Hartmut Rosa, Wolfgang Endres: Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert
Rezensiert von Prof. Dr. Erich Hollenstein, 12.04.2017

Hartmut Rosa, Wolfgang Endres: Resonanzpädagogik. Wenn es im Klassenzimmer knistert. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2016. 2., erweiterte Auflage. 136 Seiten. ISBN 978-3-407-25768-0. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 27,90 sFr.
Thema
Der vorliegende Band beschäftigt sich mit Interaktionsbeziehungen in der Schule. Es interagieren vornehmlich Schülerinnen und Schüler mit Lehrerinnen und Lehrern aber auch mit dem Stoff, den es zu vermitteln gilt. Diese vielfältigen Beziehungen bleiben aber „stumm“ wenn keine Resonanz entsteht. So gesehen ist Resonanz ein Medium welches Menschen aber auch die Themen zum Sprechen bringt mit dem Bildungsziel, Weltverhältnisse von Schülerinnen und Schülern zu verändern oder zu entwickeln.
Zwischen Hartmut Rosa und Wolfgang Endres wird dem Resonanzphänomen in Form eines Gesprächs bzw. Interviews nachgespürt und entsprechend analysiert. Der Leitfaden des Buches lautet:
„Mit der Welt in Beziehung treten,
sich Welt anverwandeln.
Auch in der Lernwelt Schule.“
Autoren
Hartmut Rosa ist Soziologieprofessor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Akademieleiter der Deutschen SchülerAkademie.
Wolfgang Endres ist Pädagoge und Programmplaner der BeltzForum-Bildungskongresse.
Das Buch schließt mit einem Glossar und einem Nachwort von Reinhard Kahl: „Einen Kopf größer“ – Oder: Die Grammatik des Gelingens.
Aufbau
In dreizehn Abschnitten werden die Resonanzbeziehungen und der Resonanzraum Schule erkundet. Die folgende Rezension kann aus der Lebendigkeit der Argumentationen und der geäußerten Ideenvielfalt nur Auszüge wiedergeben.
Inhalt
Von der Zeit- zur Resonanzforschung. Der Entschleunigungstheoretiker Rosa erläutert wie er über die Beschäftigung mit Beschleunigungs- und Entschleunigungsprozessen in der Gesellschaft zur Resonanzforschung gekommen ist.
Pädagogische Resonanz auf den Punkt gebracht. Es knistert wenn die Lehrerin oder der Lehrer im Unterricht eine derartige Aufmerksamkeit herstellen, dass eine Berührung stattfindet. Das gilt für die Stoffvermittlung aber z.B. auch für den Fall von Konflikten im Klassenraum. Die dann entstehende Wirkung nennt Rosa Anverwandlung, die mehr ist als Aneignung, sie ist sozusagen ein potenziertes Bildungsereignis. Anverwandlung geschieht im Klassenraum auch in den Beziehungen der Schülerinnen und Schüler untereinander. „Der neue Begriff meint Pädagogik als Verstehen eines Bildungsgeschehens“ (S.20).
Momente des Mitschwingens im Unterricht. Augen sind Resonanzfenster für kleine und große Menschen, die innerlich für eine Sache brennen. So kann zwischen Schülerinnen und Schülern und ihren Lehrerinnen und Lehrern eine Resonanzachse entstehen. Resonanz erweist sich dann als eine grundlegende Fähigkeit zu einer Beziehungsaufnahme, die bereits im Säuglingsalter feststellbar ist. Solche Resonanzen treten auch auf zwischen Menschen und Dingen. Rosa zitiert Rilke: „Die Dinge singen höre ich so gern“.
