Karsten Kenklies, Maximilian Waldmann (Hrsg.): Queer Pädagogik
Rezensiert von Prof. Dr. Melanie Plößer, 11.08.2017
Karsten Kenklies, Maximilian Waldmann (Hrsg.): Queer Pädagogik. Annäherungen an ein Forschungsfeld. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2017. 238 Seiten. ISBN 978-3-7815-2137-7. D: 18,90 EUR, A: 19,50 EUR.
Thema
Der Begriff „queer“ ist mittlerweile auch in den deutschsprachigen Sozial- und Kulturwissenschaften zu einem wichtigen Bezugspunkt machtkritischer Analysen geworden. So avancierte „queer“ zum Sinnbild für einen neuen Umgang mit Differenzen, bei dem es nicht um deren Anerkennung geht, sondern um die Infragestellung solcher symbolischen Ordnungen, die die Vorstellung von Identität und Differenz, von „normal“ und „anders“ erst (re-)produzieren. Zugleich wird mit dem Begriff auf die Gewaltförmigkeit von Identitätskonstruktionen und die damit einhergehenden Normierungen, Essentialisierungen und Ausschlüsse aufmerksam zu machen gesucht. Für die Pädagogik, für die der Bezug auf und der Umgang mit Differenz konstitutiv ist, erweist sich folglich die Entwicklung einer Queer Pädagogik als vielversprechendes Projekt.
Die Konturierung einer solchen Queer Pädagogik ist deshalb auch das Anliegen des von Karsten Kenklies und Maximilian Waldmann herausgegebenen Sammelbandes „Queer Pädagogik. Annäherungen an ein Forschungsfeld“. Da eine Zusammenführung von Queer Theorien und Pädagogik noch ausstehe, verstehen sie ihren Sammelband „sowohl als Aufforderung, dass so konturierte Forschungsfeld als spezifisches Forschungsfeld wahrzunehmen und anzuerkennen, als auch als Einladung, sich in den hier aufgespannten Diskussionsraum vielstimmig einzubringen“ (S. 7).
Aufbau
In insgesamt acht Beiträgen wird den in der Einleitung aufgeworfenen Fragen nach den Anliegen, den Potentialen und Grundmotiven einer Queer Pädagogik nachzugehen gesucht. So folgen nach einer Einführung in die Entwicklung und die zentralen Positionen der Queer Theorien insgesamt sechs Aufsätze, in denen durch sehr unterschiedliche Forschungszugänge und mit Bezug auf sehr unterschiedliche Themen Verständnisse wie auch Möglichkeiten und Grenzen einer sich queer verstehenden Pädagogik ausgelotet werden. Abgerundet wird der Band durch eine sich dem queeren Anspruch der unablässigen Selbstreflexion verpflichtenden kritische Relektüre der in dem Band versammelten Forschungszugänge, mittels derer dann noch einmal konturierende Fragen einer Queer Pädagogik entworfen werden.
Inhalt
Gleich der erste Aufsatz von Franziska Förster gibt einen sehr informativen Einblick in die unter dem Begriff „queer“ firmierenden kritischen Denkweisen. Durch die perspektivreiche Herangehensweise werden zentrale Anliegen queerer Theoriebildung aufgezeigt wie auch Möglichkeiten und Grenzen diskutiert. Insofern für queer „jegliche Bezugnahme auf Identität dilemmatisch“ (S. 52) sei, zeichne sich ein queeres Denken dadurch aus, dass es diese Dilemmata gerade nicht ausblende, sondern von der Einsicht in die „unauflösbar paradoxe“ (S. 53) Bedingung jeder Form der (Re-)Präsentation oder Bezugnahme getragen sei und diese produktiv nutzbar zu machen suche.
In den nun folgenden sechs Beiträgen sollen Möglichkeiten dieser produktiven Nutzbarmachung aufgezeigt werden.
So geht es in dem Beitrag von Marcus Felix darum, zu untersuchen, inwiefern sich die im Rahmen der sozialpsychologischen Forschung entwickelte Kontakthypothese, gemäß derer „bestimmte Gruppen, die einander ausgesetzt sind und mehr übereinander erfahren, ihre zuvor negativen oder feindlichen Einstellungen einander gegenüber abbauen“ (S. 63) würden, eigne, um negative Einstellungen bei Kindern und Jugendlichen in der Schule reduzieren und Diskriminierungen verhindern zu können. Diskutiert werden dabei Möglichkeiten und Grenzen des Intergruppenkontaktes in der Schule, wobei insbesondere für das Modell des Externenkontakts didaktisch-methodische Hinweise gegeben werden. Für Marcus Felix stellt die Intergruppenkontaktmethode insgesamt eine Möglichkeit dar, durch die Kinder und Jugendliche in der Schule „mit Vielfalt, mit Pluralität und Diversität vertraut gemacht“ (S. 83) werden könnten.
