Cordula Löffler, Jens Korfkamp (Hrsg.): Handbuch zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener
Rezensiert von apl. Prof. Dr. Anne Amend-Söchting, 21.07.2017
Cordula Löffler, Jens Korfkamp (Hrsg.): Handbuch zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener. Waxmann Verlag (Münster, New York) 2016. 466 Seiten. ISBN 978-3-8252-8683-5. D: 49,99 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 61,00 sFr.
Thema
Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ aus dem Jahre 1995 dürfte im 21. Jahrhundert das wohl bekannteste literarische Beispiel für die Thematisierung von Illiteralität sein. Aber obwohl die Protagonistin Hanna das Problem in das Bewusstsein vieler LeserInnen und schließlich KinobesucherInnen (Verfilmung 2008) rückte, bekennen sich die wenigsten AnalphabetInnen zu ihrem Manko bzw. zu dem, was sie sich aus den unterschiedlichsten Gründen (noch) nicht aneignen konnten. Die derzeit insgesamt 7,5 Millionen betroffenen Deutschen bedienen sich vielmehr – so wie Hanna – mannigfacher Strategien der Verheimlichung und Verschleierung.
Auch trotz der sogenannten „Welt-Alphabetisierungsdekade“ von 2003-2012, trotz schier unüberschaubarer Fördermöglichkeiten für Kinder und Jugendliche mit Lese- und/oder Rechtschreibschwäche werden vor allem die Probleme erwachsener AnalphabetInnen kaum in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Hier schlägt der vorliegende Sammelband eine Bresche, zum einen für eine breitere Rezeption der Problemstellung überhaupt, zum anderen im umfassenden Kontext der Diversität und Inklusion. Des Weiteren argumentieren die meisten BeiträgerInnen vor dem Hintergrund der Annahme, dass Lesen und Schreiben nicht nur eine mitunter selbstzweckhafte Kulturtechnik, sondern eine der Grundvoraussetzungen für gesellschaftliche Teilhabe sei.
Herausgeberin und Herausgeber
Nach dem Studium der Sonderpädagogik und der Germanistik promovierte Cordula Löffler am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Hannover. Sie leitete viele Jahre lang Alphabetisierungskurse und engagierte sich im Bereich Lernhilfe und Beratung, bevor sie am Seminar für Deutsche Sprache und Literatur der TU Braunschweig und an der Fakultät für Sonderpädagogik der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg angestellt war. Nach einer Station an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main wurde sie im Jahre 2006 als Professorin für „Sprachliches Lernen“ im Fach Deutsch an die Pädagogische Hochschule Weingarten berufen. Die Schwerpunkte ihrer Forschung legt sie u.a. auf Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten und Analphabetismus.
Jens Korfkamp studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften sowie Psychologie und Geschichte an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg. Er promovierte berufsbegleitend im Fach Politologie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt. Seit 2001 leitet er die Verbandsvolkshochschule Rheinberg.
Entstehungshintergrund
In ihrer Einführung betonen Löffler und Korfkamp, dass sich die Forschung zu Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener in den letzten Jahren intensiv weiterentwickelt habe, nicht zuletzt aufgrund der Förderschwerpunkte des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Zu den einzelnen Förderschwerpunkten seien eine Reihe von Publikationen erschienen, allerdings habe zu der Thematik ein Handbuch gefehlt, das auch in allen Lehramtsstudiengängen eingesetzt werden könne.
Aufbau
Das nun von Löffler und Korfkamp herausgegebene und ebenfalls vom BMBF geförderte Handbuch kommt als Sammelband daher. Dieser gliedert sich in fünf große Kapitel, bestehend aus insgesamt 32 Beiträgen, verfasst von einem multidisziplinären und multimethodal arbeitenden AutorInnenteam. In den Texten, deren detaillierte Einzelbetrachtung den Rahmen der Rezension sprengen würde, kristallisieren sich die ganze Breite und Tiefe der bis dato vorliegenden Forschungen zu den Megathemen Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener.
