Renate Höfer, Kristin Teuber u.a.: Verwirklichungschance SOS-Kinderdorf
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 19.04.2017

Renate Höfer, Kristin Teuber, Ylva Sievi, Florian Straus: Verwirklichungschance SOS-Kinderdorf. Handlungsbefähigung und Wege in die Selbstständigkeit. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2017. 374 Seiten. ISBN 978-3-8474-2037-8. D: 34,90 EUR, A: 35,90 EUR.
Capability Approach: Maßstab für menschliche Entwicklung
Der vom indischen Ökonomen Amartya Sen, von der US-amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum und weiteren internationalen Expertinnen und Experten entwickelte „Befähigungsansatz“ beruht auf den real existierenden Möglichkeiten und Bedingungen, wie Individuen in vorherrschenden politischen und gesellschaftlichen Prozessen das Recht auf ein gutes, gelingendes Leben verwirklichen können. Grundlage dafür ist das Maß, in welcher Weise und Kompetenz Aufgeklärtheit und Freiheit bei der Verwirklichung von individuellen und sozialen Rechten vorherrschen und gelebt werden können. Diese „Verwirklichungschancen“ zeigen sich bei den verschiedenen, individuellen und kollektiven Daseinsformen und -situationen der Menschen. Von besonderer Bedeutung ist dabei der entwicklungspsychologische und soziale Blick auf Kinder und Jugendliche in den außerfamilialen Prozessen, etwa in der Sozialen Arbeit, der pädagogischen Betreuung, der institutionellen, stationären Erziehungshilfe und Unterbringung bei prekären, belasteten und delinquenten Situationen und Verhaltensweisen.
Entstehungshintergrund und Autorenteam
Eine der gesellschaftlich institutionalisierten Systeme stellt die Heimerziehung dar; und hier speziell die Erziehung in SOS-Kinderdörfern: „Die SOS-Kinderdörfer verfolgen den Anspruch, jungen Menschen ein Aufwachsen unter möglichst guten Bedingungen zu bieten, damit sie sich persönlich angenommen, individuell gefördert und in einer Gemeinschaft eingebunden fühlen können“. Die pädagogische Idee wurde 1949 vom Tiroler Herman Gmeiner entwickelt und zu einer weltweiten sozialen Initiative ausgebaut.
In mehr als einhundert Ländern gibt es mittlerweile SOS-Kinderdörfer, in Deutschland 16. Über Konzepte, Organisationsformen, theoretische und praktische Arbeit in den SOS-Kinderdörfern liegen zahlreiche Veröffentlichungen und Auseinandersetzungen vor. Das Sozialpädagogische Institut des SOS-Kinderdorf e.V. (SPI) ist innerhalb der privaten, engagierten Initiative der stationären Erziehungshilfe gewissermaßen das Theorie- und Forschungsdach und nimmt sich jeweils bedeutsame und gesellschaftlich herausfordernde Fragestellungen vor.
Mit der Studie „Verwirklichungschance SOS-Kinderdorf – Handlungsbefähigung und Wege in die Selbständigkeit“ wird der wissenschaftliche, internationale Capability-Ansatz zum Anlass genommen und danach gefragt, welche Möglichkeiten, Chancen und Risiken die pädagogische und Erziehungsarbeit in den SOS-Kinderdörfern für Gemeinschaftsbildung und Verselbständigung der Kinder und Jugendlichen bietet. Die Forschungsfrage gründet auf der These, „dass junge Menschen, die ein hohes Maß an Handlungsbefähigung entwickeln konnten, im Erwachsenenalter besser zurechtkommen werden“.
Der Bericht über das Forschungsvorhaben wird von der Psychologin und wissenschaftlichen Mitarbeiterin des Münchner Instituts für Praxisforschung und Projektberatung (IPP), Renate Höfer, der Soziologin und wissenschaftlichen Mitarbeiterin an der Münchner Universität der Bundeswehr und beim Deutschen Jugendinstitut (DJI), Yiva Sievi, vom Geschäftsführer des IPP, Florian Straus, und der Leiterin des SPI, Kristin Teuber, vorgelegt.
