methoden der empirischen Sozialforschung (Jost Reinecke) und an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen (Mark Stemmler: psychologische Diagnostik, Methodenlehre und Rechtspsychologie). Jochen Wittenberg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld.
Die Einzelbeiträge wurden von den Herausgebern und weiteren an dem Forschungsprojekt Beteiligten verfasst, welche als wissenschaftliche Mitarbeiter der jeweiligen Universitäten beschäftigt sind.
Aufbau und Inhalt
Der inhaltliche nicht weiter gegliederte Band beinhaltet 16 Kapitel zu Theorie und Methodik der Studie, zu Devianz und Delinquenz, Askriptive Ungleicheitsdimensionen, kulturelle Differenzen, Unterschiede in der Persönlichkeitsstruktur und Schulproblemen.
Theorie und Methodik der Studie
„Wie entstehen dissoziale Entwicklungsverläufe im Kindes- und Jugendalter und unter welchen Bedingungen erfolgt der Einstieg in deviantes und delinquentes Verhalten?“ (1) Die Fragestellung stellt den Problemaufriss der vorliegenden Studie dar, wobei die Annäherung an deren Beantwortung aus doppeltem Fokus vorgenommen wird: aus psychologischer und soziologischer Sicht, welche jeweils individuelle und soziale Merkmale beschreibt. Als gemeinsame Basis benennen die Studienleiter den Ansatz einer dynamisch ausgerichteten Lebensverlaufsforschung, welche versucht individuelle Einstellungs- und Verhaltensänderungen im Zusammenhang mit sozialen Kontextmerkmalen zu untersuchen. Dieser Ansatz berücksichtigt den aktuellen Forschungsstand, der belegt, dass sich Lebensverläufe nicht durch nur einzelne Faktoren oder Prozesse erklären lassen, sondern eine Vielzahl von Aspekten die Wahrscheinlichkeit dissozialen Verhaltens verursachen, diese sich wechselseitig beeinflussen und ggf. verstärken. Einleitend werden entsprechend ausgewählte Forschungsergebnisse und Theorien zur Delinquenzentstehung referiert und die empirisch belegten Merkmale dargestellt: soziale Risikofaktoren (strafrechtlich belastete Familienangehörige, inkonsistente Erziehungsstile, Verlust familiärer Bindung), sowie individuelle psychische (Temperament, emotionale Labilität, Ablenkbarkeit, Hyperaktivität, Bindungsstörung, Konsum gewalthaltiger Medien, Selbstregulationsfähigkeiten) und biologische Merkmale (Suchtmittelschädigung, niedrige Herzfrequenz und damit assoziierter Erlebnishunger und ggf. genetische Merkmale). Ob und unter welchen Bedingungen sich vor dem Hintergrund solcher Belastungsmerkmale eine deviante oder delinquente Entwicklung ergibt hängt neben Zuschreibungsprozessen (Labeling bzw. Etikettierung), auch von kumulativer Benachteiligung, sowie der Verstärkung der Kriminalität durch die Kriminalität selbst (Selbstverstärkung, Identitätsprozesse) ab. Die Abkehr von dysfunktionalen (dissozialen) Mustern geschieht i. d. R. an sog. Wendepunkten, welche einen nachhaltigen Statuswechsel hin zu sozialer Integration, konformer Lebensbewältigung und bürgerlichen Aufstieg ermöglichen.
Die vorliegende Studie ist auf Basis eines Kohorten-Sequenz-Designs als Dunkelfeldstudie organisiert worden. Dazu wurden jeweils drei Erhebungen im Abstand von einem Jahr durchgeführt. Einbezogen waren Schüler der fünften und neunten Jahrgangsstufe in Dortmund und Nürnberg mit einer Startpopulation von annähernd 3000 Schülerinnen und Schülern im Jahr 2012. Im Methodenkapitel (2) finden sich neben diesen Rahmenaspekten ausführliche Hinweise zum genaueren Studiendesign, zur Auswahl der Grundgesamtheit, Stichprobenkonstruktion und zur demographischen Zusammensetzung und Gewichtung der Stichproben. In der aktuellen Publikation werden ausschließlich die Ergebnisse der ersten Befragung dargestellt.