Das Inhaltsverzeichnis lässt sich bei der Deutschen Nationalbibliothek einsehen und umfasst fünf Teile.
Zu I.
(Grundlagen, Definitionen, Zahlen)
Den Reigen dieser Studien führt Ulrich Steuten mit „Erwachsenenalphabetisierung in Deutschland“ an. Er analysiert die Befunde der leo.-Level-One Studie aus dem Jahre 2011, definiert funktionalen Analphabetismus, bevor er die ca. 40jährige Geschichte der Erwachsenenalphabetisierung in Deutschland Revue passieren lässt.
Anschließend erläutert Cordula Löffler, dass eine enge Beziehung zwischen LRS und funktionalem Analphabetismus bestehe, schon allein deshalb, weil die Ursachen beider Erscheinungen ähnlich seien („Zum Zusammenhang von Lese-Rechtschreib-schwierigkeiten, Lese-Rechtschreibstörung/Legasthenie und Analphabetismus“).
Dass es im Bereich der Grundbildung und Alphabetisierung eine Flut von Termini und Konzepten gibt, die sich sowohl komplementär als auch konkurrierend zueinander verhalten, beweisen Monika Tröster und Josef Schrader mit „Alphabetisierung, Grundbildung, Literalität: Begriffe, Konzepte, Perspektiven“.
Nachfolgend diskutieren Antje Pabst und Christine Zeuner („Lesen und Schreiben – Kulturtechnik oder soziale Praxis“) den Ansatz „Literalität als soziale Praxis“, der in Deutschland bisher kaum rezipiert worden sei. Eine intensivere Auseinandersetzung mit diesem Konzept könne „dazu beitragen, die Debatten über Schriftsprachlichkeit zu erweitern, neue Perspektiven auf Literalität zu eröffnen und damit auch die eigenständigen Leistungen von Menschen mit geringen Lese- und Schreibkenntnissen anzuerkennen“ (S. 70).
Die Forschung zu Illiteralität ist Gegenstand des Beitrages von Ekkehard Nuissl und Ewa Przybylska („Alphabetisierung: Forschungslinien“), bevor Anke Grotlüschen, Hauptverantwortliche für die leo.-Level-One Studie, einen genauen, statistisch untermauerten Bericht über ebendiese liefert („Zur Größenordnung des funktionalen Analphabetismus in Deutschland“).
Zu Ende des ersten Kapitels widmet sich Barbara Nienkemper „Internationalen Vergleichsstudien zur Literalitätskompetenz“, indem sie zum einen die entsprechenden Studien zur Erfassung der Literalitätskompetenz chronologisch aufführt und zum anderen die bildungspolitischen sowie forschungsrelevanten Konsequenzen aus den Ergebnissen skizziert.
Zu II.
(Theorien und Forschungsansätze)
Am Anfang stehen hier „Zentrale theoretische Ansätze und ihr Einfluss auf unser Denken und Handeln bei funktionalem Analphabetismus“, eine Ausarbeitung von Michael Grosche, Anne Wohne und Jascha Rüsseler. Die AutorInnen betrachten funktionalen Analphabetismus aus soziologischer, pädagogischer und psychologischer Perspektive, definieren sowohl die Ansätze als solche als auch die ihnen zugrundeliegenden Menschenbilder. Abschließend weisen sie darauf hin, dass jede der Perspektiven „blinde Flecken“ habe, die durch die anderen Sichtweisen zu erhellen seien.
An Pierre Bourdieus Habitustheorie orientieren sich Helmut Bremer und Natalie Pape („Adressat/inn/en-, Teilnehmenden- und Zielgruppenforschung“). Anhand vier verschiedener Fallstudien verdeutlichen sie „Habitus- und milieuspezifische Zugänge zu Literalität“ (S. 155), die in ihrer Gesamtheit unterstreichen, „dass Einstellungen zu Lesen und Schreiben sowie damit verbundene Praktiken meist früh erworben und im Habitus verinnerlicht werden und dann in langfristige Strategien der Lebensführung und -bewältigung einmünden“ (S. 160).