Aufbau und Inhalt
Die Studie wird in sechs Kapitel gegliedert.
- Im ersten werden einleitende Informationen zur Thematik „Verwirklichungschance SOS-Kinderdorf“ gegeben und der konzeptionelle Rahmen der Forschungsarbeit abgesteckt;
- im zweiten werden „die Jugendlichen in den SOS-Kinderdörfern unter dem Gesichtspunkt einer Belastungs-Bewältigungs-Perspektive“ betrachtet;
- im dritten wird „Gemeinschaft als Verwirklichungschance im SOS-Kinderdorf“ reflektiert;
- im vierten geht es um „Handlungsbefähigung als Schlüsselkompetenz für ein gelingendes Leben“;
- im fünften um „Verselbständigung als Verwirklichungschance im SOS-Kinderdorf“;
- und im sechsten Kapitel fassen die Autoren die „Verwirklichungschance SOS-Kinderdorf“ als konzeptionelle Überlegungen und Implikationen für die pädagogische Praxis zusammen.
Die Herausforderungen, die sich bei der Vermittlung und Etablierung einer existentiell sinnvollen und ethisch gerechtfertigten Handlungsbefähigung für ein gutes, gelingendes und gerechtes Leben ergeben, lassen sich lapidar in der Einschätzung und Auseinandersetzung darüber formulieren, „was ist, was man hat, was man kann und wozu man fähig ist“. Dieser Prozess beruht auf
- dem Erkennen der eigenen Situation und eines Handlungsbedarfs,
- dem Erkennen und Abschätzen der verfügbaren individuellen und in der Konstellation gegebenen Handlungsoptionen und -ressourcen,
- sowie der Fähigkeit, kontextangemessen zu handeln.
Die empirische Analyse, um welche Kinder und Jugendliche es sich handelt, die in der Studie zu Gesichtspunkten von Belastungs-Bewältigungs-Perspektiven zu Wort kommen. Das Forscherteam hat insgesamt 312 junge Menschen zwischen zwölf und achtzehn Jahren befragt und interviewt. Dabei geht es um Belastungsstörungen und Probleme, die zum einen in ihren biographischen Erfahrungen und Defiziten zu suchen sind, zum anderen in Wirkungen und Auswirkungen, die sich in der traditionellen, familienorientierten Wohn- und Lebensform im SOS-Kinderdorf entwickelt haben. Die dezidierten, statistischen und analysierten Angaben bieten eine Fülle von Interpretations- und Erklärungsmuster an. Spezifische Fallstudien erlauben zudem genauere Einblicke und Vergleichsmöglichkeiten. Sie vermitteln so eine Aufmerksamkeit für multifaktorielle Zusammenhänge.
Mit dem Begriff Kinder-„dorf“ wird bereits eine Vorstellung von „Gemeinschaft“ vermittelt, die auf Aspekte wie „liebevolles Zuhause, Geborgenheit, Zugehörigkeit, Zuwendung, Halt und stabile Begleitung“ verweist. Eine objektive, nachweisbare und aussagekräftige Antwort auf die Frage, ob es sich bei diesem Bild um einen „Schonraum“ oder um eine „Käseglocke“ handelt, lässt sich nur in Situationen des Verstehens, des Verständigens und des Vertrauens ermitteln. Die Studie zeigt auf, dass es sich in vielen Fällen um langandauernde Eingewöhnungs- und Erfahrungsprozesse handelt, die gelingen und misslingen können: „Es braucht lange, bis die Mädchen und Jungen die Möglichkeit einer langfristigen und von Kontinuität geprägten Zeit des Aufwachsens als eine Verwirklichungschance für sich sehen können“.
Bewusstseins- und Handlungsbefähigungen sind nicht per se vorhanden; sie sind auch nicht grundsätzlich in den institutionellen, pädagogischen und organisatorischen Strukturen eingelagert. Es ist deshalb theoretisch und praktisch bedeutsam, danach zu fragen, wie die Fähigkeit entsteht, resilient zu denken und zu handeln. Dass es sich dabei, etwa im Vergleich zu familialen oder schulischen Kompetenzvermittlungen, bei Formen der Heimerziehung um spezifische Methoden und Instrumente handelt, stellt sich bei pädagogische und erziehungswissenschaftlicher Betrachtung erst einmal als Überraschung dar.
