Jürgen Kind: Das Tabu (Psychoanalyse)
Rezensiert von Prof. Dr. Margret Dörr, 14.12.2017
Jürgen Kind: Das Tabu. Was Psychoanalytiker nicht denken dürfen, sich aber trauen sollten. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2017. 384 Seiten. ISBN 978-3-608-96131-7. D: 49,00 EUR, A: 50,40 EUR.
Thema
Jürgen Kind, ein ausgewiesener Insider der psychoanalytischen Community, lädt die zugeneigte Leserschaft zu einer schmerzlichen Reise in die Anfänge der Disziplin und Profession ein. Ausgehend von einer scharfen Kritik am Freud´schen Konzept des Ödipuskonflikts dringt er in Tiefenschichten der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Psychoanalyse ein und vermag so ein Panorama von irrationalen Engführungen, Denkverbote und dogmatischen Verkürzungen – mit den Mitteln der psychoanalytischen Kunst – freizulegen, die nicht nur für die Theoriegeschichte sondern auch für die therapeutische Praxis, für die Ausbildung künftiger Psychoanalytiker_innen und nicht zuletzt für die Patient_innen nachhaltige (verheerende) Folgen zeitig(t)en.
Autor
Dr. Jürgen Kind, praktiziert als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie in Göttingen. Er ist Lehr- und Kontrollanalytiker am Göttinger Lou-Andreas-Salomé-Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie.
Entstehungshintergrund
„Vor einigen Jahren fragte mich eine Patientin (…) warum Freud mit dem Ödipuskomplex ausgerechnet ein beschädigtes Kind ins Zentrum seiner Theorie stellte.“ (16) Dieser erste Satz der Vorbemerkung des Autors erhellt seine Antriebsquelle, sich mit der Frage auseinander zu setzen, wie es möglich wurde, dass der psychoanalytische Ödipus als „eine Figur ohne Vorgeschichte“ einen so prominenten Rang in der psychoanalytischen Lehre einnehmen und damit ein verzerrtes Denken und Sprechen über das „Zwillingspaar“ ‚Vatermord‘ und ‚Mutterinzest‘ zementiert werden konnte. Freud kritisierend wendet sich Kind der Vorgeschichte des griechischen Ödipus-Mythos zu, die unverschleiert das Thema „Grenzverletzung“ an den Anfang stellt und darüber einen universellen Generationenkonflikt bebildert, vor dem Freud und nach ihm auch der Mainstream der Psychoanalyse die Augen verschließt. Folglich „stellt sich auch die Frage, in welcher Haltung sie gegenüber Fällen von Missbrauch und Grenzverletzungen aus ihren eigenen Reihen geraten musste.“ (18)
Aufbau und Inhalt
Der vorliegende Band wird durch ein wertschätzendes Vorwort des Psychoanalytikers Ulrich Streeck eingeleitet. Anschließend fasst Jürgen Kind – zur Vorbereitung seiner Entzifferung des griechischen Ödipus-Mythos und damit der Prüfung wesentlicher Theoriefacetten der Freudschen Analyse – zentrale Inhalte dieser griechischen Mythologie in der Version von Gustav Schwab zusammen.
Teil I mit der Überschrift „Die versäumte Frage“ ist ausdrücklich als „Plädoyer für einen Ödipus vor und nach dem Komplex“ (27) zu lesen. Konsequent arbeitet sich der Autor durch die Geschehnisse der biographischen Stationen der mythologischen Figur Ödipus, wobei die geographischen Orte (Theben, Kithairon, Korinth, Delphi, der Hohlweg, erneut Theben und Kolonos) vom Autor „wie Chiffren für besondere Kondensationspunkte einer psychischen Entwicklung [gelesen werden, M.D.], die von einer zunehmenden Regression hin zu dem narzisstischen Zustand gekennzeichnet ist, als Heiliger,. in Mutters Erde einzugehen.“ (31). Kind leuchtet in diesem ersten Teil daher nicht nur die Vorgeschichte aus – Ödipus als „das Kind einer verbotenen Schwangerschaft und einer verbotenen Geburt“ –, sondern lenkt über die (Lebens)Stationen von Ödipus die Aufmerksamkeit präzise auf die zerstörerischen Inzestfolgen, die eine Entdifferenzierung der Generationsebenen mit sich bringen. Gekonnt verweist der Verfasser immer wieder auf mögliche Analogien zwischen der Figur Ödipus und den Verleugnungen und Verkürzungen der Freud´schen Interpretationen. Aufgezeigt werden Berührungspunkte zwischen dem wiederholten Ausweichen seitens der Figur Ödipus auf die selbstreflexiven Fragen „wer bin ich?/ wo komm´ ich her?“ und der fatalen Verleugnung dieser – mit der versuchten Kindestötung behafteten – Vorgeschichte auf Seiten Freuds. Zusätzlich fatal, da diese Verleugnung nicht zu trennen ist von dem Versäumnis eines Zugangs zum Verstehen der transgenerativen sozialen Vererbungsprozesse von Traumatisierung, die sich bei der mythologischen Figur Ödipus eine Generation später im destruktiven Umgang mit seinen Söhnen in Kolonos offenbart.