Devianz und Delinquenz
Das Kapitel stellt die zentralen Indikatoren der ersten Erhebung bezüglich einzelner Delikte, sowie Merkmale von Devianz und Delinquenz dar. Die Analyse des Datenmaterials (Selbstauskunft durch Fragebogenbefragung) ergibt, dass bereits in der fünften Jahrgangsstufe ein deutliches Maß an deviantem (Schule schwänzen, Zündeln, Schwarzfahren, Hänseln, Beleidigen etc.) Verhalten (40% in Dortmund, 58% in Nürnberg) vorliegt, das in der neunten Jahrgangsstufe mit Werten von 87% (Dortmund) und 91% (Nürnberg) den Schluss nahe legt, dass Devianz im Kinder- und Jugendalter eher die Regel als die Ausnahme ist. Weniger stark, allerdings dennoch deutlich ausgeprägt sind die Verteilungsraten hinsichtlich der Delinquenz, welche in der Klasse fünf bei 11,7% (Dortmund) bzw. 20,6% (Nürnberg) und in der Jahrgangsstufe 9 bei 33,8% (Dortmund) und 40,8% (Nürnberg) liegt. Schwerpunkte liegen im Bereich der Eigentumsdelikte, der Sachbeschädigung und insbesondere in der neunten Jahrgangsstufe bei den Gewaltdelikten (Körperverletzung, Raub). Zum Zusammenhang zwischen (frühem) deviantem und (späteren) delinquenten Verhalten ist zu sehen, dass das Vorliegen früher Verhaltensabweichungen und die Entwicklung späterer delinquenter Verhaltensweisen in deutlichem Zusammenhang stehen: „Die Auswertung zeigt deutlich, dass mit steigender Anzahl berichteter devianter Handlungen auch die Vielfalt delinquenten Handelns insgesamt ansteigt“ (45). Das Kapitel listet im Anhang die Formulierungen der Devianz- und Delinquenzabfragen auf.
Askriptive Ungleichheitsdimensionen
Vier Beiträge beschäftigen sich aufbauend auf den Ausführungen zum Zusammenhang von Devianz und Delinquenz mit askriptiven Ungleichheitsdimension. Hier finden sich z. B. Ergebnisse und Überlegungen zur weiblichen Jugenddelinquenz. Mit Verweis auf die Ergebnisse der traditionellen Delinquenzforschung verweisen die Autoren auf die insgesamt geringere Delinquenzrate und die milderen Delinquenzformen bei Mädchen, auch wenn die entsprechenden Raten in der jüngsten Vergangenheit einen deutlichen Zuwachs aufweisen. Die in der vorliegenden Studie erhobenen Befunde, weisen ebenfalls in diese Richtung. Bedeutsam erscheint, dass eine spätere Normorientierung, oft vermittelt über soziale Folgen oder Phänomene (z. B. Belastung der eigenen Familie, Verlust von Freundschaften, neue intensive soziale Kontakte, Eintritt ins Erwerbsleben) zum Abbruch von Delinquenzverläufen führt.
Ein weiterer Beitrag geht auf den Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und Jugendkriminalität ein. Der Anteil der untersuchten Stichprobe weist einen Anteil von 58% Schülern mit Migrationshintergrund auf. In der fünften Jahrgangsstufe finden sich im Datenmaterial leicht erhöhte Raten für deviantes, also sozial unerwünschtes Verhalten von Kindern. Bei den älteren Jugendlichen der neunten Jahrgangsstufe finden sich dagegen kaum noch Unterschiede zwischen Migranten und Nichtmigranten, abgesehen von leicht erhöhten Werten im Bereich der leichteren Gewaltdelikte. Die Autoren weisen darauf hin, dass die höheren Devianz- und Delinquenzraten bei Kindern/Jugendlichen mit Migrationshintergrund nicht mit dem Migrationsstatus „an sich“ verknüpft sind, sondern mit dem bei Migranten oft niedrigerem Sozialstatus und entsprechenden Folgephänomenen (Bildungszugang, ökonomische Verhältnisse etc.) assoziiert sind.
Dem Zusammenhang von sozialer Herkunft, Devianz und Delinquenz ist ein weiterer Beitrag gewidmet. Hier erscheint bedeutsam, dass weniger die direkten sozioökonomischen Verhältnisse ausschlaggebend für späteres Täterverhalten sind, sondern die Fähigkeit in den Familien und bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen, mit dem vorhandenen ökonomischen Rahmen auszukommen. Insbesondere Jugenddelinquenz erscheint hier als Mechanismus, Wünsche, die nicht auf legalem Wege zu erfüllen sind, zu realisieren.