Schule als Resonanzraum. Widerstände gegen Resonanzbildung stellen Indifferenz und Repulsion dar. Unter solchen Bedingungen erfahren Schülerinnen und Schüler Unterricht und Schule als stumme Weltbeziehung, gekennzeichnet durch Ohnmachtserfahrungen und ohne Chance, Selbstwirksamkeit zu entwickeln. Die Schule ist dann eine Entfremdungszone, auf die auch immer wieder kritisch in jugendkulturellen Äußerungen durch Musik und Film aufmerksam gemacht wird. Auf diesem Hintergrund entwickelt Rosa das Entfremdungsdreieck: Lehrpersonen – Schülergruppe – Stoff. Die Resonanzachsen sind blockiert weil z.B. die Lehrerin sich bedroht oder die Schülergruppe sich überfordert fühlt. Demgegenüber steht das Resonanzdreieck „Die gelungene Stunde“, in dem die Resonanzachsen geöffnet sind. Dies geschieht z.B. dadurch, dass die Lehrerin durch ihre Begeisterung den Stoff zum Sprechen bringt. Aber beide Dreiecke sind in der Schulrealität miteinander verquickt und müssen zusammen gedacht werden. Es ist vor allem Aufgabe der Lehrpersonen, Entfremdungen aufzulösen: „Der Lehrer muss als erste Stimmgabel den Ton der Achsen zum Stoff hin erst einmal zum Klingen bringen“ (S.51).
Motivation durch Resonanzbeziehung. Resonanzbeziehung bedarf der Selbstwirksamkeit. Es wird dabei unterschieden zwischen einer Form des instrumentellen Erreichens und einer resonanzsensiblen Selbstwirksamkeit. D.h. mit Achtsamkeit zu Handeln und nicht mit Durchsetzung. Für Lehrpersonen bedeutet dies z.B. nicht in paternalistische Bevormundung zu fallen auch wenn sie den Schülerinnen und Schülern etwas Gutes zuwenden möchten. Auch darf hier nicht manipuliert werden, deshalb ist ein Vertrauensverhältnis erforderlich. Ein Lernimpuls seitens der Lehrperson der Begeisterung hervorruft ist keine Manipulation, sondern ein Appell sich auf das Neue einzulassen.
Feedback – Akzeptanz durch Resonanz. Feedback ist nur in einem Resonanzraum wirksam. Obwohl notwendig gibt es ein Problem, welches darin besteht, dass Schülerinnen und Schüler verletzlich sind und ihr Selbstwertgefühl herabgesetzt werden kann. Es gilt daher einen Resonanzdraht herzustellen, der seine Grundlage in gegenseitiger Wertschätzung hat.
Kompetenz und Resonanz in Dissonanz. „Kompetenz ist eine Aneignung, Resonanz meint Anverwandlung von Welt“ (S. 78). Bei dieser Anverwandlung treten auch Fehler und Risiken auf. Deshalb ist für Unterricht und Schule eine angstfreie Feedback-Kultur notwendig, also der offene Umgang mit Fehlern. Damit können Fehler auch zu konstruktiven Lern- und Bildungsprozessen führen.
Vertrauen schafft Resonanzzonen. Erwachsene, insbesondere Lehrerinnen und Lehrer, müssen Kindern einen Vertrauensvorschuss geben. Die damit gegebene Handlungsfreiheit stärkt das Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein der Schülerinnen und Schüler. Stärkt ebenso die Verantwortungsübernahme. Regeln und ihre Durchsetzung können Vertrauen eben nicht ersetzen.
Ein „Resonanzkompass“ als Orientierungshilfe. Wenn Resonanz eine Beziehung zwischen zwei Dingen herstellt, gilt es für Lehrerinnen und Lehrer zwischen diesen Dingen Brücken zu bauen. Schülerinnen und Schüler sind an dem Brückenbau zu beteiligen. In diesem Prozess ergeben sich Möglichkeiten, Orientierungen zu finden und nach neuen Problemlösungen zu suchen.
Beziehungsbildung im Smartphone-Zeitalter. Rosa sieht in der starken Bildschirmnutzung junger Menschen eine gewisse Verarmung, weil sich u.a. ein Monokanal zur Welt bildet. Eine Resonanzqualität entsteht eher nicht. Interaktionsformen und Weltbegegnungen jenseits des Bildschirms sind deshalb wichtig.
