Angus Deaton: Der große Ausbruch. Von Armut und Wohlstand der Nationen
Rezensiert von Laura Sturzeis, 06.06.2017
Angus Deaton: Der große Ausbruch. Von Armut und Wohlstand der Nationen. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2017. 448 Seiten. ISBN 978-3-608-94911-7. D: 25,00 EUR, A: 25,80 EUR.
Thema
Das als Opus Magnum des Wirtschaftsnobelpreisträgers Angus Deaton behandelt die Entstehungsgeschichte des ‚Wohlstands der Nationen‘. Die erfolgreiche Entwicklung der westlichen Welt bezeichnet er als ‚Great Escape‘ (im Deutschen ‚Der große Ausbruch‘) und ist zugleich titelgebend für das Buch. Auch die Geschichte der jüngeren ‚Ausbrüche‘ Chinas und Indiens aus der Armut sind für den Autor von besonderem Interesse. Sie werden als positive Beispiele für eigeninitiiertes Wirtschaftswachstum angeführt, dem kontrastierend allerdings auch zahlreiche Länder gegenübergestellt werden, denen dieser Ausbruch bis heute noch nicht gelungen ist. Deaton reiht sich mit seinem Beitrag in die immer umfangreicher werdende Publikationsliste zu Ungleichheit ein, wobei er der globalen wirtschaftlichen Ungleichheit am meisten Platz einräumt.
Autor
Angus Deaton ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Princeton University in den Vereinigten Staaten. 2015 wurde er für seine Analysen von Konsum, Armut und Wohlstand mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet.
Aufbau und Ausgangspunkt
Das Buch gliedert sich in drei große Teile:
- Im ersten Teil geht es um „Leben und Tod“, in dem Deaton den Begriff der Lebenserwartung in historischer und komparativer Perspektive beleuchtet und insbesondere der Gesundheit und damit verbundenen Ungleichheiten breiten Platz einräumt.
- Im zweiten Teil geht es um „Geld“; und zwar materiellen Wohlstand – einerseits mit Perspektive der/auf die Vereinigten Staaten und andererseits mit Blick auf Globalisierung und Wohlstandsentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg.
- Der letzte Teil widmet sich unter dem Titel „Helfen“ äußerst kritisch der Entwicklungshilfe.
Der Ausgangspunkt Deatons ist ein überaus positiver Befund. „Das menschliche Leben ist heute besser als zu jedem früheren Zeitpunkt in der Menschheitsgeschichte.“ (S. 17) Die vor rund 250 Jahren einsetzende Industriellen Revolution führte zu Wirtschaftswachstum und in weiterer Folge zu einer breiten Verbesserung des Lebensstandards des Menschen. Dies stellt den Kern des ‚Großen Ausbruchs‘ der Menschen aus Armut dar, allerdings mit der Kehrseite der weltweiten Ungleichheit als „Produkt des modernen Wirtschaftswachstums.“ (S. 21) Die Verbesserungen des allgemeinen Gesundheitszustandes sind ein zweiter wesentlicher Aspekt des ‚Großen Ausbruches‘. Doch auch hier bestehen eklatante Ungleichheiten, die Deaton als „eine der größten Ungerechtigkeiten in unserer heutigen Welt“ (S. 25) bezeichnet. Die beiden Dimensionen Einkommen und Gesundheit sind für Deaton die zentralen Aspekte, mit denen er sich in seinem Buch auseinandersetzt.
Zu Teil I: Leben und Tod
Die Geschichte hat gezeigt, dass es im Bereich der Lebenserwartung und der Gesundheit meist nicht die teuren Innovationen waren, die unser Leben verlängert und lebenswerter gemacht haben. Die allmähliche Verbreitung der Keimtheorie, also jener Einsicht, dass Keime Krankheiten auslösten, „trugen maßgeblich zur Senkung der Kindersterblichkeit in Großbritannien und auf der ganzen Welt bei. (…) Hier waren neue Erkenntnisse maßgeblich, die das Potential hatten, das Wohlergehen der Menschheit erheblich zu steigern (…). Die grundlegende Erkenntnis, dass Keime Krankheiten verursachen (…) war kostenlos und jedem Menschen auf der Welt frei zugänglich.“ (S. 132 f.) Die wichtige Erkenntnis auch für eine künftige Steigerung der Lebenserwartung und des Wohlbefindens war hier, dass es sich um Erkenntnisse der modernen Wissenschaft handelte, die sich erst allmählich gesellschaftlich durchsetzen und von der Bevölkerung angenommen werden mussten.