In Teil II „Söhne, Väter, Urväter“ (103) befasst sich der Autor mit einem – für eine klinisch-psychoanalytische Perspektive – keineswegs selbstverständlichen Thema. Er legt eine historisch-gesellschaftliche Sicht auf den griechischen Mythos Ödipus frei, da dieser „ohne Einbeziehung der ihn einbindenden gesellschaftlichen Bedingungen und Wandel nicht verstanden werden“ (112) kann. Neben den Phänomenen des Zusammenbruchs der Generationenzugehörigkeit durch den Inzest sowie der historisch und kulturell variablen kriminologischen Bewertung(en) der Taten (Vatermord und Sohnesmord) wird nun der Gegenstand des Erbrechts (in seinen Wandlungen) in den Blick genommen. Anschaulich begründet wird, dass die Frage, ob es sich bei der Vererbung des Königreichs Theben um eine matrilineare oder patrilineare Erbfolge handelt, keineswegs eindeutig beantwortet werden kann. Vielmehr steht der Ödipus-Mythos – in der plausibel dargestellten Lesart von Kind – geradezu für den historischen Wandel von matrilinear zu patrilinear: Erst der Inzest macht die hybride Konstellation möglich, in der beide – im Wettstreit miteinander liegenden – Formen der Erbfolge zu ihrem Recht kommen. Neben der Einbeziehung weiterer Mythen, Märchen und Sagen führt der Autor die Leserschaft auch in Denkhorizonte des „indischen Ödipuskomplexes“ ein und entziffert darüber jene Inhalte, die zentrale Gesichtspunkte der von Freud aufgegebenen Verführungstheorie waren. Des Weiteren zeichnet der Verfasser beispielhaft nach, wie Freud und seine Nachfolger_innen es vermochten, sich gegen ethnologisch begründete Einschränkungen der Ubiquitätsthese des Ödipuskomplexes zu immunisieren und im Zuge der Abwehr gar die psychoanalytische Theorie des Ödipuskomplex prähistorisch zu verankern.
In Teil III „Missbrauch und Grenzverletzungen in Psychoanalysen“ (159) entwickelt Kind diverse Argumentationsstränge zur Stützung seiner brisanten These, dass Grenzverletzungen in Psychoanalysen nicht einfach „als ein hineingetragenes Fehlverhalten mangelhaft ausgebildeter Analytiker“ (166), sondern als „Symptom eines strukturimmanenten Faktors der Psychoanalyse selbst“ zu begreifen sind. Eine „entscheidenden Weichenstellung“ verortet er in die Anfänge der Geschichte der Psychoanalyse: dem „Austausch der ‚Verführungstheorie‘ durch die Ödipustheorie“. (161) Diese Quasi-Verlötung der ‚Geburtsstunde‘ der Psychoanalyse mit der Verleugnung des beschädigten Kindes und der damit vollzogenen ‚Täterumkehr‘ imponiert geradezu als eine – in die psychoanalytische Theorie und Praxis eingeschriebene – Grenzverletzung. Im Konflikt zwischen Freud und Ferenczi – einschließlich der für Ferenczi unheilvollen „Lösung“ – sieht Kind besonders klar seinen Kerngedanke abgebildet. Es ist der Tatbestand eines strukturell grenzverletzenden Machtmissbrauchs von Freud (und seiner Pioniere): Davon überzeugt, die unumstößliche Wahrheit über Patient_innen zu wissen, führt in die Gefahr, sie entsprechend der selbstverherrlichten eigenen theoretischen Wahrheit zu manipulieren. Darin liegt die spätere Gegnerschaft zwischen Freud und Ferenczi, nämlich „in der Diskrepanz zwischen einem, der weiß, weil seine Theorie es ihm sagt und einem, der nicht weiß, weil seine Theorie ihm sagt, dass er nicht wissen kann. Er weiß nur, dass er es zusammen mit seinem Patienten herausfinden muss.“ (162) Akribisch rekonstruiert der Autor zahlreiche Beispiele von (sexuellen) Grenzverletzungen und Machtmissbräuchen im Umgang mit Patient_innen, die letztlich – so das zusätzlich Infame – sowohl auf die Opfer projiziert als auch institutionell gedeckt wurden. Diese selbstgenerierte Frühtraumatisierung der Psychoanalyse steht – so das Resümee des Autors – am Beginn der „langen Tradition von Grenzüberschreitungen und Missbrauch, beginnend mit dem Begründer und den frühen Pionieren.“ (247)
