Markus Rieger-Ladich, Uwe H. Bittlingmayer (Hrsg.): Pierre Bourdieu. Pädagogische Lektüren
Rezensiert von Dr. Maurice Schulze, 15.11.2017

Markus Rieger-Ladich, Uwe H. Bittlingmayer (Hrsg.): Pierre Bourdieu. Pädagogische Lektüren. Springer VS (Wiesbaden) 2017. 320 Seiten. ISBN 978-3-531-17205-7. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR.
Thema
Mit der Feststellung, die deutsche Erziehungswissenschaft beschäftige sich erst seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts mit Pierre Bourdieu, leiten die AutorInnen diesen Sammelband interessanter Weise ein. Mit der Rezeption Bourdieus Arbeiten wurde der erziehungswissenschaftliche Diskurs auch hier anschlussfähig an benachbarte Disziplinen, die sich vor allem mit praxistheoretischen Fragestellungen beschäftigten. Es wird deutlich, dass die Interdisziplinarität, die in Bourdieus Forschung und Theoriebildung bereits angelegt ist, von den Erziehungswissenschaften erst erkannt, entdeckt und sich ihnen erschlossen werden mussten.
Aufbau
Der Sammelband will an diese Entwicklung anschließen und unterscheidet dabei vier Themenfelder:
- Institutionen analysieren
- Differenzen denken
- Konzepte weiterentwickeln
- Bildungstheorie treiben
Um Institutionen analysieren (1) zu können, bedarf methodischer Überlegungen, die bei den hier vorangestellten Beiträgen im Mittelpunkt stehen. Sie unterteilen sich dabei jeweils in die Phasen der frühkindlichen Bildung, der Schule und dem akademischen Feld. Während beispielsweise der schulische Raum systemstabilisierend Kapital reproduzieren soll, sei es andererseits möglich, „Bildung als Aufklärung mitzudenken“ (S. 5).
Der zweite Teil versucht auszuloten, wie mit Bourdieu Differenzen gedacht werden können. Die Transformationen des Habitus stellt eines der Grundprobleme in der Auseinandersetzung mit Bourdieus Theorie dar. Wie der soziale Aufstieg durch Bildung auf den Habitus wirkt und welche Schwierigkeiten und Konflikte dabei entstehen, fragt der erste Beitrag. Habitusgenese und -transformation wird dabei im Zusammenhang mit Migration, Differenzerfahrungen und Diskriminierung gesetzt. Der Habitus als strukturbildende Struktur bildet sich im Zwiespalt von Stabilität und Instabilität. Während seine Prägung eine Form der Veränderung darstellt, zeichnet seine Reproduktion sich durch Stabilität aus. In dieser stabilen Transformation lassen sich sowohl Geschlechterrollen, als auch Rassismus denken (2ter und 3ter Teil).
Im letzten Teil wird vor allem der Versuch unternommen Anschlüsse an praxistheoretische Ansätze zu gestalten.
Inhalt
In den ersten Beiträgen wird sobald deutlich, welche Auseinandersetzungen Bourdieus Arbeiten von der ersten Stunde an heraufbeschworen haben. Mit dem Blick auf die Institutionen von frühkindlicher Bildung, über die Schule bis hin zu den Voraussetzungen für wissenschaftliche Karrieren zeigt sich, welche Spannungen und Kontroversen auch aktuell noch in den Studien Bourdieus stecken. Bernd Hackl macht in seinem Beitrag eine Differenzierung von Bildungs- und Bildungskapitaltheorie in den Bourdieuschen Arbeiten aus. Dabei verweist er auf die tatsächlich vorhandenen „mittelmäßigen geistigen Fähigkeiten der den niedrigeren sozialen Klassen entstammenden Prüflingen“ (S. 48), deren Feststellung nicht „gegen das Klassifizierungssystem der Pädagogen“ (ebd.) spräche. Der „immer wieder in die Analyse drängende Aufklärungseffekt der Bildung“ (S. 49) würde von Bourdieu ignoriert.
Christina Möller verweist in einer kurzen und übersichtlichen Vorstellung ihrer Arbeiten zu sozialen Herkunft, „auf eine zunehmende Bedeutung des kulturellen Kapitals in Form von Bildungstiteln der Eltern und in der Tat auf eine ‚Illusion der Chancengleichheit‘“ (S. 74). Allein in diesen beiden Beiträgen zeigt sich der Aushandlungsbedarf erziehungswissenschaftlicher Positionen. Während einerseits der Versuch unternommen wird, Bildung eine Aufklärungsleistung zu bescheinigen, zeigt sich empirisch eher eine sozialstrukturelle Differenzierungsleistung.
