Tabea Dobler: Asperger-Syndrom - Infos und Tipps für Lehrpersonen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 02.03.2017
Tabea Dobler: Asperger-Syndrom - Infos und Tipps für Lehrpersonen. Kirja Verlag (Gelterkinden) 2017. 24 Seiten. ISBN 978-3-9524056-5-9. D: 7,45 EUR, A: 7,45 EUR, CH: 8,00 sFr.
Thema
Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben, benötigen eine Umgebung, die sich auskennt und mit diesem Wissen, auf diese Disposition Rücksicht nimmt. Das hier vorgelegte Buch wendet sich an Lehrpersonen und gibt wichtige Informationen und Tipps, um sich einen ersten Einblick in die Thematik zu verschaffen. In einer inklusiven Schule lernen Kinder mit und ohne Autismus miteinander. Das gelingt, wenn Lehrpersonen sich in beiden Bereichen gut auskennen. Deshalb wird sowohl die neurotypische (nicht autistische) als auch die autistische Perspektive benannt, sodass sich das Verstehen erhöht.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist die Bachelorarbeit von Tabea Dobler am Institut Vorschulstufe und Primarstufe der Pädagogischen Hochschule Bern entstanden. Sie trägt den Titel „Hilfe, ein Asperger-Kind in meiner Klasse – was nun?“ Das Anliegen der Autorin ist, Lehrpersonen über Asperger Autismus zu informieren. Veröffentlicht wurde es im Kirja Verlag Schweiz.
Der Kirja-Verlag wurde 2012 von dem Ehepaar Ramona und Stephan Zettel in Gelterkinden (Schweiz) gegründet. Der Verlag hat sich zur Aufgabe gemacht, Bücher, Broschüren und Multimedia-Produkte herauszugeben und per Online-Shop zu verkaufen. Anliegen ist das Thema „Asperger Syndrom“ und das Wissen darüber in der Öffentlichkeit bekannter zu machen, das Verständnis für betroffene Menschen und die Akzeptanz für ihre andere Denkweise zu vergrößern, sodass das Potenzial autistischer Menschen von der Gesellschaft erkannt wird (Quelle: http://www.kirjaverlag.ch). Zusätzlich werden auch pädagogische Hilfsmittel angeboten wie z.B. Time Timer.
Einer der Söhne erhielt im Jahr 2008 nach einigen Fehldiagnosen die Diagnose Asperger-Autismus. Das war eine riesige Erleichterung, da das Verhalten des Sohnes, welches vor allem in der Schule sichtbar wurde, endlich einen Namen bekam. 2009 gründete sich eine Elterngruppe, um den Austausch zwischen Eltern mit dem gleichen „Schicksal“ zu ermöglichen. 2011 gründete diese Gruppe gemeinsam mit einem Kinderpsychiater den Verein Asperger-Hilfe Nordwestschweiz. Im Namen des Vereins werden pro Jahr mehrere Seminare angeboten und Ferien für Familien organisiert. Es werden auch Infoveranstaltungen oder Klassenstunden für die Schulen/Eltern oder Mitschüler*nnen zum Thema Asperger Autismus angeboten. Den Namen des Verlages und das Verlags-Logos wurde von dem 12-jährigen Sohn des Ehepaars Zettel ausgetüftelt.
Der Kirja Verlag nimmt auch gerne Anfragen oder Mitteilungen entgegen z.B. wenn man ein (Buch)-Projekt passend zum Hauptthema realisieren möchten und dazu einen Verlag braucht oder wenn man den noch jungen Verlag finanziell unterstützen möchten. Das hier vorgelegte Buch wurde durch finanzielle Unterstützung der Hans Asperger Stiftung Zürich und der Stiftung für wahrnehmungsbehinderte Menschen in Graubünden unterstützt.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist im DIN A5 Softcover Format erschienen und hat einen Umfang von 24 Seiten. Der Inhalt gliedert sich in vier Kapitel mit zahlreichen Unterkapiteln. Die Kapitel sind nicht durchnummeriert.
- Asperger-Syndrom – Was ist das?