Mit der Überschrift „Der Komplex unter dem Komplex“ (249) wendet Kind in Teil IV die Frage nach Gründen für die Freud´sche Reduktion des griechischen Ödipus in eine für die Psychoanalyse erwartbare Richtung. Es geht um den Einfluss der Biografie Freuds auf die inhaltliche Ausgestaltung seiner Theorie. Dazu stützt sich der Autor auf bereits reichhaltig vorhandene Arbeiten zu diesem Thema. Und doch gelingt es ihm durch sein gekonntes „Spiel mit dem Material“ in weitere Tiefenschichten vorzudringen, was m.E. in der präsentierten schöpferischen Radikalität ein Novum ist. Als ein Ergebnis seiner differenzierten und vielgestaltigen Wendungen entwickelt der Autor seine These, „dass sich gewissermaßen ‚unter‘ dem Ödipuskomplex eine weitere Konstellation verbirgt, die in einem antithetischen Verhältnis zum Ödipuskomplex steht“ (252). Diese andere Konstellation begreift er als primären „Komplex der heiligen Familie“ (280). Mittels seiner sorgfältigen Textanalysen zahlreicher griechisch-mythologischer Figuren, christlich-religiöser Bibeltexte sowie Arbeiten zu und von Dostojewski vermag der Autor in überzeugender Weise strukturelle Analogien zwischen der Biografie Freuds und seiner Theorieentwicklung aufzuzeigen. Der Ödipuskomplex – so das harsche Ergebnis – dient Freud als Reaktionsbildung, die über die Abwehr der präödipalen Mutterimago (284) hinaus zur Eliminierung der weiblich-schöpferischen Elemente einschließlich der Zerstörung der Realität geht.
Die für den V Teil gewählten Begriffe „Glaube, Häresie, Schisma“ (299) „führen in ein Gebiet, das mit Bezug auf die eigene Disziplin näher zu betrachten die Psychoanalyse meist vermied.“ (301) Es geht um die heikle Frage, „ist die Psychoanalyse eine Wissenschaft, oder ist sie eine Glaubensgemeinschaft?“ (ebd.) Bereits der Untertitel dieses Abschnitts macht die kritische Betrachtung von Jürgen Kind auf seinen Gegenstand sprichwörtlich. Er konstatiert, dass sowohl die Erzeugung als auch der Erhalt des psychoanalytischen Wissenskorpus in weiten Teilen auf einer „parthenogenetischen Illusion“ basiert und nutzt damit einen Begriff aus der Biologie als Metapher, um das Phänomen einer ans Religiöse grenzenden, überwertigen Reinheits- und Wahrheitsidee der Psychoanalyse zu veranschaulichen. In schonungsloser Weise zeichnet der Autor Abspaltungsprozesse in der psychoanalytischen Community zur Rettung der alleinigen „Wahrheit“ nach und stellt wesentliche Folgen des verabsolutierenden Reinheitscredos für die psychoanalytische Ausbildung und ihrer Institutionen dar. Und obwohl „die spezielle Art psychoanalytischen Denkens immer wieder kreative, nonkonformistische Individuen hervorgebracht [habe], die entsprechenden glaubensorientierten Kräften entgegenwirkten“ (306), so ist – das ist die strenge und doch in ihren Argumentationen faire Kritik des Autors – die Nachkommenschaft noch immer einem langen Anpassungsprozess in kanonisierte Glaubensvorgaben unterworfen. Jürgen Kind beendet sein Werk mit einem Plädoyer an seine psychoanalytische Community: Sie bedarf des Mutes zur Aufhebung von idealisierenden Selbsttäuschungen, verbunden mit dem Abschied von einem (selbst)zerstörerischen Elitestatus. „Und sicher ist sie, sofern sie die Kraft besitzt, sich aus diesem Korsett zu befreien, eine permanente Quelle von Vitalität.“
Diskussion und Fazit