Die bei allen Erziehungs- und Bildungsprozessen notwendige Beachtung von vergangenheitsbezogenen, gegenwartsbestimmten und zu zukunftsorientierten Bedingungen im Leben der Menschen müssen bei der Untersuchung von Entwicklungen zur Verselbständigung als Verwirklichungschancen bei der Erziehung im SOS-Kinder (und natürlich nicht nur dort) besonders beachtet werden; und zwar nicht nur deshalb, weil beim zeitlich und situationsbestimmten Ankommen der zu Erziehenden gleichzeitig ein Paket von bekannten und unbekannten Problemen mit geliefert wird, sondern auch, weil die bestimmte Form der familienähnlichen, professionellen Heimerziehung innere und äußere Einflüsse durch Erziehungskräfte und Probanden, interne und externe Institutionen. Rechts-, Beaufsichtigungs- und Kontrollmechanismen wirksam sind. Das Ziel, den Kindern und Jugendlichen Einstellungen und Kompetenzen zu vermitteln, die sie befähigen, während und nach dem Aufenthalt im Kinderdorf ein selbständiges und selbstbestimmtes Leben führen zu können, braucht den pädagogischen, gesellschaftspolitischen und professionellen Blick bei allen beteiligten Erziehungskräften, und das Bewusstsein von der Bedeutung des „Jetzt“ und „Danach“. Die Studie vermittelt dies durch Fallbeispiele.
Fazit
Es sind vor allem die empirisch ermittelten und dezidiert ausgewiesenen Erziehungssituationen, wie sie sich bei der Betreuung von Kindern und Jugendlichen in SOS-Kinderdörfern zeigen, die den theoretischen Rahmen beim Konzept des Capability-Approachs vorgeben und die Umsetzungsperspektiven für die pädagogische Praxis bestimmen. Mit der Darstellung des Theorie-Praxis-Bezugs bei der Vermittlung der Handlungsbefähigung für Kindern und Jugendliche in SOS-Kinderdörfern werden gleichzeitig pädagogische Analysen und Handlungsanweisungen aufgezeigt, die sich als Modell – nicht nur für die genannte Heimerziehung – anbieten und sich in ausgewiesenen Befähigungen darstellen: Der Faktor „Sinn“ als Erkenntnis-, der Faktor „Verstehen“ als Erklärungs-, der Faktor „Selbstverwirklichung / Manageability“ als Können-, der Faktor „Perspektivität“ als Überblicks-, der Faktor „Optimismus / Sich-selbst-mögen“ als Identitäts-, und drm Faktor „soziale Zugehörigkeit / Unterstützung“ als Vertrauensgewinn.
Die Studie des Sozialpädagogischen Instituts des SOS-Kinderdorf e.V. vermittelt eine Fülle von empirischen Daten, Problemstellungen und Imponderabilien, die für die Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen – nicht nur bei den speziellen Fällen der institutionalisierten, heimbezogenen und familienorientierten Erziehung in den SOS-Kinderdörfern – bedeutsam und beachtenswert sind. Es ist das Verdienst des Forschungsvorhabens, den pädagogischen, erziehungswissenschaftlichen und gesellschaftlichen Blick darauf zu richten, wo und wie in der stationären Erziehungshilfe das „Gefühl der Zuversicht und damit die Handlungsbefähigung von Jugendlichen (ge)förder(t) werden kann“. Die Initiatorinnen und Initiatoren leisten damit einen wichtigen Beitrag bei der Heimerziehungsforschung.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 19.04.2017 zu:
Renate Höfer, Kristin Teuber, Ylva Sievi, Florian Straus: Verwirklichungschance SOS-Kinderdorf. Handlungsbefähigung und Wege in die Selbstständigkeit. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2017.
ISBN 978-3-8474-2037-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22314.php, Datum des Zugriffs 27.03.2023.
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