- Asperger-Syndrom und Schule
- Tipps und Tricks
- Anhang
Im ersten Kapitel wird das Asperger-Syndrom definiert. Oft gehen andere Diagnosen wie ADHS, Angststörung, Depression oder nonverbale Lernstörung voran. Der Fokus richtet sich auf das Gehirn, denn es gibt neurobiologische Unterschiede im Vergleich zu neurotypischen (nicht autistischen) Gehirnen zum Beispiel bei den Spiegelneuronen, die für das Modelllernen zuständig sind. Menschen, die unter den Bedingungen von Asperger leben, ordnen Daten in ihrem Gehirn anders. Neurotypische ordnen Daten in Hierarchien von Lebewesen zu Tieren zu Säugetieren, zu Hund, zu Labradorhund zu meinem Hund Vito. Autisten bilden für alles neue Verknüpfungen und denken beim Labradorhund an alles was sie drüber wissen, sie haben kein allgemeines Bild.
Auch über das Konzept der sog. „theory of mind“ sollten Lehrpersonen Bescheid wissen. In meinen Seminaren nutze ich dafür die Metapher eines emotionalen Navigationsgerätes, das die Begegnungen also Kommunikation, soziales Verständnis, die Fähigkeit, Freunde zu finden, das Verstehen von Missverständnissen und das Verständnis von ungeschriebenen Sozialregeln steuert. Menschen mit einem Asperger Syndrom wissen nicht instinktiv, wie sie sich sozial verhalten sollen, diesem Phänomen widmet sich auch das Unterkapitel „Soziales Verständnis“.
Das Asperger-Syndrom und Schule sind Inhalt des zweiten Kapitels. Mit Beginn der Schule fällt auf, das betroffene Kinder nicht altersgemäß reagieren. Sie haben große Probleme in sozialen Situationen und im Verstehen von Regeln. Sie haben Mühe Freundschaften zu schließen, oft ziehen sie sich zurück und sind eher Einzelgänger. Diese Kinder treffen auf die Schwierigkeit, dass neben dem bekannten Lehrplan (der sich in den Schulfächern abbildet) auch immer noch einen „heimlichen Lehrplan“ gibt, der Fähigkeiten im Sozialverhalten voraussetzt. Neben diesen Problemen gibt es Hürden in der Art zu lernen z.B. im Motorischen (Handschrift) und bei der Reizfilterung. Kinder mit Asperger haben Probleme mit Veränderungen, sie reagieren mit Stress und Angst. Auch spielt die emotionale Entwicklung eine große Rolle, sie kann bis zu drei Jahren verzögert sein. Studien (Attwood 2012) zeigen, dass 65% der Menschen mit Asperger zusätzlich an affektiven Störungen leiden. Hier sind soziale Angststörungen, selektiver Mutismus oder das Posttraumatische Belastungssyndrom zu nennen. Des Weiteren werden die Bereiche kognitive Fähigkeiten, Bewegung und Koordination, Sprache und Kommunikation, sensorische Empfindlichkeiten, Anpassungs- und Kompensationsstrategien erläutert. Auch Themen wie das Mobbing und der Nachteilsausgleich bleiben nicht unerwähnt. Das Buch von Tony Attwood: Ein Leben mit dem Asperger-Syndrom. Von Kindheit bis Erwachsensein; alles was weiterhilft ist 2012 in 2. Auflage erschienen. www.socialnet.de/rezensionen/16375.php.
Die Ausprägungen des Asperger-Syndroms sind sehr unterschiedlich, deshalb sollten die im dritten Kapitel aufgeführten Tipps und Tricks, nicht als allgemeingültig betrachtet werden, sie sind immer individuell anzupassen. Ein Tipp, der allerdings bei jedem Menschen funktioniert ist, Verständnis zu haben, in dem man Verhalten aus der Perspektive des Menschen mit Autismus betrachtet. Grundlage dafür ist ein spezifisches Wissen über das Asperger-Syndrom. An dieser Stelle wird das Buch von Thomas Girsberger „Die vielen Farben des Autismus“, genannt, es ist 2013 erschienen www.socialnet.de/rezensionen/16352.php.