Frauke Bilger fokussiert im Folgenden das Teilprojekt „AlphaPanel“ der „Verbleibsstudie zur biographischen Entwicklung ehemaliger Teilnehmer/innen an Alphabetisierungskursen […]“ (S. 165). In ihrem Beitrag „Kursforschung am Beispiel AlphaPanel“ erläutert sie u.a., wie eine als „testaversiv eingestufte Gruppe“ dazu bewegt werden kann, an Befragungen teilzunehmen. AlphaPanel selbst zeige, dass viele Teilnehmende an VHS-Alphabetisierungskursen zwar lange im Kurs blieben, aber dennoch keinen nennenswerten Fortschritt in der schriftsprachlichen Kompetenz aufwiesen.
„Biografisch-narrative Forschung in der Alphabetisierung und Grundbildung“ – so Birte Egloff in ihrem gleichnamigen Text – sei bereits in den ersten Berichten über funktionale Analphabeten relevant gewesen, es gelte, sie erziehungswissenschaftlich zu begründen und zu zeigen, welche Schlüsse bislang daraus gezogen werden konnten. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Bedeutung des Kurses für die Biografie der Teilnehmer – dieser könne ein „beständiges und stabilisierendes Element in der Biografie sein“, ein „biografischer Ankerpunkt“, ein „Auslöser von Emanzipationsprozessen und Übergängen“, er könne aber auch „aus der Perspektive marginaler Relevanz“ betrachtet werden (S. 195/196).
Zu III.
(Kontexte, Zielgruppen und Interventionsformen)
Die acht Beiträge dieses Kapitels führt Sven Nickel an mit „Family Literacy. Familienorientiertes Lernen im Kontext von Grundbildung“. Er betont, dass es ein relativ neues Verfahren sei, die gesamte Familie in Lernprozesse einzubinden, was dem Wunsch vieler Teilnehmenden an Grundbildungs- und Alphabetisierungskursen, ihre Kinder beim Lernen unterstützen zu können, entgegenkomme. Nickel erläutert die Organisationsformen von Family-Literacy-Programmen, gibt Beispiele für Family-Literacy-Aktionen und fächert den aktuellen Diskurs um Family Literacy in „sieben Debatten“ auf, um schließlich sechs Prinzipien für den Aufbau erfolgreicher Family-Literacy-Programme zu konkretisieren.
Diana Feick und Karen Schramm verfolgen das Thema „Alphabetisierung mit Migrantinnen und Migranten“, indem sie auf die damit verbundenen besonderen Herausforderungen und insbesondere die methodischen Grundlagen der zweitsprachlichen Alphabetisierung eingehen. Zu beklagen sei, dass sich die Alphabetisierung mit MigrantInnen seit den 1990er Jahren kaum entwickelt habe, „vielversprechende transitorische und simultane Modelle“ seien „aufgrund sprachen- und bildungspolitischer Vorgaben kaum weiterverfolgt worden“ (S. 222).
Nachdem Afra Sturm „basale und erweiterte Fähigkeiten“ beim Lesen und Schreiben im Allgemeinen definiert hat, stellt sie „basale Fertigkeiten bei Berufslernenden“ in das Zentrum ihrer Ausführungen mit dem Titel „Flüssiges Lesen und Schreiben in Berufsschulen – keine Selbstverständlichkeit“. Im Hinblick auf Förderungsmaßnahmen sei im Berufsschulkontext die Unterscheidung von basalen und erweiterten Fähigkeiten sinnvoll. Erst dann, wenn die basalen Lese- und Schreibprozesse automatisiert seien, könne man sich auf die Herausbildung erweiterter Fähigkeiten einlassen.