Mit den Verhältnissen von Raum und Pädagogik und den damit einhergehenden Bedeutungen und Möglichkeiten einer queeren Aneignung von Räumen setzt sich der folgende Beitrag von Robert Pfützner auseinander. Unter Bezugnahme auf den Bildungsbegriff Heydorns und die raumtheoretischen Ansätze von z.B. Lefebvre und Foucault arbeitet Robert Pfützner mit Bezug auf Interviewausschnitte heraus, welche politische und pädagogische Bedeutung queere Räume für Subjekte haben können. Raumaneignung wird dabei mit Bezug auf Heydorn als Bildungsprozess verstanden, der sich durch Prozesse der Unterwerfung, Aneignung und Verfügung auszeichne und für die Subjekte neben dem Risiko einer zunehmenden Repression immer auch die Möglichkeit der Verunsicherung hegemonialer und heteronormativer Ordnungen berge, so dass sich in Folge eine queere Pädagogik „stärker mit der räumlichen Komponente menschlichen Lebens auseinandersetzen“ (S. 110) müsse, um deren „widersprüchlichen Verwicklungen von Ausgrenzung und Befreiung reflektieren“ (S. 110) zu können.
Die Frage, inwiefern der Begriff queer im Zuge seiner wissenschaftlichen Rezeption „einen whitewashing Prozess“ (S. 113) erfahren hat, steht im Mittelpunkt des Aufsatzes von Nadezda Krasniqi und Steffi Kraut. Dabei wird in einem ersten Zugang gezeigt, dass und wie der Begriff „queer“ in Folge seines Einzugs in die Wissenschaft „weißgewaschen“ (S. 123) wurde. In einem zweiten Schritt wird mit Bezug auf empirisches Material nachgezeichnet, wie in politischen, sich queer verstehenden Szenen Rassismen (re-)produziert und Diskriminierungserfahrungen aufgrund von Rassismus oder Kolonialisierung verdeckt würden. Der Aufsatz endet mit einem Ausblick auf Ansatzpunkte einer rassimuskritischen – und das heißt für Nadezda Krasniqi und Steffi Kraut einer sich intersektional-queer -verstehenden Praxis in Pädagogik, Wissenschaft und Szene, deren Hauptaufgabe darin bestehe „das Wissen um Privilegien“ (S. 136) zu vermitteln und reflexive Umgangsweisen mit diesen Privilegien zu entwickeln.
Der Beitrag von Alexander Zwickies geht der Frage nach, „wie sich die Ausgestaltung des eigenen Älterwendens im individuellen wie im sozialen Raum bei Menschen vollzieht, deren sexuelle Orientierung sie oft von früher Jugend an außerhalb des soziohistorischen Bezugsrahmens stellte und immer noch stellt“ (S. 143). Antworten auf diese Fragen entwickelt Alexander Zwickies mit Bezug auf eine empirische Untersuchung, im Rahmen derer „narrative Interviews […] mit älteren schwulen Männern aus Bayern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen Hessen und Hamburg geführt wurden“ (S. 143). Obwohl die Lebenslagen der Befragten sehr differierten, verwiesen alle Befragten – so ein zentrales Ergebnis der Untersuchung – auf Erfahrungen „gesellschaftlicher Ausgrenzung und latenter Diskriminierung“ (S. 162), die durch unterschiedlichste Mechanismen (z.B. Ageism, Jugendlichkeitswahn, hegemoniale Männlichkeiten) verstärkt würden. Vor diesem Hintergrund werden dann Herausforderungen für die soziale Altenbildung und die Altenarbeit formuliert.
Für Maxmilian Waldmann geht es in seinem Aufsatz dann weniger darum, eine Queer Pädagogik zu bestimmen als vielmehr darum, die Herausforderungen, die an eine solche Pädagogik gestellt werden, zu bedenken. In kritischer Abgrenzung zu zwei von ihm erkannten zentralen queerpädagogischen Argumentationslinien, greift Maximilian Waldmann auf die Begriffe der Alterität und Fremdheit zurück und versucht mit Bezug auf leibphänomenologische Ansätze Merleau-Pontys und die alteritätstheoretischen Arbeiten von Waldenfels ein Modell einer queeren Pädagogik zu entwerfen, das „einer rein funktionalistischen oder normativistischen Deutung“ (S. 192) entgehe, weil es die „Eigensinnigkeit des Leibes“ (S. 192) wie auch die „Unverfügbarkeit des Fremden bzw. des radikal Anderen“ (S. 192) zu berücksichtigen verstehe.