Auch Struktur und Visualisierung in Bezug auf Raum, Zeit und Aktivitäten spielen eine wichtige Rolle, damit sich Schülerinnen und Schüler mit Autismus orientieren können, Anforderungen vorhersehen können und damit Sicherheit erfahren. Da Veränderungen Stress auslösen sind Visualisierungshilfen das Mittel der Wahl. Die Aufnahmefähigkeit spielt in der Schule eine große Rolle. Viele Informationen werden nonverbal vermittelt, damit haben Menschen mit Autismus Schwierigkeiten. Deshalb macht es Sinn, Aufgaben nicht nur mündlich, sondern auch in visualisierter Form (Schrift) weiter zu geben. Auch der Sitzplatz in der Klasse spielt eine zentrale Rolle und er sollte gut gewählt sein. Tony Attwood empfiehlt einen Platz vorne bei der Lehrperson. Ein besonderes Augenmerk sollte auch auf die Hausaufgaben gelegt werden. Das Kapitel schließt mit dem Thema Spezialinteressen ab, diese können für den Unterricht genutzt werden. Das Einbeziehen der Spezialinteressen garantiert, dass die Aufmerksamkeit hoch ist. Sie können auch mit einem Belohnungssystem verknüpft werden oder bei der Reduzierung von Stress (zur Vermeidung eines Overloads) und zur Beruhigung eingesetzt werden.
Im Anhang findet man empfehlenswerte Literatur, hilfreiche Internetlinks und Beratungsstellen und Institutionen (der Schweiz).
Diskussion
Dieses Büchlein umfasst 24 Seiten. Es beleuchtet wichtige Informationen, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Es ist – im Verhältnis zu seinem Umfang – ein richtiges Powerpaket! Lehrpersonen erhalten zahlreiche Informationen und damit einen guten Überblick über das Asperger-Syndrom und darüber, wie die Umgebung und Begegnungen gestaltet sein sollten, damit der Schulbesuch gelingt. Was es Schülerinnen und Schülern aus dem Autismus Spektrum so schwer macht ist, dass es neben dem Lehrplan, also dem, was an Inhalten in der Schulzeit gelernt werden soll, einen zweiten heimlichen Lehrplan gibt, zu dem die Sozialregeln und dazugehörende Kompetenzen gehören, die aber nirgends aufgeschrieben sind, sondern wie selbstverständlich erwartet werden. Hier ist intuitives Können gefragt, ein Bereich mit dem Betroffene große Schwierigkeiten haben.
Besonders gelungen finde ich die Gegenüberstellung der neurotypischen und der autistischen Perspektive, denn dadurch erhält die Leserschaft die Möglichkeit, beide Perspektiven kennen zu lernen. Autismus hat kein klar abgrenzbares Störungsbild, das ist der Grund, warum man von einer Spektrum-Störung spricht. Die Zuschreibung „autistisch“ und „nicht autistisch“ ist nicht klar abzugrenzen. Autismus ist als Dimension, als Variante des Menschseins zu verstehen.
Der TEACCH Ansatz zeigt viele Möglichkeiten der Gestaltung der Umgebung, der Abläufe in Bezug auf die Zeit und Aktivitäten auf. Das Bestechende daran ist, dass man ihn einfach lernen kann und mit einfachen Mitteln umsetzen kann. Er wurde in den USA vor 40 Jahren entwickelt und wird im deutschsprachigen Raum immer bekannter (weiterführende Informationen unter www.abc-autismus.de).
Fazit
Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben, benötigen eine Umgebung, die sich auskennt und mit diesem Wissen, auf diese Disposition Rücksicht nimmt. Das hier vorgelegte Buch wendet sich an Lehrpersonen und gibt wichtige Informationen und Tipps, um sich einen ersten Einblick in die Thematik zu verschaffen. In einer inklusiven Schule lernen Kinder mit und ohne Autismus miteinander. Das gelingt, wenn Lehrpersonen sich in beiden Bereichen gut auskennen. Deshalb wird sowohl die neurotypische (nicht autistische) als auch die autistische Perspektive benannt, sodass sich das Verstehen erhöht. Wer versteht kann lernen, das gilt für alle Beteiligten im System Schule. Das hier vorgelegte Büchlein ist ein wahres Powerpaket und erfüllt seinen Anspruch, wichtige Informationen und Tipps für einen ersten Überblick zu geben. Es sollte in keinem Klassenzimmer fehlen!
Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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Zitiervorschlag
Petra Steinborn. Rezension vom 02.03.2017 zu:
Tabea Dobler: Asperger-Syndrom - Infos und Tipps für Lehrpersonen. Kirja Verlag
(Gelterkinden) 2017.
ISBN 978-3-9524056-5-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/22395.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
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