Im dann folgenden Beitrag („Arbeitsplatzorientierte Grundbildung“) entwirft Joachim Schroeder „Aufgabenfelder einer Didaktik arbeitsplatzorientierter Grundbildung“, deren Aufgabe es zunächst sei, an vorhandene Lernarrangements anzuknüpfen und dabei zu überprüfen, ob diese für den jeweiligen Betrieb passend seien.
Dass Analphabetismus gerade in den letzten Lebensdekaden sehr belastend sein kann, erläutert Jürgen Genuneit in dem Unterkapitel „Analphabetismus und Alphabetisierung im Alter“. Den „Folgen von Analphabetismus im Alter“ stellt er die „Folgen einer erfolgreichen Alphabetisierung“ gegenüber. Dabei geht er nicht nur sehr detailliert vor, sondern bereichert die einzelnen Punkte seiner Darstellung mit vielfältigen literarischen Beispielen. Er schließt, ganz praktisch orientiert, mit dem Hinweis auf verschiedene Dinge, die in einem Alphabetisierungskurs für ältere TeilnehmerInnen beachtet werden sollten.
Danach nimmt Lilo Dorschky in „Soziale Arbeit im Kontext der Erwachsenenbildung“ drei verschiedene Bezugsstrukturen zwischen Erwachsenenalphabetisierung und Sozialer Arbeit in den Blick: Alphabetisierungskurse als sozialpädagogische Arbeit, „Institutionen der Sozialen Arbeit als mögliche Akteure in Alphabetisierungsnetzwerken sowie als potenzielle neue Lernorte“ und schließlich „das Verhältnis von Erwachsenenbildung und Sozialpädagogik in Bezug auf die Erwachsenenalphabetisierung“ (S. 264). Damit verdeutlicht die Autorin, dass hinter den Überlegungen zu einem sozialpädagogisch geprägten Tun oftmals ein stigmatisierendes Adressatenbild steht.
Rosemarie Klein fokussiert sodann „Lernberatung in der Grundbildung Erwachsener“, indem sie zunächst verschiedene „Lernberatungsverständnisse“ sowie „theoretische Fundamente von Lernberatung“ charakterisiert und sich schließlich der Lernberatung im Projekt FAKOM (Förderung arbeitsplatzbezogener kommunikativer Kompetenzen bei Migrant/innen in der Altenhilfe) zuwendet.
Einer tendenziell eher randständigen, aber nicht minder gesellschaftlich bedeutenden Zielgruppe wendet sich Michael Lasthaus zu: „Grundbildung in Maßregelvollzug und Strafvollzug“ wirft einen kurzen Blick auf die Geschichte des Maßregelvollzugs, bei dem es um die Unterbringung psychisch kranker Straftäter geht. Lasthaus definiert Maßregelvollzug, stellt Lernangebote vor, umreißt die Lernvoraussetzungen der Teilnehmenden in der „Patientenschule“, fragt, ob sich Aufwand und Kosten lohnen und würdigt abschließend die Grundbildungsmaßnahmen im Maßregelvollzug als „besonderes Beispiel aufsuchender Grundbildungsarbeit“ (S. 306).
Zu IV.
(Institutionelle, finanzielle und rechtliche Rahmenbedingungen im deutschsprachigen Raum)
Mit lediglich drei Studien präsentiert sich dieses Kapitel als das kürzeste des Handbuchs. Nachdem Doris Hirschmann und Jens Korfkamp die „Hauptakteure der Alphabetisierung Erwachsener in Deutschland“ vorgestellt und das Manko von bundesweiten Weiterbildungsgesetzen hervorgehoben haben, weitet Antje Doberer-Bey die Perspektive auf Österreich („Basisbildung in Österreich: Vom Experiment zur Institutionalisierung“) und Cäcilia Merki auf die Schweiz („Die Förderung der Grundkompetenzen in der Schweiz“).