Der abschließende Beitrag zu den askriptiven Ungleichheitsdimensionen beschäftigt sich mit der Bedeutung des Wohnumfelds für die Entstehung und Entwicklung von Devianz und Delinquenz. Die Ergebnisse zu dieser Dimension sind nicht durchgehend eindeutig. Einzelne Subgruppen (z. B. ältere Jugendliche) nehmen eine höhere soziale Kontrolle in der Nachbarschaft war, welche zu sozial angepasstem Verhalten zu führen scheint. Die soziale Struktur der Nachbarschaft, z. B. in Bezug auf desorganisierte Bevölkerungsgruppen ist ebenfalls nicht eindeutig als Delinquenzdimension zu benennen. Hier scheinen stark altersabhängige Phänomene (z. B. in der Wahrnehmung von im Stadtteil herumhängenden Jugendcliquen) zu bestehen. Insgesamt finden sich nur wenige deutliche Anzeichen, dass Nachbarschaftsmerkmale und -unterschiede im Sinn der US-amerikanischen Forschungsergebnisse (die auf einen starken Zusammenhang hinweisen) in der vorliegenden Studie bestehen.
Kulturelle Differenzen
Anknüpfend an die zuvor beschriebenen Delinquenzdimensionen erfassen drei Beiträge kulturelle Differenzen. Diese zeigen sich z. B. im Bereich der Freizeitgestaltung und Mediennutzung. Die Daten weisen auf einen deutlichen Zusammenhang zwischen Mediennutzung und abweichendem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen hin. Delinquente Kinder und Jugendliche verfügen häufiger über einen unkontrollierten Zugang zu Fernsehen und Computer/Internet, nutzen für die Altersgruppe ungeeignete Medien (z. B. gewaltlastige Filme und Spiele) und unterliegen insgesamt weniger Kontrolle und Aufsicht. Die erhobenen Befunde decken sich mit den in der Forschungsliteratur beschriebenen Effekten.
Familiäres Umfeld
Die Bedeutung des familiären Umfelds für die Entstehung bzw. Verhinderung delinquenter Verhaltensweisen wird einführend mit der Darstellung kontrolltheoretischer Ansätze bei Hirschi umrissen. Konformität wird hier im Zustandekommen von Bindung an Kontrollinstanzen, Einbindung in konventionelle Tätigkeiten, die Bindung an gesellschaftlich anerkannte Ziele und die Respektierung gesellschaftlicher Normen und Werte verortet. Eine mangelnde Bindung zur konventionellen Gesellschaft wird hier als ursächlich für abweichendes Verhalten aufgefasst. Zusätzlich haben emotionale Verknüpfungen zu Repräsentanten dieser Aspekte, z. B. den Eltern eine große Bedeutung, deren Erziehungsverhalten, sowie die Größe und Struktur der Familie. Fehlende Erziehungspersonen (Tod, Trennung) und mangelnde Aufmerksamkeit (unterstellt bei Großfamilien) können zu Abweichung führen. Die Auswertung des Datenmaterials bestätigt die theoretischen Annahmen grundsätzlich. So fällt in der neunten Jahrgangsstufe ein im Verhältnis zur fünften Jahrgangsstufe höherer Anteil von Jugendlichen auf, die bei einem alleinerziehenden Elternteil leben (31% vs. 28%), wobei sich hier eine höhere Wahrscheinlichkeit für delinquente Verhaltensweisen zeigt. Andererseits erweist sich, vor allem bei den jüngeren Befragten das elterliche Engagement als delinquenzreduzierend, was sich mit den kontrolltheoretischen Annahmen hinsichtlich Konsistenz und Kontrolle im Erziehungsstil deckt.
Freundschaften und Peers
Das Kapitel beschäftigt sich mit der deskriptiven Analyse des sozialen Netzwerks der untersuchten Kinder und Jugendlichen in Bezug auf delinquentes Verhalten. Die Bedeutung von gleichaltrigen Gruppen und familienunabhängigen Freundschaften nimmt mit zunehmendem Alter im Rahmen der Ablösung von der Herkunftsfamilie zu. Diese Abkoppelung ist mit einer besonderen Bindung zwischen Jugendlichen und ihren gleichaltrigen Freunden verbunden, wie bereits Stelly & Thomas vor 15 Jahren nachgewiesen haben. Gestalten sich diese Gleichaltrigenkontakte problematisch, z. B. in Form von Freundschaften mit delinquenten Gleichaltrigen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung abweichender Verhaltensweisen. Diese Effekte sind u. a. als Lernprozesse (Sutherland) beschrieben worden, welche meist mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter enden und damit in der Mehrzahl der Fälle das delinquente Verhalten durch Konformität abgelöst wird. Das Studienmaterial zeigt, dass die meisten Kinder und Jugendliche feste freundschaftliche Bindungen zu Gleichaltrigen unterhalten. Die Gruppe der delinquenten Jugendlichen weist dabei einen signifikant größeren Freundeskreis als die Vergleichsgruppe auf. Ebenso weisen diese eine deutlichere Delinquenzneigung in der Peergroup auf. Die Mehrzahl der berichteten strafbaren Handlungen von Kindern und Jugendlichen wurden in Gruppen begangen.