Die Erkenntnisse der Keimtheorie waren Mitte des 20. Jahrhunderts bereits Allgemeingut, sodass auch die damals ärmeren Länder davon profitieren konnten. Bis in die 1990er Jahre erhöhte sich in vielen ärmeren Ländern die Lebenserwartung zudem aufgrund großangelegter Impfkampagnen und der oralen Rehydratationstheraphie, die Dehydrierung unterbindet und dadurch insbesondere Kinder vor dem Tod durch Diarrhö rettete. Die HIV/Aids-Epidemie Anfang der 1990er Jahre brachte erneute Rückschläge mit sich. Auch wenn in den letzten Jahren die Lebenserwartung aufgrund der Einführung von antiretroviralen Therapien erneut im Steigen begriffen ist, wurden die Fortschritte der Jahrzehnte davor in manchen Ländern komplett zunichtegemacht. Allerdings konnten durch das Wirtschaftswachstum Chinas und Indiens Millionen Menschen der Armut entkommen. Indien setzte dabei von Anfang an gezielt auf eine Senkung der Säuglingssterblichkeit, China vor allem bis in die 1970er Jahre, was in beiden Ländern zu einer deutlichen Reduzierung führte.
In den reicheren Ländern wurden Steigerungen bei der Lebenserwartung im 20. Jahrhundert insbesondere durch den Rückgang des Rauchens erzielt. Ab Mitte der 1960er Jahre sanken die Raucherzahlen (Männer) in den Vereinigten Staaten, andere Länder folgten nach. Bei Frauen, die erst später und auch im Zuge der Emanzipation angefangen hatten zu rauchen, setzte der Nichtraucherinnen-Trend erst später ein. Ein weiterer Unterschied zu ärmeren Ländern besteht darin, dass es in reicheren Ländern weniger darum geht die Lebenserwartung quantitativ stärker auszuweiten – dies ist durch den massiven Rückgang der Kindersterblichkeit bereits geschehen – als darum, „Krebs und andere Alterskrankheiten [zu] besiegen (…) und Millionen von Menschen ein besseres Leben [zu] schenken.“ (S. 197)
Zu Teil II: Geld
Der zweite Teil widmet sich den materiellen Lebensstandards. In Kapitel 5 steht dabei der Wohlstand in den USA im Mittelpunkt, da sich das Beispiel „dazu eignet, die Kernaussagen dieses Buches zu illustrieren. Nicht alle profitieren im selben Maße.“ (S. 220) Daraus folgt eine wachsende binnenstaatliche Ungleichheit, die positive Anreizwirkung haben kann „aber auch [den materiellen Wohlstand] untergraben oder sogar vollkommen zunichtemachen kann.“ (ebd.) Letzteres ist bei einer besonders ausgeprägten Polarisierung zwischen den Schichten der Fall, sprich bei quasi-plutokratischen Verhältnissen, auf die die USA derzeit gemäß Befunden hinsteuern. Der zurückgehende Einfluss der Gewerkschaften und damit verbunden die geringere Berücksichtigung von ArbeitnehmerInnen-Interessen ging in den vergangenen Jahrzehnten zudem einher mit steigendem Einfluss von gut organisierten RentnerInnen und Kapitalinteressen. Das Resümee Deatons fällt ernüchternd aus: „Es gibt gute Argumente für Chancengleichheit und dafür, Menschen nicht dafür zu bestrafen, dass sie sich Erfolg erarbeitet haben. Aber verglichen mit anderen reichen Ländern und trotz der verbreiteten Vorstellung, in den Vereinigten Staaten könne jeder Erfolg haben, ist dieses Land nicht allzu erfolgreich in dem Bemühen, für Chancengleichheit zu sorgen.“ (S. 268)
In Kapitel 6 zeichnet Deaton den „großen Ausbruch“ nach, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vollzog: das Wirtschaftswachstum Chinas und Indiens und damit verbunden der enorme Rückgang der globalen Armut seit 1980. Dabei gingen die Prognosen in den 1950er und 1960er Jahren in eine andere Richtung und wurden insbesondere von der Angst vor einer Bevölkerungsexplosion getrieben. „Die Untergangsprophezeiungen bewahrheiteten sich nicht. Die Bevölkerungsexplosion stürzte die Welt nicht in Hungersnot und Elend. Im Gegenteil: In den vergangenen 50 Jahren ist nicht nur die Sterblichkeit zurückgegangen, was das rasante Bevölkerungswachstum ermöglicht hat. Anders als erwartet führte die Bevölkerungsexplosion nicht zur Verelendung Hunderter Millionen von Menschen, sondern Hunderten Millionen gelang eine Massenflucht aus der Armut. (…) Jeder zusätzliche Mensch, der geboren wird, ist nicht nur eine zukünftige Arbeitskraft (…), sondern bringt auch einen kreativen Verstand mit. (…) Die Gesellschaft passt sich neuen Problemen an, indem sie neue Wege findet, um Aufgaben zu bewältigen (…) und Anreize für andere Vorgehensweisen schafft.“ (S. 311-312, 314)
Zu Teil III: Helfen