Zu V.
(Lehren und Lernen in der Grundbildung)
Während der Aspekt Grundbildung in den ersten vier Kapiteln eher am Rande zur Sprache gekommen ist, steht er in den letzten Studien im Mittelpunkt des Interesses. Hinzu treten konkretere Fragen der Didaktik zu beiden thematisierten Bereichen.
Zunächst umreißen Jens Korfkamp und Susanne Kley das „Berufsfeld Alphabetisierung und Grundbildung“. Sie betonen, dass eine hauptberufliche Tätigkeit in der Erwachsenenbildung attraktiver sein müsse, denn eine stärkere Professionalisierung könne nur mit einer Anpassung der Gehälter einhergehen. Der Unterschied zwischen dem Brutto-Jahresgehalt für Lehre in der Erwachsenenbildung und für Lehre im Sekundarbereich I betrage derzeit etwa 32.150 Euro (vgl. S. 347).
Danach entwirft Angela Rustemeyer einen „Bezugsrahmen für den Grundbildungsunterricht“, indem sie verschiedene digitale und analoge Curricula für Grundbildungsunterricht vorstellt.
Cordula Löffler und Susanne Weis systematisieren eine „Didaktik der Alphabetisierung“, deren Lernangebote sich auf die Lebens- und Arbeitswelt der Lernenden beziehen sollten. Nur wenn der Nutzen der Schriftsprache für die Kursteilnehmenden einsichtig sei, könne diese dauerhaft Relevanz für den Alltag gewinnen.
„Förderdiagnostik in der Alphabetisierung“ – so Rüdiger-Philipp Rackwitz – ziele darauf ab, den Lernstand der Kursteilnehmenden festzustellen, dabei nicht nur Defizite hervorzuheben, sondern idealerweise auf bereits vorhandenen Kompetenzen aufzubauen. Die „förderdiagnostische Arbeit“ dürfe nicht als „mechanistische Routine ablaufen“ (S. 392), sondern die Lernenden sollen dialogisch in den Feststellungsprozess eingebunden werden.
Mit der in den letzten Jahren intensiv diskutierten „Leichten Sprache“ befasst sich Bettina M. Bock in ihrem gleichnamigen Beitrag. Sie differenziert zwischen „leichter“, „einfacher“ und „bürgernaher Sprache“, bevor sie zu dem Schluss kommt, dass das didaktische Potenzial von leichter Sprache implizit sei und vor allem die Herausforderung bestehe, „Texte in natürlichen Handlungskontexten“ (S. 404) auch in leichter Sprache anzubieten.
„Digital gestütztes Lernen in der Alphabetisierung und Grundbildung“, dies beweisen Falk Howe und Marc Thielen, kann auf eine große Anzahl von Plattformen und Lernportalen zurückgreifen. Die Autoren unterstreichen jedoch, dass digitale Medien nicht selbstzweckhaft sein dürften, ihr Mehrwert müsse allen Beteiligten bewusst sein.
Wie facettenreich Grundbildung im Erwachsenenalter ist, erhellen die letzten vier Texte des Bandes. Hier geht es um Mathematik (Andreas Kittel: „Mathematische Grundbildung im Erwachsenenalter“), Ökonomie (Tim Engartner: „Ökonomische Grundbildung“), Salutogenese (Marion Döbert und Markus P. Anders: „Health Literacy im Kontext von Alphabetisierung und Grundbildung“) und nicht zuletzt Politik (Jens Korfkamp: „Politische Grundbildung“).