Ein zentraler Ansatz in der Weiterentwicklung Bourdieuscher Theorie bietet der Beitrag von Aladin El-Mafaalani, indem er empirisch zu Transformationen des Habitus arbeitet. Dabei ist ihm nach davon auszugehen, „dass im ursprünglichen Sinne schon eine gewisse Modifikations- und Transformationsfähigkeit angelegt ist“ (S. 122). Weiter noch, „dass der Möglichkeitsraum wächst, je komplexer eine Gesellschaft ist und je häufiger dadurch Dissonanzen zwischen objektiven und einverleibten Strukturen auftreten“ (S. 123). Hier zeigt sich, welches Potenzial in transdisziplinären und transkulturellen Arbeiten liegt. Dies zeigt sich auch im Beitrag von Christine Thon, die den Zusammenhang von Geschlecht, Habitus und (auch hier) der Transformation von Habitus zu ergründen versucht. Sie stellt dabei fest, das es „eine große methodologische Herausforderung“ (S. 135) ist, zu „erschließen, ob und wie sich dieser [als Habitus beschriebener] Sinn zusammen mit den veränderten Dispositionen einzelner transformiert“ (ebd.).
Auf diese methodologischen Herausforderungen wird auch in anderen Beiträgen verwiesen, wenn es darum geht, die Konzepte Bourdieuscher Theorie weiter zu entwickeln. Die Bewertung von Können und Wissen als kulturelles Kapital wird interessant, wenn man die Relationalität der Wertmaßstäbe untersucht, wie es Arnd-Michael Nohl in seinem Beitrag tut. Denn was passiert mit Wissen und Können, „wenn sie aus der Gesellschaft, in der sie erworben wurden, in ein anderes Land transferiert werden“ (S. 208)? Ein starres Konzept ist in sich verändernden Lebensumständen, wie hier bei hochqualifizierten Bildungsausländer(innen) wenig hilfreich. So stellt Nohl fest, dass „Bildung nicht kulturelles Kapital ist, sondern […] erst zu diesem wird“ (S. 221).
Interessanter Weise verbinden drei der vier abschließenden Beiträge unter dem Aspekt ‚Bildungstheorie treiben‘ ihre Ansätze mit praxistheoretischen Überlegungen. Markus Rieger-Ladich schließt mit drei zentralen Einwänden, die sich durch den gesamten Sammelband ziehen. Bourdieus Arbeiten konzentrieren sich „auf die reibungslose Reproduktion sozialer Ungleichheit“ (S. 344) und können daher Transformationsprozesse nicht erklären, wie bspw. in der Formulierung des Habitus. Die Statik dieses Konzepts, „das die Reflexionsfähigkeit der Individuen auf fatale Weise unterschätze“ (ebd.) mache den selbst inszenierten Intellektuellen – Bourdieu selbst – erst notwendig. Daher befördere die Soziologie „eben nicht die Emanzipation der Unterworfenen, sondern vergrößere die Kluft zwischen diesen und der Kritischen Intelligenz“ (ebd.) ohne sie zu überwinden. Auf diese kritische Haltung gilt es soziologisch zu antworten und sie bildungstheoretisch auszuhandeln.
Fazit
Dieser Sammelband gibt einen Überblick über die Auseinandersetzungen, die auf erziehungswissenschaftlichen Boden von den Arbeiten Bourdieus aufgeworfen werden. Während einerseits empirische Beweise die Annahmen von ‚Illusion der Chancengleichheit‘ oder von Bourdieus Kapitaltheorie untermauern, stellen sich andererseits Vertreter differenzierter Standpunkte gegen diese Errungenschaften Bourdieuscher Perspektive, oder sind versucht diese weiterzudenken (hier im Besonderen die Transformation des Habitus). Verwunderlich, dass es in der Pädagogik scheinbar mehr als 40 Jahre dauerte, bis diese Diskussion nun stattfindet. Ob die Erkenntnisse dieser kontrovers geführten Sozialanalysen sich als weiterführend erweisen, als es die bisherigen soziologischen Diskurse waren, muss sich noch zeigen. Letztlich wird an diesem Werk sehr deutlich, wie sehr Bourdieus Arbeiten von seinem interdisziplinären und methodologisch offenen Forschungsansatz profitiert haben und noch profitieren werden.
Rezension von
Dr. Maurice Schulze
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