Der Autor Jürgen Kind legt mit seiner Monographie „Das Tabu. Was Psychoanalytiker nicht denken dürfen, sich aber trauen sollten“ eine scharfe, äußerst belesene, akribisch recherchierte und kreative Kritik an die eigene Community vor, die für die Selbstbesinnung und damit Weiterentwicklung der Psychoanalyse fruchtbar gemacht werden sollte. Er „traut sich“ ‚heilige Kühe‘ der psychoanalytischen Theorie und Ausbildung auf den Prüfstand zu stellen und latente, (selbst)zerstörerische Facetten sachhaltig und gut nachvollziehbar zu rekonstruieren. Klar könnte eingewandt werden, dass die vom Autor thematisierten Tabus und die angemahnte Re-Formulierung bzw. Vervollständigung des freudschen Ödipuskomplexes bereits von anderen psychoanalytischen Autorinnen und Autoren zur Sprache gebracht wurden. Vielleicht muss z.B. nicht mehr in dieser Radikalität von einer generellen Ignoranz der Figur Ödipus als „beschädigtes Kind“ gesprochen werden. Bereits Jean Laplanche (1987) – auf den sich der Autor an keiner Stelle bezieht – hat mit seinen Überlegungen zur Allgemeinen Verführungstheorie die von Freud biografisch motivierte Leerstelle mit neuen Inhalten gefüllt. Damit hat er sowohl den Weg aus der freudschen prähistorischen Verankerung der (neurotischen) Subjektkonstitution beschritten als auch zu der von Kind angemahnten Öffnung zu anderen Bereichen der Sozial- und Humanwissenschaft beigetragen. In gleicher Weise, wenn auch aus anderer theoretischer Perspektive haben Siegfried Zepf, Florian Daniel Zef, Burkhard Ullrich und Dietmar Seel (2014) (ebenfalls nicht genannt) eine exzellente Revision zu „Ödipus und der Ödipuskomplex“ vorgelegt und darin unheilvolle Fallstricke der Freudschen Interpretationen aufgezeigt.
Wenngleich sich entsprechende Nennungen unschwer verlängern ließe, so lassen sich die von Jürgen Kind fundiert demonstrierten Behinderungen einer Weiterentwicklung der Psychoanalyse nicht mit Hinweisen auf bereits bestehende – gehaltvolle – Neu- bzw. Reformulierungen der Psychoanalyse relativieren. Das Dogma vom Vatermord; der ans Religiöse grenzende Reinheits- und Wahrheitsimpetus der psychoanalytischen Lehre; die Grenzverletzungen in Therapien und Ausbildung als einen von der Theorie mitgetragenen Vorgang sowie Herrschaftsgebaren in nationalen und internationalen psychoanalytischen Vereinigungen sind weiterhin wirkmächtige Denk- und Handlungshorizonte, die aufgrund von verzerrender Idealisierung, dogmatischer Engführung und Erstarrung einer dringend notwendigen selbstreflexiven Aufklärung der Psychoanalyse entgegenlaufen.
Sowohl Kinds systematische Darstellung identitätsverunsichernder Tabus in der Theorie und Praxis der Psychoanalyse als auch seine fundierten Kenntnisse der griechischen Mythologie sowie die Rekonstruktionen dieser ineinander verwobenen Pole sind enorm spannend und zugleich erschreckend zu lesen. Und doch laden sie zu einem kritischen Weiter- und/oder Umdenken in der Psychoanalyse ein. Wenngleich ein profundes Fachbuch auf hohem wissenschaftlichen Niveau ist die vorliegende Monographie, Dank einer prägnanten, gut verständlichen Sprache, auch für eine Leserschaft geeignet, die sich nicht als ausgewiesene Kennerinnen und Kenner der Psychoanalyse begreifen.
Rezension von
Prof. Dr. Margret Dörr
Professorin (i. R.) für Theorien Sozialer Arbeit, Gesundheitsförderung an der Katholischen Hochschule in Mainz, Fachbereich Soziale Arbeit und Sozialwissenschaften.
Arbeitsschwerpunkte: Affektabstimmungsprozesse in der Sozialpsychiatrie (BMBF-Projekt)‚ Psychoanalytische (Sozial)Pädagogik, Gesundheitsförderung.
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Zitiervorschlag
Margret Dörr. Rezension vom 14.12.2017 zu:
Jürgen Kind: Das Tabu. Was Psychoanalytiker nicht denken dürfen, sich aber trauen sollten. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2017.
ISBN 978-3-608-96131-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22387.php, Datum des Zugriffs 12.12.2024.
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