Diskussion
Es steht außer Zweifel, dass im „Handbuch zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ so gut wie alle forschungsrelevanten Fragestellungen im Umkreis der umfassenden Thematik aufgegriffen und auf der Basis ausgeprägter fachlicher Kompetenz präsentiert und diskutiert werden. Alle AutorInnen gehen sehr systematisch vor, die Ausführungen sind sehr gut nachvollziehbar und werden nach jedem Beitrag mit ausführlichen Quellenangaben ergänzt. Ein Stichwortverzeichnis am Ende des Bandes hätte den Informations- bzw. Recherchewert jedoch noch gesteigert.
Positiv hervorzuheben sind der große Facettenreichtum an sowohl quantitativ als auch qualitativ orientierten Methoden und vielerlei Ansätze für die pädagogische Praxis. Hinzu treten Desiderate sowohl für weitere Forschungen als auch für die Arbeit mit den sehr heterogenen oder vielleicht besser diversen Zielgruppen. Dabei wird oftmals betont, dass eine defizitorientierte Sicht auf die AdressatInnen der Alphabetisierung zugunsten einer ressourcenorientierten aufgegeben werden müsse. Des Weiteren ist zu erwähnen, dass auch die Erörterung der institutionellen Rahmenbedingungen eine angemessene Rolle spielt und dass mit der Integration von internationalen Studien zu Illiteralität über den Tellerrand Deutschlands hinausgeschaut wird. So scheinen keine Wünsche der möglichen RezipientInnen, laut Klappentext in erster Linie Studierende der Lehrämter und Lehrende in der Erwachsenenbildung, offen zu bleiben.
Und dennoch: manchmal drängt sich der Eindruck auf, dass am Individuum, an den Subjekten der Zielgruppe, an den Menschen in all ihrer Vielfalt vorbei argumentiert wird, weil statistische Erhebungen und methodologische Erwägungen die konkrete Hinwendung zum pädagogischen Tun manchmal ins Abseits schieben. Die Passung zwischen der intendierten Adressatengruppe und der Darstellung scheint also nicht immer ganz gelungen, denn im Gesamteindruck liegt tendenziell eher ein wissenschaftlicher Abriss vergangener Forschung vor als ein ebenfalls wissenschaftlich orientiertes Kompendium, das vor allem die AkteurInnen in der täglichen Praxis anspricht. Das ist einerseits eine gute Sache, andererseits entspricht die Publikation damit nur bedingt dem Anliegen der Gattung Handbuch.
Allerdings, und das ist hervorragend, lassen sich eine Reihe exzellenter Gegenbeispiele anführen, quasi die „Highlights“ des Bandes, die an dieser Stelle noch einmal pointiert werden sollen: aus dem Bereich Theorien und Forschungsansätze (II) sind Michael Grosche, Anne Wohne und Jascha Rüsseler zu nennen, deren interdisziplinäre Ausführungen zu den unterschiedlichen theoretischen Ansätzen bei funktionalem Analphabetismus nicht nur in hohem Maße lesenswert und aufschlussreich sind, sondern in der Alphabetisierungspraxis problemlos anschlussfähig sein dürften. Sehr zu begrüßen ist, dass Helmut Bremer und Natalie Pape nicht nur Fallstudien präsentieren, sondern ebenfalls, wenn auch nur in kurzen Zitaten, Teilnehmende an Alphabetisierungskursen zu Wort kommen lassen. In dieselbe Richtung bewegt sich Birte Egloffs sehr gelungene Würdigung biografisch-narrativer Forschung in der Alphabetisierung im Allgemeinen und zu den von Teilnehmenden ausgehenden Deutungen der Kurse im Besonderen.
Im folgenden Kapitel, Kontexte, Zielgruppen und Interventionsformen (III), richtet Sven Nickel die Überlegungen zu „Family Literacy“ sehr plastisch und praktisch aus. Es gelingt ihm vorzüglich, das Innovationspotenzial dieses in Deutschland relativ neuen Ansatzes für das pädagogische Handeln zu funktionalisieren. Erwähnt werden muss im Rahmen des Kapitels III auch Michael Lasthaus, dessen Beitrag einen wertvollen Einblick in eine besondere Art des Lehrens bietet.