Humor als Indikator für Resonanzverhältnisse. Humor und Lachen sind motivierende Faktoren im Resonanzraum Schule. Das gilt aber nicht für das Auslachen und auch nicht für Witze auf Kosten anderer Schülerinnen und Schüler. Humor beinhaltet eine fehlertolerante Grundhaltung.
Eigene Resonanzerfahrungen des Resonanzforschers. Hartmut Rosa berichtet über seine biografischen Erfahrungen und Erlebnisse in Bezug zur Resonanzpädagogik. Darunter die Erfahrung als Lehrer in Deutschland und als Helfer für benachteiligte Kinder in New York. Resonanzerfahrung ergibt sich aber auch für ihn, wenn er die Kirchenorgel in einem Gottesdienst spielt.
Dank als Resonanz – Ein Schlusswort von Wolfgang Endres
In einem Nachwort von Reinhard Kahl wird u.a. die Tätigkeit Rosas an den Deutschen SchülerAkademien beschrieben. Rosa leitet im Jahr einen der dortigen mehrwöchigen Kurse – zum 19. Mal.
Diskussion
„Ein Kind ist kein Fass, das vollgestopft, sondern ein Feuer das entfacht werden will“. Diese Anmerkung stammt von dem französischen Schriftsteller und Humanisten Rabelais (1494-1553) und würde sicherlich den beiden Buchautoren gut gefallen. Es zeigt sich aber auch, dass die Geschichte der Pädagogik über eine Reihe alternativer Gedanken verfügt, die der Resonanzpädagogik nicht ganz so fern sind.
Höchstwahrscheinlich findet jeder Mensch, der sich seine Bildungsbiografie vor Augen hält Resonanzerlebnisse, die inner- und außerhalb der Schule entstanden sind. Dass Rosa und Endres diese außerordentliche Lern- und Bildungsqualität resonanzpädagogisch in die Schule und den Unterricht einbinden wollen ist ein mutiges Unterfangen. Die Frage bleibt, wie sich resonanzpädagogisches Handeln auf Dauer stellen lässt, zumal von einer gewissen Unverfügbarkeit ausgegangen wird und z.B. Unterrichtsplanung in Sinne der Resonanz einen schweren Stand hat.
Das Interview zwischen Endres und Rosa ist bisweilen etwas sprunghaft. Auch die begriffliche Konstruktion der Anverwandlung in Abgrenzung zur Aneignung ist nicht so recht überzeugend. Wir verstehen unter Aneignung einen vorwiegend aktiven Prozess, in dem das Subjekt einen Weltausschnitt verinnerlicht und sich dadurch bereichert, verändert und/oder verwandelt. Aber auch die Weltausschnitte verändern sich wenn z.B. im Resonanzspiel zwischen einer Schülerin und einer Lehrerin die „stumme“ Schule zu einer „sprechenden“ Schule wird. Diese Anmerkungen ändern aber nichts daran, dass die sehr ansprechend gestaltete Veröffentlichung eine außergewöhnliche Bereicherung des pädagogischen Denkens und Handelns in der heutigen Zeit darstellt. Der Band ist allen angehenden und auch erfahrenen Pädagoginnen und Pädagogen zu empfehlen. Eigentlich aber allen Menschen!
Fazit
Im Frage- und Antwortmodus zwischen den Autoren wird die Resonanzpädagogik erörtert, theoretische Grundlagen und insbesondere Praxisbezüge werden dargestellt. Dabei erweist sich Hartmut Rosa als sensibler Beobachter und erfahrener Analytiker der Schul- und Unterrichtswelt. Knistern im Klassenraum, Selbstwirksamkeit, Vertrauen und Feedback sind z.B. Merkmale, die einen Resonanzraum entstehen lassen und in ihm wirksam sind. Darin treten Schülerinnen und Schüler in einem gelingenden Unterricht mit der Welt in Beziehung. Die Veröffentlichung stellt eine bemerkenswerte Bereicherung des schulpädagogischen Diskurses dar: Eine Empfehlung für angehende wie auch erfahrene Pädagogen.
Rezension von
Prof. Dr. Erich Hollenstein
Mailformular
Es gibt 99 Rezensionen von Erich Hollenstein.