Individuelle Merkmale
In vier Beiträgen werden die individuelle Werteorientierung, persönliche Moralvorstellungen und Selbstkontrolle, sowie die Bedeutung psychopathischer Merkmale bei antisozialen Personen erörtert. Die Beiträge weisen auf einen deutlichen Zusammenhang zwischen normorientierter Wertvorstellung und Delinquenzneigung hin. Hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen abweichendem Verhalten und moralischer Orientierung zeigt sich, dass abweichendes Verhalten, v. a. in Form von Deliktgeschehen als moralisch problematisch eingestuft wird, auch von der Gruppe der selbst delinquenten Jugendlichen. Das hier verwendete Instrument zur Erfassung von Moralität ist eine Übersetzung eines englischsprachigen Fragebogens zur Moralitätsmessung, der bislang im deutschsprachigen Raum noch nicht verwendet wurde, insbesondere noch keine Längsschnittstudien durchgeführt wurden, so dass kein abschließender Vergleich mit anderen Forschungsergebnissen vertretbar ist. Die Autorin weist allerdings darauf hin, dass die Einflussnahme internaler Moralvorstellungen auf normkonformes Verhalten im weiteren Verlauf des Jugendalters zunehmen dürfte. Korrespondierend dazu erweisen sich die Befunde zur Selbstkontrolle. Die Fähigkeit eigene Gefühle und Impulse i. S. kontrollierten Verhaltens zu regulieren, wird hier als Entwicklungsprozess beschrieben. Je höher die Selbstkontrollfähigkeit entwickelt ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit für delinquente Verhaltensweisen. Entsprechende Analysen und die für Längsschnittstudien notwendigen Folgeerhebungen liegen derzeit noch nicht vor. In einem abschließenden Beitrag wird der Zusammenhang zwischen psychopathischen Merkmalen und abweichendem Verhalten beschrieben. Einige mit dem Psychopathiekonzept verbundene Persönlichkeitsvariablen (fehlende Empathie, Impulsivität, Selbstüberschätzung) wurden im Rahmen der Studie abgefragt. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass delinquente bzw. deviante Kinder und Jugendliche deutlicher ausgeprägte psychopathische Persönlichkeitsmerkmale aufweisen und hier die Gruppe mit besonders auffälligen Werten zu vielfältiger Devianz neigt. Der Autor des Kapitels weist darauf hin, dass auch hier eine datengestützte Überprüfung und Fortsetzung der empirischen Forschung noch aussteht.
Schulprozesse, Devianz und Delinquenz
„Schüler an Mittel- und Hauptschulen haben einen schwierigeren sozialen Hintergrund und zeigen häufiger deviantes und delinquentes Verhalten. Gymnasiasten hingegen berichten vor allem in der neunten Klasse deutlich weniger Delikte. Dies belegt den Status der Haupt- und Mittelschule als ‚Restschule‘, deren Besuch viele Eltern ihren Kindern ‚ersparen‘ möchten, und die wachsende Bildungsungleichheit in Deutschland …“ (240). Schule und Schulprozesse haben demnach über die Vermittlung formaler (Abschlüsse) und inhaltlicher Aspekte (Wissen, Bildung, Normen) erheblichen Einfluss auf die Entstehung abweichenden Verhaltens. Unerwähnt bleibt in diesem Kontext allerdings der Synergieeffekt zwischen besuchter Schulart und weiteren psycho-sozialen Faktoren.
Zusammenfassung und Ausblick
Im abschließenden Kapitel geben die Herausgeber einen zusammenfassenden Überblick der zuvor dargestellten Forschungsergebnisse. Eilige LeserInnen finden hier auf wenigen Seiten eine kompakte und orientierende Inhaltsbeschreibung. Die Zusammenstellung der einzelnen Forschungsbefunde erfährt hier auch eine abschließende Bewertung: nicht einzelne Risikoaspekte bedingen deviante und delinquente Verhaltensweisen. Vielmehr besteht in der kumulativen Anhäufung einzelner Risikomerkmale (Soziales Milieu, Persönlichkeitsmerkmale, kulturelle Merkmale, Bildungsaspekte) das Potential für Devianz und Delinquenz im Kindes- und Jugendalter.