Auch in dem Beitrag von Karsten Kenklies wird dann der Versuch einer Bestimmung einer queer- pädagogischen Wissenschaft unternommen, indem nicht von queer als unhintergehbarem Gegenstand von Wissenschaft ausgegangen, sondern vielmehr die pädagogische Disziplin selber gequeert wird. Diese queerende Relektüre von Erziehungs- und Bildungstheoretiker*innen wie etwa Trapp, Campe oder Humboldt führt für Karsten Kenklies zu der Einsicht, dass das Individuum in Erziehungstheorien, „an sich als weiß, als inhaltlos betrachtet“ (S. 211) werde „und dem Außen die Kraft der inhaltlichen Bestimmung“ (S. 211) zukomme. Demgegenüber sehe Bildung „das ordnende bzw. bedeutungsvermittelnde Prinzip in der strebenden Kraft des Individuums“, das damit „das Schwarze dieses Verhältnisses darstellt“ (S. 211), so dass als Konsequenz Erziehung und Bildung, aber auch Autonomie und Heteronomie komplementär verstanden würden. Demgegenüber setzt Karsten Kenklies auf eine „Graue Pädagogik“ (S. 216). Eine solche Pädagogik „würde dort Erziehung aufdecken, wo Bildung behauptet wird; sie würde Bildung behaupten, wo Erziehung allmächtig erscheint – und sich sogar fragen, wann und ob die Behauptung der Existenz des Pädagogischen relevant und wichtig wäre. Sie bliebe in diesem Sinne ein kritisches Geschäft, das in der Unentschiedenheit das Heilsame utopischer Möglichkeiten sieht“ (S. 216).
Um zentrale Motive aber auch Widersprüche und Grenzen einer Queer Pädagogik aufzeigen zu können, nehmen Maia George Luna und Maximilian Waldmann in einem abschließenden Schritt noch einmal eine kritisch-reflexive Relektüre der gesammelten sechs Forschungszugänge vor. Durch diese werden vor allem noch einmal zentrale Einsichten aber auch implizite Vorannahmen, mögliche Ausschlüsse und Vereinseitigungen der jeweiligen Beiträge aufzudecken gesucht wie auch alternative Deutungsmöglichkeiten aufgezeigt. Vor dem Hintergrund dieser kritischen Diskussionen werden dann zentrale Fragen einer queeren Pädagogik entwickelt.
Diskussion
Bei dem von Karsten Kenklies und Maximilian Waldmann herausgegebenem Sammelband handelt es sich um eine wichtige und perspektivreiche Auseinandersetzung mit den in der Pädagogik immer noch nicht hinreichend beachteten und bedachten Möglichkeiten und Perspektiven, die durch die Queer Theorie für die pädagogische Wissenschaft eröffnet werden. Vor dem Hintergrund des überaus differenzierten, erhellenden und anregenden Einblicks in die Queer Theorie von Franziska Förster, werden mit den nachfolgenden sechs Aufsätzen sehr unterschiedliche Forschungszugänge zu einer queeren Pädagogik, ihren Themen, Formen, Herausforderungen und Grenzen präsentiert. Dank dieser unterschiedlichen Fokussierungen gelingt es dem Sammelband für die Vielfalt der pädagogischen Anschlussmöglichkeiten queeren(den) Denkens zu sensibilisieren.
Erkennbar wird dabei auch, dass queeres Denken über die Kritik an heteronormativen Identitätslogiken klar hinausreicht und allgemein als Praxis des Verunsicherns und des Veruneindeutigens verstanden werden kann, mithin als Praxis, die großes Potential für eine Pädagogik birgt, die sich als reflexiv und machtkritisch verstehen will. Dem Sammelband gelingt es „queer“ eher als Verb, als Form des pädagogischen Denkens zu profilieren und weniger als neue Identitätsposition oder gar als neues pädagogisches Label zu bestimmen. So wird durch die im Band versammelten Beiträge ein – wie in der Einführung angekündigt – vielstimmiges Gespräch über die Konturen und Fragen einer Queer Pädagogik eröffnet und diese nicht abschließend bestimmt. Auch versteht der Band der durch queer angeregten notwendigen Haltung der (Selbst-)Reflexivität Rechnung zu tragen, indem alle Forschungszugänge abschließend noch einmal einer kritischen Relektüre unterzogen werden.