Der dritte Teil widmet sich der Entwicklungshilfe, die Deaton einer fundamentalen Kritik unterzieht. Denn trotz der Bereitstellung von Entwicklungshilfe im Umfang von etlichen Milliarden Dollar, gäbe es keine Belege für eine Steigerung des Wohlstands in den ärmsten Ländern der Welt. Für Deaton liegt die Ursache in fehlenden oder unzulänglichen Institutionen, die für das Funktionieren einer Wirtschaft notwendig sind. Die Entwicklungshilfe dient insofern mehr der Befriedigung des Hilfsbedürfnisses der EinwohnerInnen reicher Länder als die Armut tatsächlich zu reduzieren. Denn die Gelder fließen in der Regel nicht direkt an arme Menschen, sondern an die Regierungen, die wiederum wenig demokratische Anreize haben, dieses Geld den eigenen BewohnerInnen zukommen zu lassen – schließlich wurden die entsprechenden Gelder nicht über Steuern eingenommen, sondern stellen Transfers der Geber- an die Nehmerländer dar. Insofern säßen die EinwohnerInnen der Geberländer einer „Hilfsillusion“ auf, die es zu durchschauen gelte. „Ausgangspunkt für alle Hilfsbemühungen ist die Frage, was wir tun können. Wir können es auch als Forderung ausdrücken und sagen, dass wir etwas tun müssen. Aber die Frage, was wir tun können, ist vielleicht falsch gestellt, und dass wir sie stellen, ist möglicherweise nicht der erste Schritt zu einer Lösung, sondern Teil des Problems. Warum müssen wir etwas tun? Warum müssen wir die Dinge in die Hand nehmen? Wer hat uns dazu beauftragt? (…) Was wir jetzt tun müssen, ist Folgendes: Wir dürfen die armen Länder nicht daran hindern, uns in dem, was wir erreicht haben, nachzueifern. Wir müssen zulassen, dass die armen Völker sich selbst helfen. Wir müssen uns zurückziehen – oder, um es positiv auszudrücken, wir müssen aufhören, Dinge zu tun, die sie behindern.“ (S. 395 f.) Gerade die Entwicklungshilfe zählt zu den Stolpersteinen, die die reichen Länder den armen Ländern in den Weg legen – neben Handelsbeschränkungen für landwirtschaftliche Produkte und Migrationsbarrieren. Einige konkrete Beispiele für Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung ärmerer Länder werden im Buch ebenfalls vorgestellt.
Diskussion und Fazit
Angus Deaton ist unbestritten ein Experte der Entwicklungs- und Gesundheitsökonomie und vermag komplexe Zusammenhänge für eine breite Leserschaft anregend und gut nachvollziehbar darzustellen. Der breite Zugang, den der Autor wählt, ist der Thematik durchaus angemessen – denn schließlich geht es um große Themen. Dass Deaton dabei den Menschen und sein Wohlbefinden ins Zentrum seiner Analysen stellt, zieht sich als roter Faden positiv durch das Buch. Der Einfluss Amartya Sens ist augenscheinlich. Ebenso klar ersichtlich ist jedoch auch die Zentralität, die der Autor statistischen Daten zukommen lässt und hier viel Platz einräumt für die Diskussion ihrer Anwendbarkeit und ihrer Unzulänglichkeiten. Während all jene Passagen, in denen es um Menschen und ihre konkreten Lebensumstände geht aufgrund der Dichtheit ihrer Beschreibungen sehr eingängig sind, erscheinen manche Passagen zu den Problematiken der globalen Armuts- und Ungleichheitsstatistik gar etwas langatmig (z.B. die Ausführungen zur Kaufkraftparität/KKP, S. 284-303). Dies dürfte vermutlich mehr den akademischen Diskursen geschuldet sein als den Ansprüchen einer breiten Leserschaft.
Interessant ist insbesondere die Argumentation im dritten Teil des Buches, in der Deaton seine überaus kritische Position zur Entwicklungshilfe – zugegebenermaßen durchaus stringent und nachvollziehbar – argumentiert und für einen neuen Umgang mit dem moralisch und ethisch aufgeladenen Thema plädiert. So überrascht es wohl kaum, dass Bill Gates, einer der wichtigsten individuellen Protagonisten globaler Entwicklungshilfe das Buch Deatons über weite Strecken lobt, für diesen Teil hingegen kein Verständnis übrighat (Bill Gates 2014). Auch wenn man die positive Grundeinstellung des Autors zum Wirtschaftswachstum nicht teilt, bietet das Buch zahlreiche fundierte Analysen über globale Ungleichheit, die aufgrund ihres Fokus auf Gesundheit und Einkommen andere Aspekte in den Vordergrund rücken, als dies andere Publikationen der jüngeren Vergangenheit getan haben. Gerade durch die klare Positionierung Deatons in punkto Entwicklungshilfe liefert er neue Denkanstöße und damit eine überaus anregende Lektüre.
Literatur
Bill Gates (2014): The Great Escape is an excellent book with one big flaw. April 8th, 2014 www.gatesnotes.com/Books [30.5.2017]
Rezension von
Laura Sturzeis
Sozioökonomin und Programmkoordinatorin des Masterstudiums Sozioökonomie an der Wirtschaftsuniversität Wien
Es gibt 22 Rezensionen von Laura Sturzeis.
Zitiervorschlag
Laura Sturzeis. Rezension vom 06.06.2017 zu:
Angus Deaton: Der große Ausbruch. Von Armut und Wohlstand der Nationen. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2017.
ISBN 978-3-608-94911-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22373.php, Datum des Zugriffs 10.11.2024.
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