Zielgruppe
Forschende, PraktikerInnen und Studierende aus der Kriminalsoziologie und -prävention, Psychologie und Soziologie.
Diskussion
Abweichendes Verhalten, auch und in besonderem Maße in Form von Devianz und Delinquenz sind ein für jede Gesellschaft wichtiges Thema. Dass derartiges Problemverhalten bereits im Kindes- und Jugendalter entstehen kann, in vielen Fällen dort seinen Anfangspunkt hat, ist unbestritten. Die hier vorgelegte Studie untersucht dieses Phänomen gründlich und differenziert. Der dafür betriebene Aufwand, in dem auf mehrere Jahre angelegten Forschungsprojekt war und ist erheblich.
Der vorgelegte Band gibt einen ersten Gesamtüberblick über das Projekt und seine Ergebnisse. Die Studienleiter haben dazu einen mehrperspektivischen Zugang gewählt, integrieren Ansätze aus Kriminologie, Soziologie und Psychologie, wodurch ein mehrdimensionales Bild, das psychische, kulturelle und soziale Aspekte darstellt, entstanden ist. Dadurch kann das komplexe Geschehen, wie es sich in der Entstehung und Entwicklung von Devianz und Kriminalität darstellt angemessen erfasst werden. Grundlage für die Forschung war die Befragung von Kindern und Jugendlichen, wodurch deren Erfahrungshintergrund, Lebenswelt und deren Bedeutungszuschreibung erhoben wurden. In diesem Vorgehen liegt die Chance für eine differenzierte Darstellung der Verhältnisse und die Wechselwirkung zwischen den untersuchten Dimensionen, da eben nicht nur eine Gruppe bereits auffällig gewordener Kinder und Jugendlicher erfasst (und durch externe Daten oder Fachleute beschrieben) wird, sondern direkte Vergleichsgruppen erhoben werden.
Die Verankerung der Forschungsfragen, -strategien, -instrumente und die durchgeführte Kategorienbildung in der Darstellung der Ergebnisse ist durchgehend theoriegeleitet, die entsprechenden Konzepte und Ansätze werden angemessen ausführlich dargestellt. Die Art der Ergebnisdarstellung in Form von erklärendem Fließtext und tabellarischen Übersichten erlaubt auch wissenschaftlich weniger ausgebildeten LeserInnen einen leichten Zugang. Die Bewertung der erhobenen Datenbefunde erfolgt differenziert, logisch und durchgehend kritisch.
Der Schwerpunkt der Forschung liegt auf der Identifikation von Risikomerkmalen der untersuchten Gruppe. Hier wäre der einzige Kritikpunkt zu formulieren: das differenzierte, gründliche und mit erheblichem Aufwand durchgeführte Forschungsprojekt hätte es verdient, auch nach Schutzfaktoren zu fragen, welche einen moderierenden oder gar schützenden Einfluss auf die Entwicklung von Devianz und Delinquenz haben. Eine solche Fragestellung wäre vor dem Hintergrund der gewählten Forschungsperspektive, die nach Ungleichheitsdimensionen fragt, gut zu integrieren gewesen.
Die Bedeutung der hier vorgelegten Forschungsbefunde und -ergebnisse wird vor allem auch in deren Verwendung in Pädagogik und Sozialarbeit liegen. Die Hinweise auf familiäre, sozial-strukturelle, kulturelle, bildungsbezogene und entwicklungspsychologische Aspekte sind umfangreich und bedürfen nun einer Umsetzung in entsprechende Präventions- und Interventionsangebote.
Fazit
Der Band gibt als Forschungsbericht einen Überblick zu Theorie und Methodik der Studie, führt grundlegend in die Konzepte Devianz und Delinquenz ein und beschreibt die anhand des Datenmaterials gefundenen Ungleichheitsdimensionen in den Ebenen askriptive Merkmale, kulturelle Differenzen, Persönlichkeitsmerkmale und Schulprozesse. Die Forschungsbefunde werfen das Licht auf soziale Verhältnisse, Entwicklungsprozesse im Kindes- und Jugendalter und die Rolle der beteiligten Sozialisationsinstanzen. Dadurch erschließen sich wertvolle Hinweise, wie sich Devianz und Delinquenz im Kindes- und Jugendalter entwickeln. Eine wertvolle Lektüre nicht nur für forschende Wissenschaftler, sondern auch für Fachleute aller Berufsgruppen, die mit betroffenen Kindern und Jugendlichen arbeiten und für die Institutionen, die sich hier im Sinn einer Primärprävention Ansätze und Interventionsebenen erschließen können.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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