Für die weiter oben erwähnten AdressatInnen des Handbuches dürften indessen nahezu alle Aufsätze des letzten Kapitels, Lehren und Lernen in der Grundbildung (V), von höchstem Interesse sein. So etwa beinhaltet Angela Rustemeyers „Bezugsrahmen für den Grundbildungsunterricht“ genauso eine Reihe von konkreten Tools wie Falc Howes und Marc Thielens „Digital gestütztes Lernen in der Alphabetisierung und Grundbildung“. Die folgenden vier Präsentationen unterschiedlicher Disziplinen der Grundbildung, in denen jeweils ein kurzer theoretischer Abriss vorgenommen wird, den Bemerkungen zur Relevanz des Faches für die Alphabetisierungspraxis ergänzen, bilden einen höchst gelungenen Abschluss des Handbuchs.
Letztendlich könnte man nahezu von einer klimaktischen Anordnung der Beiträge sprechen, gäbe es nicht einen glanzvollen Mittelpunkt, der idealerweise für zukünftige Arbeiten Modellcharakter haben sollte. Wenn man „Analphabetismus und Alphabetisierung im Alter“ von Jürgen Genuneit liest, kann man sich der prononcierten Sogwirkung des zitatengetränkten Texts nicht verschließen. Die Stellungnahme einer älteren Teilnehmenden an einem Alphabetisierungskurs und in erster Linie die geschickt gewählten Beispiele aus der deutschen, französischen, italienischen und polnischen Literatur gewähren den LeserInnen Einlass in die Gefühlswelt von Menschen, die sich manchmal sogar innerhalb der eigenen Familie als ausgegrenzt erleben, sich nicht selten in ihrem Stolz und ihrer Würde verletzt fühlen. Wenn auch nur in einem Fall authentisch und direkt aus dem Leben gegriffen, illustrieren doch alle kurzen Exzerpte, wo biographisch-narrative Forschung ansetzen sollte.
Fazit
Das „Handbuch zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ bietet mit seinem grundlegend globalen Ansatz eine sehr breitgefächerte und intensive Auseinandersetzung mit einem Themenkomplex, in dem sich pädagogisches Handeln mit den Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe verschränkt. Obwohl man sich für ein Handbuch vielleicht eher eine Monographie hätte wünschen dürfen, obwohl die hier versammelten Beiträge eines großen Autorenteams nicht ganz frei von Redundanzen sind, können die klaren Vorteile der multiperspektivischen Darstellungsform punkten: sie verdeutlicht, dass es nicht eine Form des Umgangs mit einem nach wie vor für viele Menschen akuten Problem gibt, sondern dass man sich ihm auf verschiedene Arten annähern kann. So erweist es sich auch als eine gute Idee, über den Umgang mit Devianz und Diversität auf einer Metaebene auch so zu schreiben: deviant insofern, als ein Handbuch eher kein Sammelband ist und divers wegen der zuletzt genannten Gattung. In dieser Multiperspektivität bestechen so gut wie alle Beiträge, das ist abschließend noch einmal zu betonen, durch eine äußerst systematische Vorgehensweise und liefern damit Erkenntnisse, die eine gute Basis für weitere Forschungen zur Alphabetisierung und Grundbildung etablieren.
Rezension von
apl. Prof. Dr. Anne Amend-Söchting
Literaturwissenschaftlerin (Venia legendi für Romanische Literaturwissenschaft, Französisch und Italienisch) sowie Dozentin an einer Fachschule für Sozialpädagogik.
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Es gibt 40 Rezensionen von Anne Amend-Söchting.
Zitiervorschlag
Anne Amend-Söchting. Rezension vom 21.07.2017 zu:
Cordula Löffler, Jens Korfkamp (Hrsg.): Handbuch zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener. Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2016.
ISBN 978-3-8252-8683-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22308.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
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