Insofern die von den Autor*innen angemahnte kritische Reflexion der eigenen Vorannahmen, Positionen und Ausschlüsse im Sinne von queer nicht zu einem Abschluss kommen soll bzw. kann, sollen auch an dieser Stelle noch einige Reflexionsimpulse gegeben werden:
Vor dem Hintergrund der in dem Band profilierten Annahme, dass queer als kritisch-hinterfragende Praxis des Denkens zu verstehen sei, die sich binären Gegenüberstellungen und Eindeutigkeiten verweigere, wäre auch zu überlegen, was das für die eigene pädagogisch-wissenschaftliche Schreibpraxis bedeutet. So zeigen sich in einigen Aufsätzen wissenschaftliche Argumentationsmuster, im Zuge derer z.B. die eigene wissenschaftliche Position über die kritische Abgrenzung von vermeintlich „anderen“ Positionen herausgearbeitet und behauptet wird. Allerdings lässt sich mit Bezug auf „queer“ fragen, warum etwa die interessanten Anregungen für eine Konzeption des Zwischen von Maximilian Waldmann in Abgrenzung zu zwei vermeintlich typischen queerpädagogischen Argumentationslogiken erfolgen, die mit Begriffen wie „Vielfalt“ und „Pluralismus“ nur verkürzt beschrieben und dabei auch noch als „funktionalistisch“ oder auch „fundamentalistisch“ charakterisiert werden. Anders gefragt: Braucht eine queerpädagogische Wissenschaft noch den Aufbau von Pappkamerad*innen?
Etwas schade ist auch, dass in dem Sammelband Hinweise auf bereits bestehende Arbeiten der queerpädagogischen Praxisentwicklung aber auch Bezugnahmen auf queere Ansätze feministischer, geschlechterreflexiver, rassismuskritischer oder heternormativitätskritischer Pädagogiken fehlen. Durch diese sind bereits nicht nur pädagogische Identitätsvorstellungen und Umgangsweisen gequeert, sondern auch relevante Hinweise auf mögliche Ansatzpunkte und Maxime einer queerpädagogischen Praxis gegeben worden.
Diese fehlende Berücksichtigung verweist auf ein weiteres Ungleichgewicht. So fällt der Spagat zwischen Theorie und pädagogischer Praxis eindeutig zugunsten ersterer aus. Für Pädagog*innen, die sich aus dem Buch Anregungen für die Gestaltung pädagogischer Institutionen oder Konzepte oder die (Re-)Formulierung pädagogischer Handlungsziele erhoffen, erweisen sich die Ausführungen zum Teil als etwas zu „theoretisch“ und zu dilemmatisch gehalten. Dadurch riskiert queer aber auch sein politisches Potential zu verlieren. Denn wie Julian Edgoose [1] mit Bezug auf Derridas Aporie der Unentscheidbarkeit schreibt, müsse um im Sinne der Dekonstruktion gerecht pädagogisch handeln zu können, zwar viel und lange gezweifelt, aber eben auch gehandelt werden.
Fazit
Der Sammelband bietet sehr anregende, erhellende und vielfältige Zugänge zu den Motiven, Denkweisen und Anforderungen einer Queer Pädagogik. Seine Stärke beweist der Band in seinen, sich der Unabschließbarkeit des eigenen Projekts bewussten, hoch reflexiven und perspektivreichen Konturierungen einer Queer Pädagogik und seines Vermögens durch die Unterschiedlichkeit der Zugänge für die vielfältigen kritischen Potentiale dieses noch nicht ausgeloteten Forschungsfeldes zu sensibilisieren.
[1] Edgoose, Julian (2001): Just decide! Derrida and the ethical aporias of education. In: Egéa-Kuehne, Denise/Biesta, Gert J. J. (Hrsg.): Derrida & Education. London/New York: Routledge, S. 119-133.
Rezension von
Prof. Dr. Melanie Plößer
Professorin am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Bielefeld
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Zitiervorschlag
Melanie Plößer. Rezension vom 11.08.2017 zu:
Karsten Kenklies, Maximilian Waldmann (Hrsg.): Queer Pädagogik. Annäherungen an ein Forschungsfeld. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung
(Bad Heilbrunn) 2017.
ISBN 978-3-7815-2137-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22359.php, Datum des Zugriffs 05.10.2024.
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